In vielen europäischen Ländern haben am Samstag Demonstrationen gegen die Angriffe der Türkei und ihrer dschihadistischen Söldner auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien stattgefunden. Auch in Deutschland gingen zahlreiche Menschen auf die Straße, um sich an den Protesten im Rahmen des von der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E) initiierten und durch zahlreiche Initiativen unterstützten Aktionstags „Solidarität mit der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) – für die Verteidigung der Frauenrevolution“ zu beteiligen.
Hamburg: Kritik an Außenministerin Baerbock
In Hamburg nahmen etwa 1000 Menschen am Aktionstag für Rojava teil. Zu der Demonstration hatte ein breites Bündnis aufgerufen. Im Vorfeld gab es eine Auftaktkundgebung am S-Bahnhof Sternschanze. Ernst Kreft vom Hamburger Bündnis gegen Rechts (HBgR) richtete eine Frage an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne): „Warum setzen Sie auf die Islamisten von Al-Jolani?“ Außerdem wollte Kreft wissen, warum Baerbock „mit ihrer feministischen Außenpolitik nicht zuerst nach Rojava“ reist.
Weitere Rednerinnen, wie etwa Marie Kleinert vom Bezirksvorstand der Linken in Altona und der Fraktionsvorsitzenden der Linken in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir, verurteilten die Angriffe der mit der Türkei verbundenen Dschihadisten auf Nord- und Ostsyrien. Die Demonstration endete nach einer Zwischenkundgebung am Bruno-Tesch-Platz in Altona. Parallel fand eine Spendenaktion am St. Pauli-Stadion für die in Syrien ansässige Freie Frauenstiftung WJAS sowie den Kurdischen Roten Halbmond (Heyva Sor) statt.
Nürnberg: Bijî Berxwedana Rojava – Es lebe der Widerstand von Rojava!
In Nürnberg rief das Bündnis der demokratischen Kräfte in Europa (ADGB) auf zum Aktionstag. Unter dem Motto „Gegen Krieg, Faschismus und Fremdenfeindlichkeit“ konnten angesichts der bedrohlichen Lage in Syrien viele Menschen für eine Kundgebung mobilisiert werden, die vor der Straße der Menschenrechte stattfand.
In mehreren kurdischen, türkischen und deutschen Redebeiträgen spiegelte sich die Freude über den Sturz des Massenmörders Baschar al-Assad, aber auch die Sorge um Errungenschaften der Revolution in Rojava wider. Mehrfach wurde auf die Rolle der Türkei eingegangen, die im Windschatten des Machtwechsels in Damaskus mithilfe der von ihr gesteuerten islamistischen Söldnerbanden ihre eigene kurdenfeindliche Agenda vorantreibt.
Thematisiert wurde auch die Rolle Europas, vor allem Deutschlands, das mehr denn je dem AKP/MHP-Regime in Ankara Waffen liefert, mit diesen Tayyip Erdoğan seinen Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung führt und damit auch seine dschihadistischen Milizen ausrüstet. Deshalb trage die Bundesregierung auch Mitverantwortung für Gewalt und Kriegsverbrechen, so eine Rednerin. Statt Pendel-Diplomatie mit Autokraten seitens der grünen Außenministerin Annalena Baerbock sei die Anerkennung der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens dringend erforderlich. Wenn es die Bundesregierung ernst meinte mit ihren Forderungen nach Demokratisierung des Nahen Ostens, müsse die Autonomieverwaltung als einziges Beispiel lebendiger Demokratie in der Region einbezogen werden.
Die Sorge um und die Solidarität mit Rojava einte an diesem Tag viele Kurd:innen und Aktivist:innen aus verschiedenen Organisationen, so die Jugendkommune, Defend Kurdistan, das IKS Regensburg, die Interventionistische Linke, AGIF und andere. Zusammen mit der Vertreterin der PYD forderten sie immer wieder in lauten Sprechchören: Bijî Berxwedana Rojava – Es lebe der Widerstand von Rojava!
In Köln beteiligten sich ebenfalls hunderte Menschen am Aktionstag für Rojava
Demonstration in Dresden
In Dresden fand eine Demonstration mit mehreren hundert Menschen durch die belebte Innenstadt und vorbei an Weihnachtsmärkten statt. Die Demonstrierenden machten auf die Situation in Rojava und ganz Syrien aufmerksam, forderten Bleiberecht für alle Geflüchteten und machten deutlich, „dass in Rojava nicht nur die Freiheit der Völker Nord- und Ostsyriens, sondern der Entwurf eines freien Lebens für alle verteidigt wird“.
