Auf den Spuren ihres Vaters zur Guerilla

Sozdar Çiya hat sich der kurdischen Guerilla angeschlossen, nachdem ihr Vater im Kampf gefallen ist. „Ich laufe auf denselben Pfaden wie er, ich lehne mich an die gleichen Felsen und atme dieselbe Luft“, sagt sie.

Jeder Mensch, dem wir in den Bergen der Freiheit bei der Guerilla begegnen, trägt eine historische Tradition mit Wurzeln in der Tiefe der Vergangenheit in sich. Das Leben jedes und jeder Einzelnen beinhaltet eine Geschichte, eine Realität, eine gesellschaftliche Tragödie, wie sie selbst in Weltklassikern nicht zu finden sind.

Wer der Guerillakämpferin Sozdar Çiya zuhört, sieht, wie sich die Vergangenheit des kurdischen Volkes auf tragische Weise wiederholt. Diese Tragödie handelt auch vom Heldentum und der Opferbereitschaft Tausender Jahre.

Sozdar Çiya ist eine junge Guerillakämpferin, die gegen die Vernichtungs- und Verleugnungspolitik, gegen ein kolonialistisches System aufbegehrt und wie ihre Vorfahren in die Berge Kurdistans gegangen ist. Bereits als Kind hat sie die Widersprüche in einem staatlichen Internat erlebt und diese Politik hinterfragt.

Der Weg in die Berge

Die Kurden sind schon immer in die Berge gegangen, wenn sie in Bedrängnis und von Vernichtung bedroht waren. Die Landschaft Kurdistan zieht mit ihrer paradiesischen Schönheit die Blicke auf sich und war dennoch Tausende Jahre Schauplatz von Ausbeutung und Massakern. Die Berge waren zu jeder Zeit ein Schutzraum für das kurdische Volk, der sie mit offenen Armen aufgenommen hat. So war es auch in den 1990er Jahren, als der Krieg am heftigsten tobte: Extralegale Hinrichtungen auf offener Straßen, Festnahmewellen, Tausende niedergebrannte Dörfer.

Gegen diese Völkermordpolitik kämpfte die kurdische Befreiungsbewegung in den Bergen für ein neues Leben und die Fortdauer der kurdischen Existenz. Die Guerilla versuchte, dem kurdischen Volk Luft zu verschaffen. Tausende gingen in die Berge und zeigten ihre Entschlossenheit, sich der Auslöschung zu widersetzen und sich nicht beugen zu lassen.

Sozdar: Die ihr Wort gegeben hat

Çiya kam aus dem Bezirk Basan (Güçlükonak) in Şirnex (Şırnak). 1993 weigerte er sich, als paramilitärischer Dorfschützer für den Staat tätig zu werden. Er verabschiedete sich von seiner schwangeren Frau und schloss sich der kurdischen Befreiungsbewegung an. In den Gabar-Bergen erfuhr er, dass er eine Tochter bekommen hat und wünschte sich den Namen „Sozdar“ für sie – „Die ihr Wort gegeben hat“.

Wir begegnen Sozdar Çiya in den Medya-Verteidigungsgebieten in einer Zeit, in der größter Widerstand gegen barbarische Angriffe geleistet wird und die Farben des Frühlings die Berge Kurdistans verzaubern. Wir trinken auf einem Holzfeuer gekochten Tee und beginnen mit unserer Unterhaltung. „Ihr müsst im Sommer wiederkommen, dann können wir euch Brombeeren und Feigen zum Tee anbieten“, sagt die Guerillakämpferin. Jetzt müssten wir uns mit Tee begnügen.

Wir wollen erfahren, warum junge Kurdinnen und Kurden sich aus den Städten Kurdistans, den Metropolen der Türkei, den Dörfern und den Universitäten der PKK in den Bergen anschließen. Unsere Fragen führen uns nicht nur zu dem Grund, sondern bis in die tiefsten Wurzeln der Geschichte.

Zwei Äpfel mitgebracht

Wir fragen die Guerillakämpferin Sozdar nach ihrem Grund und sie erzählt:

„Ich bin 1994 im Dorf Şêwê in Şirnex geboren. Die Abwesenheit meines Vaters verursachte eine ständige Leere bei mir. Mit meiner kleinen Gedankenwelt habe ich mich oft gefragt, wo er wohl ist und warum er nicht bei uns ist. Eines Tages hat der Kommandant des Militärpostens in unserem Dorf meinen Großvater kommen lassen und gesagt: Im Dorf leben Frau und Tochter eines Terroristen, bring sie her.

