Das Jahr 2021 aus Guerillaperspektive – Teil 1

Das Jahr 2021 war ein Jahr von Krieg und Widerstand höchster Intensität. Die Guerilla leistete mit größter Überzeugung und Entschlossenheit Widerstand und durchkreuzte die Pläne des türkischen Staates.

2021 war eines der gewalttätigsten Jahre des Krieges in Kurdistan. Vielleicht war es der letzte Versuch des türkischen Staates, mit allen Mitteln anzugreifen und die militärische Existenz der kurdischen Freiheitsbewegung zu beenden.

Es wurden alle menschlichen Werte übergangen und alle Arten verbotener Kampfmittel eingesetzt. Alle Methoden des Kriegs wurden angewandt, einschließlich des Angriffs auf Gräber der Guerilla und die intensivsten Formen der psychologischen Kriegsführung. Allein die Atombombe konnte der türkische Staat nicht gegen das kurdische Volk und seine Guerilla einsetzen. Ansonsten wurde sämtliche Munition und Waffentechnologie aus dem NATO-Inventar eingesetzt.

Trotz all dieser Gräueltaten und unmenschlichen Praktiken gaben das kurdische Volk und die Guerilla den Widerstand nicht auf. Er wurde mit großer Beharrlichkeit und Entschlossenheit verstärkt, und es war der türkische Staat, der angesichts der Schärfe des Widerstands Federn zu lassen begann.

Die massive Vernichtungsoperation, die wir aktuell erleben, begann mit dem im nationalen Sicherheitsapparat im Oktober 2014 beschlossenen „Niederwerfungsplan“. Dieser geplante Massenmord am kurdischen Volk wurde von regionalen und internationalen Mächten unterstützt. Obwohl die Methoden der Unterstützung unterschiedlich waren, sind sie in ihrem Wesen alle gleich. Das Völkerrecht wurde ignoriert und der Genozid materiell und militärisch unterstützt. In den vergangen sechs Jahren wurden die regionalen und internationalen Komplizen des türkischen Staates deutlich sichtbar.

Im Februar 2021 begann die Vernichtungsoperation gegen „die PKK“ und das kurdische Volk. Die Guerilla leistet gegen diesen Angriff mit neuen Taktiken und Aktionsformen nun seit nahezu einem Jahr Widerstand. Neben einem Blick auf das Niveau von Angriff und Widerstand soll auch die Bedeutung des diplomatischen Verkehrs vor dem Angriff auf Gare betrachtet werden.

Das Vorfeld des Angriffs auf Gare

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar machte in seinen Erklärungen nach Besuchen in Bagdad und Hewlêr vor dem Angriff auf Gare deutlich, dass die PKK ganz oben auf der Tagesordnung der Gespräche gestanden habe. Nach seinem Besuch in Berlin wurde dies nicht so deutlich thematisiert. Merkels Regierung ist dafür bekannt, Vorbehalte zu haben, und es ist klar, dass Akar ausdrücklich in dieser Hinsicht gewarnt worden war.

Nachdem jedoch Berichte über den Giftgaseinsatz während des Angriffs auf Gare erschienen waren, gab die deutsche Botschaft in der Türkei eine panische Erklärung ab, in der sich das Bild aufklärte. Während sich gegenüber der Merkel-Regierung vorsichtig verhalten wurde, zeigte man den Bündnispartnern PDK und dem irakischen Premier gegenüber keine solche Sensibilität. Im Gegenteil, der türkische Staat unternahm ernsthafte Anstrengungen, um seine Komplizen in der Region regelrecht bloßzustellen.

