Wecker: Kurdistan geht uns alle an

Der Münchner Liedermacher Konstantin Wecker ist Schirmpate der diesjährigen Ausgabe des Internationalen Kurdischen Kulturfestivals. Im Interview mit Rewşan Deniz spricht er über die Hintergründe und darüber, warum ihm die Utopie von Rojava so wichtig ist.

Mit ihrem in Solidarität mit dem Internationalen Kurdischen Kulturfestival 2023 zum Antikriegstag verfassten Aufruf an Soldatinnen und Soldaten, aus allen Angriffskriegen dieser Welt zu desertieren, erregten die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und der deutsche Liedermacher Konstantin Wecker großes Aufsehen. Am morgigen Samstag findet die 31. Ausgabe der größten Traditionsveranstaltung der kurdischen Community in Europa statt, diesmal in Frankfurt am Main. Jelinek und Wecker haben die Schirmpatenschaft übernommen. Was es damit auf sich hat, und welchen Beitrag Kunstschaffende gegen die Kriege in Kurdistan leisten könnten, darüber hat Konstantin Wecker mit Rewşan Deniz von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika gesprochen.

Herr Wecker, authentisch zu bleiben und sich für eine mitmenschliche, gleichberechtigte und herrschaftsfreie Gesellschaft einzusetzen, so kennen wir Sie. Was bedeutet herrschaftsfreie und gleichberechtigte Gesellschaft für Sie?

Ich bin 1947 in München zwei Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus und seinem verbrecherischen NS-Regime geboren. Ich hatte das Glück, in einem antifaschistischen Elternhaus aufwachsen zu dürfen. Mein Vater hatte sich dem Kriegsdienst in der verbrecherischen deutschen Wehrmacht entzogen, weil er nicht mitmachen wollte in diesem deutschen Vernichtungskrieg, dem 2. Weltkrieg. „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“, dieses Vermächtnis der überlebenden Häftlinge der deutschen Konzentrationslager ist für mich bis heute ein politisches Vermächtnis, zum Beispiel von meinem Freund dem Widerstandskämpfer und KZ-Überlebenden Martin Löwenberg (1925-2018), mit ich auf vielen Demonstrationen gewesen bin.

Für mich als bekennenden Anarchisten, der seit vielen Jahren von einer herrschaftsfreien Welt ohne Krieg, Faschismus, kapitalistische Ausbeutung von Menschen und Natur, Patriarchat und Rassismus träumt, ist bis heute die Münchner Räterevolution von 1918 eine wichtige politische Orientierung: Für eine gleichberechtigte Gesellschaft mit einer echten Rätedemokratie, genossenschaftlicher Produktion und dem Recht auf Bildung für alle. Damals nach dem Schrecken des 1. Weltkrieges hatten hunderttausende arme und arbeitende Menschen genug von Krieg, Hunger und Armut und haben den bayerischen König am 7. November 1918 gestürzt, die Kasernen gestürmt und die Soldaten entwaffnet. Die Revolutionäre der Münchner Räterepublik haben vom November 1918 bis zum 1. Mai 1919 für eine wirkliche basisdemokratische Revolution gekämpft. In dieser kurzen Zeit haben sie viele politische und soziale Rechte durchgesetzt, darunter das Recht auf Demonstrations-, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit, das Streikrecht für die Arbeiter:innenklasse und vor allem auch das Wahlrecht für Frauen, sie haben damit erste Schritte für eine geschlechtergerechte Gesellschaft gemacht. Die Räterepublik hatte viele reaktionäre Feinde und wurde von präfaschistischen Truppen gemeinsam mit der von der SPD aus Berlin geschickten Reichswehr blutig niedergeschlagen. Hunderte Revolutionär:innen wurden damals allein in München getötet und tausende eingesperrt. Aber bis heute ist die Kraft ihrer Ideen für eine gerechtere Gesellschaft in Forderungen wie „alles für alle“ lebendig – so auch bei vielen jungen Menschen, die sich mit Rojava und Kurdistan solidarisieren.

In Ihrem Appell mit Elfriede Jelinek sprechen Sie davon, dass wir aus allen Angriffskriegen desertieren müssen. Wie kann das gelingen?