Als meine Mutter und ich zum Militärposten gingen, sahen wir im Garten zwei Galgen. Der Kommandant sagte, dass wir aufgehängt werden. Er beschimpfte und bedrohte meine Mutter und meinen Großvater.

Eines Nachts nahm mich meine Mutter mit und wir verließen das Dorf. Meine Mutter sagte, dass mein Vater kommen würde. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er ist in die Berge gegangen, als meine Mutter mit mir schwanger war. In unserem Dorf waren alle Dorfschützer, er hat sich dem Druck nicht gebeugt. Auf dem Weg zu uns hat sich mein Vater wohl gedacht, dass er seiner Tochter etwas mitbringen sollte, aber was gibt es schon bei der Guerilla? Also hat er auf dem Weg zwei Äpfel gepflückt und in seine Tasche gesteckt. Es war stockdunkel, er hat im Licht des Funkgeräts mein Gesicht betrachtet, mich umarmt und mich auf die Wangen geküsst. Ich erinnere mich verschwommen daran, dass er den Namen Sozdar genannt hat.

Am Berg Cûdî gefallen

Drei meiner Onkel haben sich der PKK angeschlossen, um gegen die große Vernichtungsoperation in ganz Kurdistan zu kämpfen. Eines Tages bekam meine Mutter telefonisch von ihnen die Nachricht, dass mein Vater bis zur letzten Kugel gekämpft hat und in den Cûdî-Bergen gefallen ist. Meine Mutter hat es eine Zeitlang vor mir verheimlicht. Später kam sie zu mir und sagte: Dein Vater ist gefallen. Was wir jetzt tun müssen, ist ihm gerecht zu werden und uns für den Weg einzusetzen, den er gegangen ist und den er uns gezeigt hat.

In den Fängen des Systems

Wie jedes kurdische Kind bin auch ich in jungen Jahren in die schmutzigen Fänge des Systems geraten. Seit Gründung der Republik soll ganz Kurdistan turkisiert werden und dafür ist ein Projekt namens „Reformplan Ost“ (Şark Islahat) entworfen und umgesetzt worden.

Physisch ließ sich das kurdische Volk nicht vernichten, deshalb sollte ihm die gewünschte Form verpasst werden, es sollte nicht mehr es selbst sein. Aus diesem Grund sind überall in Kurdistan Internate eingerichtet worden. Im Bildungsprogramm dieser Schulen sollen kurdische Kinder wie Mehl in einer Mühle gemahlen werden. Auch ich kam aufs Internat. Ich fand es immer sehr aufregend, dass mein Vater in die Berge gegangen und Guerillakämpfer geworden war, obwohl er doch verheiratet war und ein Kind hatte. Diese Aufregung konnte selbst die aufgezwungene und schmutzige Politik des Internats nicht dämpfen.

Schulter an Schulter kämpfen

Für mich war es eine ständige Suche, ich wollte meinen Vater, Heval Çiya, sehr gerne kennenlernen. Als ich klein war, habe ich von ihm geträumt, und als ich größer wurde, wollte ich Schulter an Schulter mit ihm kämpfen. Nachdem er gefallen ist, habe ich mir selbst das Wort gegeben, dass die Waffe keines Gefallenen liegen bleiben soll. Ich habe zwar nicht Schulter an Schulter mit ihm kämpfen können, aber ich ging in die Berge und schloss mich der PKK an. Ich habe mein Wort gehalten und mich in den Gabar-Bergen der Guerilla angeschlossen. Ich bin auf den gleichen Pfaden wie mein Vater gelaufen, habe mich an dieselben Felsen gelehnt und dieselbe Luft geatmet.“

Sozdar erzählt und wir nehmen einen Teil ihrer Schilderungen auf. Als Ergebnis der systematischen Politik des kolonialistischen Systems gibt es Tausende Menschen wie Sozdar. Sie alle bieten Stoff für Romane und Filme. Leider können wir nur einen kleinen Ausschnitt davon teilen…