Nach den Wahlen in den USA versuchte die Türkei, das neue Klima in der Region so schnell wie möglich einzuschätzen. Am 9. Oktober 2020 wurde zwischen Bagdad und Hewlêr ein Abkommen über Şengal getroffen, in dem die selbstverwaltete Region zwischen der PDK und der irakischen Regierung aufgeteilt werden soll. Es sollte eine für den türkischen Staat passende rechtliche Grundlage geschaffen werden. In der Bevölkerung wurde dies so interpretiert: Die PKK sollte von der PDK als Vorwand benutzt werden, um einen türkischen Einmarsch zu legitimieren. Dies würde für den türkischen Staat die perfekte Gelegenheit zur Umsetzung seiner Invasionspläne bedeuten. In diesem Zusammenhang sollte der irakische Premier Mustafa al-Kadhimi als Katalysator dienen.

Ohnehin wurden ehemalige IS-Dschihadisten in der türkischen Militärbastion Başika als Hashd al-Watani unter dem Kommando des Vorsitzenden der Turkmenenfront, Erşed Salihi, und dem ehemaligen Gouverneur von Mosul reorganisiert. Die unter dem PDK-Kommando versammelten Streitkräfte wurden in Bereitschaft gehalten. Auf diese Weise sollte Südkurdistan vollständig besetzt, Şengal eliminiert und Rojava umzingelt werden.

Die PDK und Mustafa al-Kadhimi setzten die Pläne des türkischen Staats buchstabengetreu um, sie funktionierten aber nicht wie erwartet. Der erste Punkt war, dass es im Şengal keine PKK gab, die hätte angegriffen werden können. Außerdem war das Abkommen über Şengal ohne Zustimmung der Menschen dort gemacht worden und so gab es keine Möglichkeit, Truppen dort zu stationieren. Ein militärischer Angriff auf die Region hätte zu eine ähnlichen internationalen Reaktion wie der Angriff auf Kobanê führen können.

All diese Faktoren erforderten die Umsetzung eines Plan B und so wurde mit der Gare-Operation begonnen. Erdoğan brauchte einen Sieg. Er war überzeugt, dass dies der einzige Weg sei, seine Diktatur zu retten. Er hatte zuvor die Absicht, sich mit einem Sieg in Şengal zu schmücken. Aufgrund einer Kosten-Nutzen-Rechnung schwenkte Erdoğan jedoch auf den Gare-Plan um.

Die Rolle Deutschlands bei diesem Angriffsplan bestand darin, die internationalen Reaktionen einzudämmen und die Waffenexporte in die Türkei durch neue Militärabkommen auszuweiten. Es ist zu bemerken, dass es international keinerlei Reaktionen in Hinsicht auf Forderungen nach Untersuchung der türkischen Chemiewaffeneinsätze gibt. Diese Tatsachen belegen, wie die USA, Großbritannien, die NATO und insbesondere Deutschland versuchen, die Verbrechen des türkischen Staates gegen das kurdische Volk zu vertuschen.

Angriff auf Gare

Am 10. Februar 2021 startete der türkische Staat den Angriff auf die Region Gare unter dem Deckmantel einer angeblichen „Geiselbefreiung“. Mit dem Invasionsangriff sollte das Jahr mit einem Erfolg und Sieg beginnen und Überlegenheit gezeigt werden. Oder wo auf der Welt sonst warfen Kampfflugzeuge tonnenschwere Bomben ab und setzten Giftgas ein, um Gefangene zu befreien? Wie konnte die Erdoğan-Regierung, die jahrelang keine Initiativen und Bemühungen für diese Militär- und Geheimdienstmitglieder zeigten, plötzlich diese so wichtig nehmen?

Warum bombardierte und attackierte die Armee das Gebiet zwei Tage lang mit Giftgas, obwohl die HPG bereits in den ersten Minuten des Angriffs, als Truppen aus Hubschraubern abgesetzt werden sollten, bekannt gaben, dass sich dort die Gefangenen befänden? All das zeigt, worum es eigentlich ging. Der Bereich, in dem sich die Gefangenen befanden, war bewusst gewählt worden und ideal für den Anfang einer Invasion. Wenn der türkische Staat seine Truppen dort hätte halten können, hätte sich dieser Angriff über die gesamte Region Gare ausgebreitet, und dann wäre die türkische Armee mit all ihren Kräften, einschließlich der PDK, gegen die Medya-Verteidigungsgebiete vorgegangen. Aber in keinem Fall wären die Gefangenen nach Hause zurückgekehrt.

