Vier Jahre nach dem Massaker – Eziden nicht mehr wehrlos

Heute vor vier Jahren begann vor den Augen der Weltöffentlichkeit das Massaker von Şengal. Der IS ermordete Tausende Ezid*innen. Nach dem Angriff auf Şengal gründete die Bevölkerung die Verteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ.

Vier Jahre sind seit dem Angriff des Islamischen Staat (IS) auf Şengal am 3. August 2014 vergangen. Die Ezid*innen bezeichnen diesen Angriff als 74. Ferman – Vernichtung. Sie waren den Mördern weitestgehend schutzlos ausgeliefert, da die Peschmerga der PDK bereits beim Anrücken des IS Şengal fluchtartig verließen.

Bei dem IS-Angriff wurden Tausende Ezid*innen ermordet. Nach offiziellen Angaben wurden 6.000 Frauen und Kinder als Kriegsbeute verschleppt, erlitten Gruppenvergewaltigungen und wurden auf Sklavenmärkten verkauft. Mehr als 3.000 Frauen und Kinder befinden sich immer noch in den Händen des IS. Hunderttausende konnten sich vor dem Massenmord retten, da sie sich aufgrund des Widerstands einer zwölfköpfigen Gruppe von PKK-Guerillakämpfer*innen auf den Şengal-Berg zurückziehen konnten. Nun, vier Jahre nach dem Massenmord, verfügt Şengal über ein organisiertes Selbstverteidigungssystem, Fraueninstitutionen und Bildungseinrichtungen, autonome Räte und regionale Selbstverwaltungen.

Wann begann der Angriff des IS auf Şengal?

Vor dem Angriff auf Şengal besetzte der IS am 9. Juni 2014 mit Mosul eine der größten Städte im Irak. Danach zog er in das etwa 60 Kilometer westlich von Mosul gelegene Tell Afar ein. Ein Teil der schiitischen und alevitischen Bevölkerung floh daraufhin nach Şengal. Nach der Besetzung von Tell Afar zog sich der IS um die ezidischen Dörfer der Region zusammen.

Die Ezid*innen vertrauten dem Schutzversprechen der Peschmerga und so verblieb die Mehrheit der Bevölkerung in ihren Dörfern. Menschen, welche die Region verlassen wollten, wurden von den Peschmerga sogar zurückgeschickt. Vor dem Angriff des IS hatte der PDK-Generalsekretär Mesûd Barzanî erklärt: „Wir sind entschlossen, jeden Zentimeter von Şengal zu schützen.“ Dennoch wurden 12.000 Peschmerga auf Befehl abgezogen und die ezidische Bevölkerung dem Genozid überlassen.

Während die Peschmerga flohen, leistete die Bevölkerung Widerstand

Am 3. August 2014 griff der IS das heilige Zentrum der Ezid*innen, Şengal, an. Die Angriffe auf die südlich vom Şengal-Gebirge befindlichen Dörfer Sibe Şêx Xidir und Girzerik dauerten bis in die Morgenstunden an. Die Dorfbewohner*innen leisteten die ganze Nacht mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Widerstand und flohen dann, als die Peschmerga nicht zur erwarteten Hilfe kamen, ins Şengal-Gebirge.

Während sich die Dorfbewohner*innen im Süden auf den Berg retteten, gingen die Bewohner*innen der Dörfer im Norden über die Grenze nach Rojava und retteten sich auf diese Weise. Die Kranken, Alten, Behinderten und die Kinder, die nicht fliehen konnten, wurden vom IS ermordet. An ihnen wurde ein grausames Massaker verübt. In den Dörfern wurden alle Männer und Jungen, die älter als zehn Jahre waren, ermordet. Die vom IS gefangen genommenen ezidischen Frauen wurden als Sklavinnen verkauft. Hunderte Frauen stürzten sich in den Tod, um nicht dem IS in die Hände zu fallen.

Widerstand auf dem Şengal-Berg

Auf Aufruf des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan hatte die PKK am 28. Juni 2014 ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen auf den Şengal-Berg und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der Angriff des IS begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die auf den Şengal-Berg geflohene Bevölkerung.

Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Bergs durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Widerstand der Guerilla gegen den IS und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen am 6. August zwei Bataillone der Verteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den Volksverteidigungskräften HPG zu Hilfe.

