Schon beim Betreten der nordkurdischen Metropole Wan (tr. Van) werde ich durch Wasserwerfer, Panzerfahrzeuge, Panzersperren, Mauern und massiv befestigte Kontrollpunkte sowie schwer bewaffneten Spezialeinheiten an jeder Ecke daran erinnert, dass hier seit fünf Jahren pausenlos der Ausnahmezustand herrscht. Kein Mensch kann sich in Wan bewegen, ohne nicht mehrfach kontrolliert zu werden.
Die nordkurdische Provinz Wan grenzt im Osten an die türkisch-iranische Grenze nach Ostkurdistan. Die Grenzübergänge, eine der wichtigsten Einnahmequellen der verarmten Region, sind jedoch seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie geschlossen. Während in der Türkei alle Grenzen offenstehen, ist der Kapıköy-Übergang nach Ostkurdistan langfristig gesperrt. Die Industrie- und Handelskammer Van und andere zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien haben in unzähligen Erklärungen dagegen protestiert. Die Regierung hat diese Erklärungen als „terroristisch“ und „im Dienste des Terrors“ gebrandmarkt und kriminalisiert. Der AKP-Abgeordnete Irfan Kartal bezeichnete eine mögliche Öffnung des Grenzübergangs Kapıköy als „Katastrophe“.
„Es ist verboten, hier Politik zu machen“
Ich laufe durch die am stärksten frequentierten Straßen der Stadt und durch die Flut von Menschen in die Seitenstraßen, in Richtung der Hasrettin-Omar-Moschee. Wer diesen Ort kennt, weiß, dass es hier überall Händler gibt. Es gibt die Straße der Tabakhändler, der Käsehändler und der Schneider. Der kurdische Handel gibt den Straßen ihre Namen. Der nicht enden wollende Ausnahmezustand spiegelt sich in den Gesprächen der Menschen, in ihrem Leben wider. Mit der Repression über die Stadt haben die Menschen aufgehört, sich zu unterhalten. Das ist zumindest meine Beobachtung. Wenn wir nun noch die extreme Armut der Menschen hinzunehmen, dann können wir verstehen, wie dramatisch die Lage hier für die Bevölkerung ist.
Die Stände sind randvoll, aber niemand kauft etwas. Ich bin überall auf dem Markt. Ich gehe von Laden zu Laden und unterhalte mich mit den Inhabern. Ich wünsche ihnen auf Kurdisch Kraft bei der Arbeit, aber sie antworten meist nicht auf Kurdisch. Ein Mitarbeiter einer Bäckerei sagt mir sogar: ‚Schwester, mach hier keine Politik‘. Kurdisch zu sprechen ist natürlich etwas politisches, aber wenn ich über die Situation des Bäckers nachdenke, der sich sorgt, das Geld für sein tägliches Brot zu erhalten, dann trifft mich das tief.
„Dieser Staat will uns hungern lassen“
Faruk B. verkauft an seinem Stand, trotz seiner 60 Jahre, Werkzeuge, Batterien, Ladegeräte und Füllfederhalter. „Unsere Heimat ist arm“, sagt er. Als ich ihn frage, wie sich die Schließung des Grenzübergangs auf ihn auswirkt, beantwortet er auf die Menschen blickend, die kommen und gehen, meine Fragen: „Sie sprechen von Sicherheitsgründen. Diejenigen, die an den Grenzen sterben, sind ebenfalls Menschen aus dem Volk. Die Kolber sterben, um drei Kuruş zu verdienen. Dieser Staat will uns gezielt aushungern. Edirne trifft das Virus natürlich nicht. Was soll ich noch sagen?“
„Ich versorge alleine eine große Familie“
Was soll er noch sagen? Und ein junger Mann im Nachbargeschäft warnt: „Es ist einfach zu sprechen, aber dann macht man sich Gedanken. Schreib nicht meinen Namen auf, mach kein Bild von mir. Mein Bruder sitzt seit sieben Jahren im Gefängnis. Ich will nicht auch dorthin. Ich komme jeden Morgen hierher und mache meinen Stand auf. Mein Tageseinkommen liegt zwischen 70 und 100 TL (zwischen acht und elf Euro). Ich unterstütze allein eine große Familie. Eigentlich schaffe ich es nicht, sie über die Runden zu bringen. Die Pandemie ist eine Ausrede. Sie wollen, dass die Menschen hier arm bleiben. Die Armut ist auch eine Form von Gewalt. Schauen sie sich auf diesen Straßen um, Zehntausende von jungen Menschen, die hin- und herlaufen. Sie haben keine Arbeit.“
Ciwan Haco tönt aus einem Lautsprecher, auf dem Rojin steht. Ich möchte kurz anhalten und ein Bild machen. Aber in dem Moment, in dem ich stehenbleibe, macht der Musikhändler die Musik sofort aus. Als ich weggehe, macht er die Musik wieder an. Aufgrund der Gefahr, dass sein Laden im Falle einer Anzeige geschlossen wird, macht sein Verhalten Sinn.
