Die Volksverteidigungskräfte (HPG) haben einen Nachruf auf Dersim Nurhak veröffentlicht. Der Kommandant der Apollo-Akademien, der zum Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gehörte, kam am 1. Oktober 2021 bei einem Angriff des türkischen Staates in den Medya-Verteidigungsgebieten ums Leben. Er hatte sich 1990 der kurdischen Befreiungsbewegung angeschlossen und galt als bahnbrechender Wegbereiter des entscheidenden Kampfes in den Bergen. Die HPG würdigen Dersim Nurhak als einen „zeitgenössischen Derwisch und revolutionären Werteschaffer“, der den Guerillawiderstand über Jahrzehnte geprägt habe. Sein Verlust bedeute eine fühlbare Lücke. „Wir gedenken dieses großen Revolutionärs mit Liebe, Respekt und Dankbarkeit und sprechen seiner Familie und dem kurdischen Volk unser Mitgefühl aus. Unsere Verbundenheit gilt ihm und seinem Wirken.“ Zur Biografie des Gefallenen teilen die HPG mit:
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Codename: Dersim Nurhak
Vor- und Nachname: Izzettin Inan
Geburtsort: Meletî
Namen von Mutter und Vater: Canê – Hasan
Todestag und -ort: 1. Oktober 2021 / Medya-Verteidigungsgebiete
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Als Sozialist geboren
Dersim Nurhak wurde 1967 in Wêranşar (auch Muhacîr, tr. Doğanşehir), einem Landkreis im Süden der kurdischen Provinz Meletî (Malatya) geboren. Seine Familiengeschichte ist aufgrund ihres alevitischen Glaubens geprägt von einer Verfolgungsgeschichte, die bis ins Osmanische Reich zurückreicht. Schon damals wurden die Alevitinnen und Aleviten als Häretiker verfolgt. Der Großvater von Dersim Nurhaks Mutter etwa war der Aufständische Bozoyê Çindê, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Widerstand gegen die Osmanen im Dreistädteeck Wêranşar-Çirmik-Arxa (Doğanşehir-Yeşilyurt-Akçadağ) anführte. Die Verbundenheit zum eigenen Glauben war daher stets im Zentrum des täglichen Lebens der Familie. Dersim Nurhak wuchs auf in einem natürlichen, kommunalen Dorfleben, das geprägt war von der Kultur des alevitisch-kurdischen Stammes der Balyan. Deren Gemeinden zeichnen sich durch eine sozialistische Struktur aus, die nicht nur das religiöse Leben, sondern auch das gesellschaftliche Leben gestaltet hat. Der Ausdruck „sozialistisch“ bezieht sich hierbei auf ein soziologisches Konzept zugunsten einer an Gleichheit und Solidarität orientierten Gemeinschaft.
Bewunderung für den Widerstand in der Hölle von Diyarbakır
Aufgrund dieser Lebensrealität interessierte sich Dersim Nurhak auch im politischen Bereich für den Sozialismus. Nach dem Besuch der Grund- und Mittelschule in Meletî zog er 1983 nach Amed (Diyarbakır), wo er das Gymnasium besuchte. Hier waren die Spuren des Militärputsches aus dem Jahre 1980 noch besonders frisch. Er bestaunte den Widerstand der PKK im Zîndana Amedê – der „Hölle von Diyarbakır“, wie das Militärgefängnis genannt wurde – und bewunderte die „Apoisten“ dafür, dass sie dem Sturm der Unterdrückung und Verfolgung, der nach dem Putsch in der Türkei wehte, die Stirn boten. Als zu Beginn der Militärdiktatur andere kurdische Organisationen und die türkische Linke ihre Strukturen verloren und ihre Führer ohne politische Perspektive nach Europa flohen, hatte der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan bereits den taktischen Rückzug innerhalb des Mittleren Ostens angeordnet. Doch einige Kader, die in Nordkurdistan und der Türkei verblieben waren, landeten im Gefängnis. Dersim Nurhak lernte viele von ihnen kennen und wandte sich in der Folgezeit der PKK zu. 1986 nahm er an der Istanbuler Marmara-Universität ein Journalistik-Studium auf und engagierte sich gleichzeitig auf Seiten der kurdischen Jugendorganisation YCK in der Studierenden-Bewegung. Im Zuge dieses Aktivismus wurde er auch mehrfach festgenommen.