„Krieg ist immer Terror der Mächtigen.“ Als Pazifist und Antimilitarist möchte ich in Deutschland und Europa möglichst viele Menschen davon überzeugen, dass wir gemeinsam mit massenhaftem zivilem Ungehorsam uns jeder imperialen Kriegslogik verweigern und solidarisch handeln mit den unterdrückten Menschen zum Beispiel in Kurdistan. Die Menschen und die Bevölkerung von Staaten, die einen verbrecherischen Angriffskrieg führen wie Russland oder dem Nato-Staat Türkei oder von solchen, die ihre Bündnispartner darin unterstützen wie Deutschland, dürfen ihren Regierungen nicht mehr vertrauen: Sie müssen sich ihren Regierungen verweigern, gegen diese verbrecherischen Kriege demonstrieren, Waffenlieferungen und Militärtransporte blockieren. Und vor allem sollten die Soldaten dieser imperialen Armeen desertieren. Das bedeutet konkret: Wenn in Russland immer mehr Menschen den Kriegsdienst verweigern und aus der Armee desertieren, dann wird der Krieg gegen die Menschen in der Ukraine gestoppt. Wenn endlich in der Türkei mehr Menschen gegen den verbrecherischen Krieg des Erdogan-Regimes gegen Rojava und die kurdischen Menschen in Nord- und Südkurdistan demonstrieren und immer mehr Soldaten den Kriegsdienst in der türkischen Armee verweigern und desertieren würden, muss auch dieser völkerrechtswidrige Krieg gegen kurdische Menschen endlich beendet werden. In Deutschland müssen die Menschen endlich gegen die Zusammenarbeit der deutschen Regierung mit dem autoritären Erdogan-Regime protestieren und solidarisch mit der kurdischen Opposition gegen die Waffenlieferungen und den menschenverachtenden deutsch-türkischen Deal gegen Geflüchtete auf die Straße gehen. Nur so können wir irgendwann das Sterben im Mittelmeer und an den Außengrenzen der Festung Europa beenden. Vor allem muss endlich auch die Repression gegen kurdische Menschen und Organisationen in Deutschland beendet werden.

Wir sollten uns an Vietnam erinnern: Erst als damals massenhaft US-Soldaten desertiert haben, musste die Weltmacht USA den Krieg beenden und aus Vietnam abziehen. Frieden und Gerechtigkeit ist immer das Ergebnis von Widerstand der Unterdrückten und dem massenhaften zivilen Ungehorsam und Widerstand der Bevölkerung des Angreifers. Deshalb rufen wir alle Soldaten der russischen und der türkischen Armee dazu auf, ihren Kriegsdienst gegen die Menschen in der Ukraine bzw. in Kurdistan zu verweigern – und endlich aus diesen imperialen Kriegen zu desertieren.    

Welche Aufgabe kommt dabei Künstler:innen zu? Welchen Beitrag können Kunst und Kultur leisten?

Wir Künstler:innen können den Menschen Mut machen: Mit Musik, mit Literatur, Romanen, Gedichten, Theater, Filmen und mit bildender Kunst. Wir können uns stark dafür machen, dass alle Menschen das Recht auf Bildung, Kultur und Kunst haben. Für meine nächste Konzerttour „Utopia 2.0“ haben wir die Initiative „Kultur für alle“ gegründet und werden bei allen Konzerten 100 kostenlose Sozialtickets an Menschen verschenken, die sich derzeit keine Konzerte leisten können (siehe mehr Infos auf www.wecker.de). In diesem Sinne hoffe ich, dass die Solidaritätsrede von Elfriede Jelinek und mir, die auf dem 31. Kurdischen Kulturfestival verlesen wird, und mein Lied „Schäm dich Europa“, das dort zu hören sein wird, den Menschen Mut machen.

Sie sprechen von imperialen Kriegen wie dem des NATO-Staates Türkei gegen die Menschen in Kurdistan und zeigen sich stets solidarisch, zuletzt auch mittels Schirmpatenschaft für das 31. Internationale Kurdische Kulturfestival. Warum ist die Solidarität mit Kurd:innen so wichtig, sowohl im Allgemeinen als auch für Sie persönlich?

Weil mir und für uns alle die Utopie von Rojava so wichtig ist und sie mich an die Utopien der Münchner Räterevolution erinnern: Rojava ist ein gesellschaftliches Experiment einer basis- und rätedemokratischen, feministischen, ökologischen und sozial gerechten, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft in einer Region patriarchaler Autokraten, von Gewalt und Kriegen. Seit Jahren ist das selbstverwaltete Projekt in Rojava der einzige Hoffnungsschimmer für viele Menschen in der gesamten Region für Frieden und eine antirassistische Solidarität gegen Hass und Zerstörung. Aber auch für uns Antifaschist:innen und Kriegsgegner:innen weltweit ist Rojava eine wichtige Utopie und konkrete Hoffnung. Der Anthropologe, Anarchist und Antifaschist David Graeber hat stets die Bedeutung der „echten Revolution“ in Rojava betont und einmal gesagt: „Es ist unsere Verantwortung, als Intellektuelle oder einfach als nachdenkliche Menschen zu versuchen, zumindest zu überlegen, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Leute gibt, die tatsächlich versuchen, etwas Besseres zu schaffen, liegt es in unserer Verantwortung, ihnen dabei zu helfen.“ Leider ist David Graeber am 2. September 2020 viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Es ist unsere Aufgabe, dass die Utopie einer gerechten Gesellschaft für alle weiterlebt, heute zum Beispiel ganz konkret in Rojava und Kurdistan. Das geht uns alle an: Die Menschen von Rojava und in allen kurdischen Gebieten in der Türkei, im Irak, in Syrien und im Iran brauchen jetzt unsere weltweite Solidarität.

Titelfoto: Thomas Karsten