Unterwegs kam es zu Solidaritätsbekundungen syrischer Jugendlicher, die von Balkonen mit syrischen Unabhängigkeitsflagge und „Bijî Berxwedana Rojava“-Rufen grüßten. Ein Höhepunkt der Demonstration war eine Rede eines Mitglieds der sachsenweiten Initiative für Frieden in Kurdistan, in der es unter anderem hieß:
„Das Assad-Regime ist heute Geschichte und das ist ein Grund zum Feiern! Die Folge darf aber nicht sein, dass diese Diktatur durch eine andere ersetzt wird. Die Gesellschaft Syriens verdient etwas Besseres als jetzt zwischen den Machtinteressen von Dschihadisten, dem Westen und des türkischen Regimes aufgerieben zu werden! Die syrische Gesellschaft verdient Hoffnung auf Demokratie und Selbstbestimmung - auf eine Gesellschaft, die ihre Belange selbst in die Hand nimmt, auf eine Gesellschaft der befreiten Frauen, eine Gesellschaft, in der die Menschen Verantwortung für ihre Gemeinschaften und füreinander übernehmen, eine Gesellschaft, in der niemand Angst haben muss.
Rojava, die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, ist mehr als ein demokratisches Experiment. Sie ist diese Hoffnung. Seit vor etwas mehr als zehn Jahren, die Kontrolle des Assad-Regimes in diesem Gebiet in sich zusammenbrach, seit vor sieben Jahren die Terrorherrschaft des IS auf diesem Gebiet beendet wurde, hat die Selbstverwaltung etwas geschafft, was vor 10-15 Jahren noch fast jeder für unmöglich gehalten hätte: Sie hat ein friedliches Zusammenleben aller gesellschaftlicher Gruppen geschafften. Ein demokratisches Miteinander, der Religions- und Bevölkerungsgruppen, eine Gesellschaft, die Verantwortung übernimmt, für ihre Gemeinschaft. Sie hat eine Gesellschaft errichtet, in der Frauen eine Vorreiter:innen-Rolle einnehmen, in der jedes demokratische Gremium, jeder Rat, jede Institution eine Frauenvertretung hat – eine Ko-Vorsitzende.
Oft verlieren wir aus den Augen, wie außerordentlich das ist: Die Selbstverwaltung ist heute die demokratische Perspektive für den gesamten Nahen Osten. Überall auf der Welt sind Menschen auf der Suche nach Wahrheit, nach Antworten, nach einer Perspektive - kaum irgendwo ist diese Hoffnung so lebendig, wie in Rojava. Die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens ist kein mythischer Ort, keine perfekte Gesellschaft - noch lange nicht. Sie ist eine Gesellschaft voller Aushandlung, voller Widersprüche, voller Herausforderungen. Sie ist ein Anfang und der Weg ist noch sehr weit. Aber Rojava ist ein lebendiges Beispiel, ein Blick durchs Schlüsselloch darauf, was möglich ist. Rojava ist ein Beispiel dafür, wie Gesellschaft sein könnte, wie sie sein sollte! Rojava ist ein Versprechen: Auf eine demokratische Perspektive, auf echte Geschlechterbefreiung, auf ein Leben im Einklang mit der Natur. Die Menschen in Rojava kämpfen um genau diese Hoffnung - nicht nur für sich, für uns alle! Es ist unsere Pflicht als Menschen, sie dabei zu unterstützen!“
IFK Sachsen erinnert an Bager Nûjiyan
In der Rede wurde auch Bager Nûjiyan (Michael Panser) gewürdigt, der heute vor sechs Jahren bei einem türkischen Luftangriff in Südkurdistan ums Leben kam. Der Internationalist hatte sich vor seinem Beitritt zur kurdischen Guerilla aktiv am Aufbau des demokratischen Systems in Rojava und auch an der Verteidigung der Bevölkerung gegen den IS beteiligt.
Demonstration durch Bremen
Auch in Bremen fand im Rahmen des Aktionstags eine Demonstration statt, zu der unter anderem die Initiativen RiseUp4Rojava und Defend Kurdistan, die feministische Organisierung „Gemeinsam Kämpfen“ und der Frauenrat Sêvê mobilisiert hatten. Etwa 300 Menschen beteiligten sich an dem Aufzug, der am Hauptbahnhof startete und bis zur Domsheide unweit des Bremer Marktplatzes führte.
Ein Aktivist der in Nord- und Ostsyrien aktiven PYD sagte, seine Partei setze sich für den Aufbau eines demokratischen Syriens ein. Er verurteilte das türkische Regime als „Kriegstreiber und Aggressor“, das an wahrem Frieden für Syrien nicht interessiert sei. Während in dem Land derzeit die Karten neu gemischt würden, wolle Regimechef Erdogan die Chance nicht ungenutzt lassen, weitere Gebiete der DAANES zu besetzen und im Sinne seiner Großmachtphantasien Fakten zu schaffen. Die Demonstrant:innen verurteilten in Sprechchören und auf Plakaten die andauernden Angriffe gegen Nord- und Ostsyrien und die Untätigkeit der Staatengemeinschaft dagegen.
Demonstration in Saarbrücken
Auch in Saarbrücken fand eine Demonstration mit Kundgebung statt. Besonders häufig wurde die Parole „Terrorstaat Türkei“ skandiert. In Städten wie Berlin, München, Leipzig und Kiel gab es ebenfalls Proteste.