Der erste Angriff der Türkei in Gare wurde bereits von der Guerilla zurückgeschlagen, bevor die türkischen Truppen überhaupt einen Fuß auf den Boden setzten konnten. Seit 2017 hat die Guerilla durch den Restrukturierungsprozess erhebliche Veränderungen in Stil und Taktik erfahren. Eine Weile hatte es deutliche Mängel in der Praxis gegeben. Die erste Umsetzung der neuen Praxis wurde während er türkischen Invasion in den Jahren 2019 und 2020 in Heftanîn demonstriert.

Die Taktiken und Aktionsformen der neuen Ära, in der alle Guerillakräfte praktisch und theoretisch ausgebildet wurden, zielen darauf ab, die modernste Kriegstechnik ins Leere laufenzulassen. Der neuen Taktik liegen neue Formen der Verteidigungskriegsführung, der Angriffe, der Einrichtung von Stellungen und der Art der Bewegung zugrunde.

So baute die kurdische Guerilla die Doktrin des Guerillakrieges des 21. Jahrhunderts auf und schuf eine neue Form der Guerillatheorie. In diesem Rahmen wurde die Guerilla umstrukturiert und ein System von professionellen mobilen Einheiten geschaffen. In den militärischen Akademien wurde der Kampf professionalisiert und spezialisiert und auf theoretischer Ebene intensiviert. Die ideologische Ausbildung wurde neu strukturiert und der Umfang des Ausbildungsprogramms erweitert. Dabei wurde ein Schwerpunkt auf die Methoden der Spezialkriegsführung und psychologischen Kriegsführung gelegt.

Auf der Grundlage dieses neuen Systems konnten die Guerillakräfte in Heftanîn große Erfolge erzielen. So befand sich die Guerilla in Gare bereits in Alarmbereitschaft und erwartete einen ähnlichen Angriff wie gegen Heftanîn. Daher konnte dort die türkische Armee bereits tödlich getroffen werden, bevor sie überhaupt Truppen aus den Hubschraubern abgesetzt hatte.

Kriegstunnel und mobile Einheiten

Gare ermöglichte es den Guerillaeinheiten, neue Erkenntnisse zu gewinnen, die schwächsten Punkte des türkischen Staats festzustellen und demgegenüber entsprechende Taktiken umzusetzen. Zum Beispiel waren bis Gare die Möglichkeiten und die Wirkungen des Tunnelkriegs nicht vollständig bekannt. Das Ergebnis dieser Beobachtungen hat jedoch die grundlegende Taktik der türkischen Armee für das ganze Jahr scheitern lassen.

Bis zum Krieg um Gare ging es bei den unterirdischen Systemen vor allem um die Vorbereitung auf den Krieg als Basis und Bewegungsraum. Als die Wirksamkeit des Tunnelkriegs offensichtlich wurde, wurde er zum Grundbestandteil des Kriegs der neuen Ära. Alle unterirdischen Systeme wurden entsprechend auf effektive Kriegsführung vorbereitet. Zudem konnten neue Details über die eingesetzten Giftgase festgestellt und dementsprechende Gegenmaßnahmen entwickelt werden.

Ein anderer wichtiger Faktor war die Professionalisierung der Bewegung und des Angriffs der Guerilla in mobilen Einheiten. Obwohl Dutzende von Aufklärungsflugzeugen Tag und Nacht in der Luft aktiv waren, waren auch Dutzende von Guerillaeinheiten unterwegs und griffen die feindlichen Einheiten an. Das zeigt, dass die Tag-, Nacht- und Wärmebildkameras der Aufklärungsflugzeuge, also die gesamte Luftwaffe neutralisiert wurden.