Im Einsatz in Colemêrg
Nach der Lektüre des Werks „Kürdistan Devriminin Yolu – Manifesto“ (zu dt. etwa „Der Weg der Revolution in Kurdistan“), des ersten Parteiprogramms der PKK, schloss Dersim Nurhak sich der Partei an. Es war das Jahr 1990, als er in Gever (Yüksekova) in die Berge ging – zu einer Zeit, in der der Krieg in Kurdistan besonders blutig war und der Guerillawiderstand von der HPG-Vorgängerorganisation ARGK getragen wurde. Er war in Çelê (Çukurca) und Colemêrg (Hakkari) im Einsatz und brillierte trotz seines noch jungen Beitritts durch Mut, Leidenschaft und hohe Kriegskunst, die er bei diversen wichtigen Offensiven gegen die türkische Armee in die Praxis umsetzte. Kein Jahr später wurde er bereits zum Team-Kommandanten ernannt – auch weil er aufwieglerischen Tendenzen in den eigenen Reihen die ideologische und politische Linie der PKK entgegenstellte.
Bei Öcalan in der Bekaa-Ebene
1991 wurde Dersim Nurhak von Abdullah Öcalan in die libanesische Bekaa-Ebene eingeladen, wo die PKK im Dorf Helve ihre militärische Mahsum-Korkmaz-Akademie betrieb. In seinem Tagebuch finden sich Schilderungen aus dieser Zeit: „Als der Vorsitzende mir meine Teamverantwortung vor der gesamten Akademiestruktur erläuterte und fragte: „Schaffst du das? Kannst du dem gerecht werden?“, zitterten mir die Knie und ich bemühte mich, nicht zu entgegnen, dass ich es nicht kann. Bei den Schulungen und Analysen waren wir auf eine lange und schwierige Militanz vorbereitet worden. Man hatte uns ermahnt und ermutigt; unser Durchsetzungsvermögen und unsere Entschlossenheit wurden dahingehend geschärft, Verantwortung zu teilen, die Last der Aufgabe zu stemmen. Ein „Ich kann es nicht“ wäre gleichbedeutend mit der Akzeptanz von Schwäche gewesen; ich konnte mich auch nicht dazu bringen, dies zu schlucken. Als der Vorsitzende meine Situation erkannte, ermutigte er mich. „Wir werden alle Mittel der Partei einsetzen und dich in die Provinz bringen, aber du musst auch die ganze Kreativität der Guerilla einsetzen und dich selbst schützen“ sagte er. Da spürte ich, dass ich mit einer gewöhnlichen Militanz der Führung nicht würdig sein konnte.“ Dieses Erlebnis bezeichnete Dersim Nurhak später als einen der unvergesslichsten Momente seines Lebens.
Neue Fronten vom Taurusgebirge bis zum Mittelmeer
Mit der „Provinz“, in die der Kommandant entsandt wurde, war die auch als „Tolhildan“ bekannte Guerillaregion „Südwest“ gemeint, zu der weite Teile von Dîlok, Gurgum (Maraş), Semsûr (Adıyaman), Meletî und Kilis gehören. Bis 1994 kämpfte er in den Bergen Engizek und Nurhaq, das Jahr darauf war Dersim Nurhak in Dersim und Qoçgirî im Einsatz, wo er bei Gefechten mit türkischen Militäreinheiten mehrmals verletzt wurde. Danach gingen er und seine Gruppe für einen Sondereinsatz in die Binboğalar-Massive, die im Taurusgebirge liegen. Öcalan hatte dem Kommandanten aufgetragen, den bewaffneten Widerstand auf die türkischen Provinzen auszudehnen. Dersim Nurhak ebnete der Guerilla den Weg vom Taurusgebirge bis zum Mittelmeer. Dieser Weg führte sogar bis in die Küstenregion Antalya, wo er abermals verletzt wurde, diesmal durch einen Sturz von den Felsen. In Antalya nahm die Gruppe die Kriegsökonomie des türkischen Staates ins Visier. Die Schläge waren so heftig, dass die Armeeführung sich gezwungen sah, ihre in Nordkurdistan stationierten Spezialeinheiten nach Antalya zu verlegen. Dem Militär gelang es nicht, Dersim Nurhak und seine Einheit aufzuspüren. Nach rund einem Jahr in Antalya kehrte die Gruppe in die „Südwest-Provinz“ zurück. Öcalan hatte es vorhergesehen: Die Guerilla hatte im Krieg neue Fronten eröffnet und den bewaffneten Kampf auf eine neue Ebene getragen – und die Samen noch kommender Erfolge gelegt.
