Die Erdoğan-Partei AKP hat in Colemêrg (tr. Hakkari) Einspruch gegen die Gültigkeit der Parlaments- und Präsidentenwahl in den Wahlkreisen der kurdischen Provinz eingelegt und will alle Stimmzettel neu auszählen lassen. Aufgrund einer „Häufung und Schwere“ von angeblichen Wahlfehlern und Unregelmäßigkeiten, darunter en bloque abgegebene Stimmen, Eingabefehlern bei der Übermittlung der sogenannten Schnellmeldung und deren Erfassung in der Wahlergebnissoftware sowie ungewöhnlich vielen ungültigen Stimmen könne nicht ausgeschlossen werden, „dass sich ohne diese Vorkommnisse eine andere Sitzverteilung des türkischen Parlaments ergeben hätte“, heißt es zur Begründung. Die Grüne Linkspartei (YSP), die die Wahl in Colemêrg nach den vorläufigen Ergebnissen haushoch gewonnen hat, zeigte sich in einer ersten Reaktion über die von der AKP erhobenen Vorwürfe wenig überrascht und kritisiert diese als ein „mehr als durchsichtiges politisches Manöver“.
YSP-Mitglieder am Dienstag bei einer öffentlichen Presseerklärung in Colemêrg
„Angesichts ihrer offensichtlichen Niederlage in Colemêrg zieht die AKP alle Register, um das Ruder doch noch herumzureißen“, erklärte Kadir Şahin im Namen des Provinzverbands der YSP am Dienstag in Colemêrg und gab den Beginn einer „Demokratie-Wache“ gegen den geplanten Raub des Volkswillens bekannt. Die zur Begründung des Antrags der AKP auf Neuauszählung der Stimmen herangezogenen Wahlfehler wies Şahin als unbegründet und realitätsfern zurück. Die Wahlen hätten zwar jenseits von fairen und freien Bedingungen stattgefunden, Verstöße gegen die Grundprinzipien demokratischer Abstimmungen seien jedoch nicht von der YSP oder anderen Oppositionsparteien ausgegangen. „Trotz aller Widrigkeiten ist es der Bevölkerung von Colemêrg gelungen, den Urnengang zu vollziehen und ihren politischen Willen zu verteidigen“, sagte Şahin. Die Anwort der AKP darauf sei eine plumpe Sabotage-Taktik, die sich eindeutig als Zeichen der Schwäche orten lasse. Der AKP-Kandidat Abdulmuttalip Özbek habe noch während der Auszählung der Auslandsstimmen ein Gespräch mit dem Provinzgouverneur geführt, dies sei verdächtig.
Bei der Parlamentswahl erhielt die YSP in Colemêrg 62,47 Prozent der Stimmen, auf die AKP entfielen 20,59 Prozent, die CHP bekam 7,24 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag laut staatlichen Angaben bei 83,93 Prozent, von 160.220 abgegebenen Stimmen sollen 7.044 ungültig sein. Der Einspruch der AKP bezieht sich auf die Wahlkreise Colemêrg, Gever (Yüksekova) und Şemzînan (Şemdinli), wo die YSP-Kandidierenden Vezir Parlak, Öznur Bartın und Onur Düşünmez mit deutlichem Vorsprung die Wahl für sich entscheiden konnten und insgesamt 95.684 Stimmen erhielten. Damit entfallen alle Abgeordnetenmandate für Colemêrg auf die YSP. Bei der Präsidentenwahl machte der CHP-Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu in Colemêrg das Rennen und bekam 72,32 Prozent der Stimmen.
„Um dem geplanten Stimmenraub entgegenzuwirken, haben wir diverse Gespräche mit den Behörden geführt. Außerdem wurde eine Mahnwache für Demokratie ins Leben gerufen”, erklärte Şahin. Die Sit-ins finden vor den Wahlausschüssen der Provinz statt, eines davon befindet sich im Gebäude, wo auch der Gouverneur sitzt. Die Juristenvereinigung ÖHD, der Menschenrechtsverein IHD und die Initiative der Friedensmütter unterstützen die Aktion. „Wir rufen alle Verantwortlichen auf, den politischen Willen des Volkes zu respektieren und sich neutral gegenüber allen Parteien zu verhalten“, sagte Şahin. Zivilrechtsorganisationen forderte er auf, gegen die politischen Manöver der AKP vorzugehen, Die YSP sei entschlossen, alle Mittel auszuschöpfen, um die Stimmen für die Partei zu verteidigen.