„Wir haben Hunger und Angst“
Dasselbe gilt für den Tabakmarkt. Dort wird in der Regel Tabak aus Semsûr (Adiyaman) verkauft. Obwohl Bedlîs (Bitlis) in der Nähe ist, sagt er, der Tabak von dort sei zu teuer, den Menschen fehle das Geld zum Einkaufen: „Diese Stadt hatte früher eine Seele. Jetzt ist sie ein seelenloser Ort. Ich bin Universitätsabsolvent. Ich bin in dieser Stadt geboren, aufgewachsen und habe hier studiert. Ich kann nicht einmal für den Mindestlohn arbeiten. Jetzt verkaufe ich Tabak. Es gibt aber niemanden, der ihn kauft. Früher war alles voll mit iranischen Touristen. Jetzt bräuchten wir sie. Solange der Grenzübergang geschlossen ist, gibt es keinen Handel. Ein Iraner kann nach Istanbul und zurück nach Wan fliegen, aber die wenigen Stunden Autofahrt sind nicht möglich. Das Virus ist ein absurder Grund. Sie sprechen vor allem von Sicherheitsgründen. Erdoğan soll sagen, wo denn dieses Sicherheitsproblem liegt. Es gibt seit einem Jahr die Pandemie, aber seit fünf Jahren hier den Ausnahmezustand. Morgen werden sie einen anderen Grund anführen. Sie wollen, dass wir hungern, dass wir ohne Identität in Angst leben. Das ist ihnen zumindest teilweise gelungen, wir hungern und wir haben Angst.“
„Wir erwarten die Öffnung der Grenzübergangs“
In der Straße, in der traditionelle kurdische Textilprodukte verkauft werden, ist die Situation die gleiche. Es gibt keine Hochzeiten, daher auch niemanden, der Aufträge für Kleider gibt. Viele Kundinnen dieser Läden kamen aus dem Iran. Der Händler Sabri K. berichtet: „Wenn wir ein Kleid in der Woche verkaufen würden, dann wäre der Monat gerettet. Das ist unsere Situation. Unsere Frauen kaufen manchmal Stoffe, um Röcke zu nähen, aber das sind Stoffe, die wenig kosten, so um die 30 bis 50 TL. Dieses Geld rettet uns auch nicht. Wir warten darauf, dass der Grenzübergang geöffnet wird. Vielleicht wird es dann besser.“
„Die AKP will in Kurdistan den De-facto-Ausnahmezustand herrschen lassen“
Ich frage den HDP-Abgeordneten Murat Sarısaç zu meinen Beobachtungen. Er erklärt: „Die AKP will in Kurdistan einen De-facto-Ausnahmezustand herrschen lassen. Es sind nicht nur politische Rechte, die den Menschen genommen werden. Gleichzeitig werden ihnen auch ökonomische Rechte genommen. Auf der einen Seite wird ein Zwangsverwalter über die Stadt eingesetzt, auf der anderen Seite wird den Menschen in Wan nicht erlaubt, von der 395 Kilometer langen Grenze zum Iran zu profitieren. Wir kommen nur auf die Tagesordnung, weil Menschen an der Grenze sterben. Ein Gouverneur und ein paar Bürokraten entscheiden über das, was in Wan geschieht.“
Die Menschen in Wan fordern die Öffnung der Grenze. Aber bisher gibt es keinen Schritt in diese Richtung.