Rückzug in den Süden
Anfang der 2000er Jahre wechselte Dersim Nurhak in die Medya-Verteidigungsgebiete. Die Entscheidung fiel im Zuge der völkerrechtswidrigen Verschleppung Abdullah Öcalans aus Kenia in die Türkei und dessen Aufruf an die Guerilla, sich nach Südkurdistan zurückzuziehen. Dort durchlief der Kommandant zunächst eine Ausbildung an der nach Mazlum Doğan benannten zentralen Parteischule, 2003 übernahm er die Leitung der Regionalkommandantur der Serhed-Region in Nordkurdistan. Ab 2006 bildete er Kämpferinnen und Kämpfer im zentralen Hauptquartier der HPG aus und führte den Widerstand in Xakurke an. 2010 widmete Dersim Nurhak sich einer Vertiefung der theoretischen und methodischen Analyse von Öcalans Philosophie in der Anwendung auf den revolutionären Volkskrieg. Öcalan hatte in Isolationshaft seine berühmten Gefängnisschriften verfasst, in denen er den Paradigmenwechsel der PKK von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer radikaldemokratischen, feministischen, ökologischen und politisch offenen Basisbewegung für den gesamten Mittleren Osten anstieß und die politische Philosophie des Demokratischen Konföderalismus begründete. Dies galt es nun in die Praxis umzusetzen.
Kampf gegen den IS in Efrîn
Dersim Nurhak ging ins Amanos-Gebirge auf türkischem Staatsgebiet, um den revolutionären Volkskrieg voranzutreiben. Doch als sich mit dem „Frühling der Völker“ (auch „Arabischer Frühling“) 2011 ein nachhaltiger Wechsel im Status quo des Nahen Osten vollzog, förderten die auch auf Rojava ausgeweiteten Volksaufstände die Realität eine sich anbahnende Revolution zutage. Diese vollzog sich schließlich im Juli 2012. Nach dem weitestgehenden Rückzug der syrischen Armee in jenem Jahr aus dem Norden wurden mit Efrîn, Kobanê und Cizîrê die drei ersten Kantone der Demokratischen Föderation Nordsyrien deklariert. „Die Proklamation des Willens unseres Volkes, sich selbst zu regieren, zeigte in aller Schärfe, dass die Revolution eine neue Stufe erreicht hatte. Doch der revolutionäre Durchbruch unserer Bevölkerung in Westkurdistan, vor allem in Efrîn, zog die Aufmerksamkeit der eingeschworenen Feinde unseres Volkes auf sich. So wurde Efrîn schon früh zum Ziel von Angriffen“, so die HPG in ihrem Nachruf. Der sogenannte IS, der von 2011 bis 2014 unter den Namen „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) sowie „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIL) bekannt war, nahm das kurdisch geprägte Efrîn in den Fokus.
Ein mutiger Derwisch
Dersim Nurhak und seine Gruppe verließen das Amanos-Gebirge und gingen nach Rojava. Sie verteidigten die Bevölkerung gegen den IS und halfen ihr bei der Organisierung von Selbstverteidigungseinheiten. „Besonders Hevalê Dersim unternahm große Anstrengungen, um die Bevölkerung Efrîns auf der Grundlage der Perspektive einer demokratischen Nation zu organisieren, sie bei der Entwicklung ihres demokratischen Systems zu unterstützen und die Selbstverteidigung der Jugend zu gewährleisten“, betonen die HPG. „Die derwischartige Haltung unseres Genossen, sein Mut, seine apoistische Fedai-Militanz, seine Kompetenz in allen Bereich und, wie unser Volk sagt, der Geruch des Vorsitzenden, der ihn umgab, wurden zu einer großen Quelle der Kraft und Moral für die Menschen in Efrîn. Dersim Nurhak hatte mit seiner Haltung die Herzen aller erobert und Spuren in der Region hinterlassen, die nie vergessen werden. Nach dieser Mission kehrte er zunächst nach Nordkurdistan und anschließend in die Medya-Verteidigungsgebiete zurück.“
Kommandant an den Apollo-Akademien
In Südkurdistan war Dersim Nurhak Kommandant an den Apollo-Akademien, an denen unter anderem auch Angehörige für die Sondereinheit „Hêzên Taybet“ ausgebildet werden, die eine besondere Opferbereitschaft und ideologischen Tiefgang voraussetzt. Hier gab er sein Wissen, dass er durch seine jahrzehntelange Praxis an nahezu jedem Fleck Kurdistans und darüber hinaus erworben hatte, mit Liebe und Leidenschaft an andere Kämpferinnen und Kämpfer weiter. „Hevalê Dersim war ein bewährter Verfechter des Paradigmas einer Guerilla der demokratischen Moderne. Sein Wirken und lässt die Erfolge, die wir heute im bewaffneten Kampf haben, besser verstehen. Dersim Nurhak war ein Revolutionär, der über drei Jahrzehnte unerschütterlich den Marsch der Freiheit ging. Er schrieb ein Epos und wurde zu einer Legende. Für seine Weggefährtinnen und Genossen, die kurdische Jugend und unser gesamtes Volk wird er stets ein Beispiel sein und unvergessen bleiben.“ Die HPG gedachten auch Canê Inan und Tacettin Inan. Die Mutter und der Bruder von Dersim Nurhak kamen beim Erdbeben im Februar vergangenen Jahres in Dîlok ums Leben.