Der „humanitäre Korridor“ von Rojava nach Şengal

Der YPG/YPJ und die HPG richteten einen sicheren Korridor ein, um die Hunderttausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Ezid*innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mehr als 200.000 Ezid*innen über die Grenze nach Rojava gehen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die YPG/YPJ und HPG kämpften nun aufopferungsvoll und immer wieder auch unter Verlusten, um diesen „humanitären Korridor“ aufrechtzuerhalten. 100 Kämpfer*innen fielen beim Schutz der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt wurden beim Şengal-Massaker fast 300 Kämpfer*innen von YPG/YPJ und HPG durch den IS getötet.

Nach dem IS waren die Ezid*innen der Brutalität des türkischen Staates ausgesetzt

Die geretteten Ezid*innen blieben in Rojava oder zogen weiter nach Süd- und Nordkurdistan. Zehntausende wurden in Şirnex (Şırnak), Amed (Diyarbakir), Sêrt (Siirt), Mêrdin (Mardin) und Riha (Urfa) in Flüchtlingslagern in Nordkurdistan angesiedelt oder kamen bei Verwandten unter. Etwa 4.000 Ezid*innen wurden im Fidanlik-Camp in Yenişehir, das von der DBP-Stadtverwaltung in Amed aufgebaut worden war, untergebracht. Mit Hilfe der DBP-Stadtverwaltungen, den zivilgesellschaftlichen Organisationen und Freiwilligen wurden in den Lagern Schulen und Gesundheitszentren sowie Produktionsstätten für Frauen und Frauenzentren eingerichtet.

Am 1. November 2016 räumte die mittlerweile von der AKP-Regierung unter Zwangsverwaltung gestellte Stadtverwaltung von Amed das Camp. Fast 1.500 Ezid*innen wurden unter Einsatz von Gewalt im staatlichen AFAD-Camp in Midyat untergebracht. Der Staat verweigerte zivilgesellschaftlichen Organisationen, Abgeordneten und Journalist*innen den Zugang zum AFAD-Camp und ein Teil der Ezid*innen wurde kurze Zeit später sogar des Lagers verwiesen. Nach diesen Erfahrungen kehrte ein Großteil der Ezid*innen nach Südkurdistan, Rojava und Şengal zurück. Ein Teil von ihnen kam als Flüchtlinge auch nach Europa.

Widerstandseinheiten und Asayish von Êzidxan gegründet

Schon einen Monat nach dem Massaker wurden die Şengal-Widerstandseinheiten (YBŞ) gegründet. Tausende ezidische Jugendliche traten mit dem Selbstverständnis „Wir sind die Antwort auf den Massenmord“ in die YBŞ ein. 2015 wurden die Fraueneinheiten (YJŞ) gegründet. Da YBŞ und YJŞ immer an vorderster Front standen, wurde zur inneren Sicherheit im Juni 2016 das Asayish von Êzidxan gegründet. Hunderte Mitglieder dieser Sicherheitskräfte verteidigen das Zentrum und die Dörfer von Şengal.

Am 19. Dezember 2014 begann unter Führung der YBŞ und mit Unterstützung von HPG und der Frauenguerilla YJA-Star die Offensive zur Befreiung von Şengal. Die Offensive dauerte etwa ein Jahr und endete am 13. November 2015 mit der vollständigen Befreiung.

Von zwölf Personen zu einem großen Heer

Nun, vier Jahre nach dem Massenmord, verfügt Şengal über ein organisiertes Selbstverteidigungsheer, Fraueninstitutionen und Bildungseinrichtungen, autonome Räte und regionale Selbstverwaltungen. Am 23. März 2018 erklärte der Ko-Vorsitz des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), dass die Ezid*innen nun eine organisierte Gesellschaft seien und für die Sicherheit von Şengal und Umgebung sorgten, daher werde sich die Guerilla aus Şengal zurückziehen. Die Guerillakämpfer*innen von HPG und YJA-Star hatten ihre Aufgabe gebührend erfüllt und hinterließen, als sie sich am 4. April in die Berge zurückzogen, ein großes ezidisches Heer. Von den zwölf Guerillakämpfern, unter deren Schutz sich Hunderttausende Ezid*innen retten konnten, sind manche in Şengal und einige später in Nordkurdistan gefallen.