Wenn wir die klimatischen Bedingungen, d.h. in diesem Fall den Winter berücksichtigen, ist es außergewöhnlich, dass sowohl Tageslichtkameras als auch Wärmebildkameras unter diesen Bedingungen, unter denen sie am effektivsten sind, neutralisiert wurden. So schuf der Tunnelkrieg eine neue Situation, und die mobilen Guerillaeinheiten wurden zu einer dazu passenden Offensivkraft.

Infolgedessen war es Aufgabe des Tunnelkriegs und der professionellen Guerillaeinheiten, das Gelände zu kontrollieren und dem Feind den Bewegungsraum zu nehmen. Der Krieg mit mobilen Einheiten ist äußerst vielschichtig. Jede:r Guerillakämpfer:in ist in mindestens zwei Bereichen spezialisiert. So entsteht eine Vielzahl von taktischen Optionen. Dies bedeutet, dass der Feind immer wieder mit einer anderen Taktik angegriffen wird und die Guerilla sich nicht auf eine Form beschränkt, sondern permanent Überraschungsaktionen durchführt. Die Fehler und Synergieeffekte bei der Umsetzung des Guerillakriegs der neuen Ära wurden in Gare zu einem großen Teil verstanden. Das bedeutet nicht, dass die Guerilla in ihrem neuen Stil und ihrer neuen Taktik immer fehlerfrei agiert. Es mag Mängel geben, aber das Wichtigste ist, sie zu identifizieren und daraus noch umfassendere Resultate, die den Kampf bereichern, zu ziehen. Die Guerillakräfte handelten in diesem Sinne und erzielten Ergebnisse.

Die Niederlage des türkischen Staates

Der türkische Staat begegnete beim Angriff auf Gare einer für ihn vollkommen unerwarteten Situation. Die Guerillakräfte ließen die türkische Armee nicht einen Moment Luft holen. Die Soldaten konnten kaum aus den Hubschraubern aussteigen und hatten nicht einmal die Zeit, die mitgebrachten Sandsäcke zu stapeln. Die Armee hatte jedes Detail berechnet, von den Wetterbedingungen bis hin zu den Standorten, an denen sie Stellungen besetzen wollten. So sollte bei schönem Wetter begonnen werden und die Truppen schnell abgesetzt und verschanzt werden.

Klares Wetter ist für die Guerilla von Nachteil und schränkt ihren Bewegungsspielraum ein. Andererseits hing der Tag des Angriffs nicht nur an den Wetterbedingungen. Der Angriff sollte am 10. Februar beginnen und am symbolischen Datum des 15. Februar erfolgreich abgeschlossen werden.

Es hat aber nicht so geklappt wie gewünscht, in den ersten Minuten wurden alle Pläne der Armee auf den Kopf gestellt. Am zweiten Tag begriff die Armee, dass es schwieriger würde. Sie setzte nun alles daran, wieder herauszukommen, ohne noch weiter gedemütigt zu werden. Der 14. Februar war ein Regentag, und die Soldaten hatten bereits einen Tag zuvor plötzlich in der Nacht alles stehen und liegen gelassen und waren geflohen.

Eine Analyse bis ins kleinste Detail des Kampfes um Gare ist notwendig, um den gewaltigen Guerillawiderstand von 2021 zu verstehen. Der Sieg von Gare ist nicht nur ein Produkt der Neustrukturierung der Guerilla. Der Wichtigste der die Neustrukturierung begleitenden Faktoren waren der menschliche Wille und die Entschlossenheit zu kämpfen.

Die Guerillaeinheit unter dem Kommando von Şoreş Beytüşşebap war ein Produkt dieses Willens. Die Schlüsselfrage hier ist: Was für eine Persönlichkeits- und Kommandostruktur sollten diejenigen haben, die diese Praxis mit einem starken Willen umsetzten? Genau das demonstrierte die Guerillaeinheit unter dem Kommando von Şoreş Beytüşşebap mit ihrem Beispiel des Widerstands.

Fortsetzung folgt