Dieser Beitrag thematisiert drei tragische Fälle geflüchteter Menschen, die unter prekären Bedingungen in Geflüchtetenunterkünften oder psychiatrischen Einrichtungen ums Leben kamen – sei es durch menschenunwürdige Bedingungen, unterlassene staatliche Hilfe oder systemische Vernachlässigung. Diese Fälle stehen exemplarisch für strukturelle Versäumnisse im Umgang mit Schutzsuchenden, insbesondere im Hinblick auf fehlende oder unzureichende Schutzkonzepte in Geflüchtetenunterkünften und anderen Einrichtungen. Dabei wird deutlich, dass nicht nur akute Gefahren für die Betroffenen bestehen, sondern auch grundlegende institutionelle Defizite fortbestehen, die dringend einer kritischen Analyse und Neuausrichtung bedürfen.
„Wo bleiben die Ermittlungsunterlagen über unseren Bruder?“
Am 4. November 2023 wurde Hogir Alay, ein 24-jähriger kurdischer Geflüchteter, tot in einem Waldstück nahe der Unterkunft im Geflüchtetenlager Kusel (Rheinland-Pfalz) aufgefunden. Trotz mehrfacher Beschwerden über Übergriffe durch das Sicherheitspersonal und seiner Versuche, Hilfe bei der Heimleitung und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu bekommen, wurde ihm nie geholfen. Einen Monat später verschwand Hogir Alay, und die Polizei reagierte nicht auf die Meldungen seines Bruders. Die offiziellen Ermittlungen führten zu einem schnellen Abschluss, der den Tod als Suizid darstellte. Auch Monate nach seinem Verschwinden und dem späteren Auffinden seiner Leiche bleiben viele Fragen unbeantwortet. Die deutschen Behörden haben bislang keine umfassende Aufklärung geleistet, und wesentliche Informationen – darunter der Autopsiebericht – wurden der Familie nicht zur Verfügung gestellt:
„Während die deutschen Behörden behaupten, eine Autopsie durchgeführt zu haben, heißt es im Bericht des türkischen Konsulats: „Eine Autopsie wurde nicht durchgeführt!“ Dies erklärt auch, warum uns bis heute kein Autopsiebericht ausgehändigt wurde. Auch die türkische Staatsanwaltschaft forderte bei den deutschen Behörden einen Autopsiebericht an. Bis heute gibt es keinerlei Reaktion!“ - Rêber Alay während einer Kundgebung am Grab seines Bruders am 7. Februar
Hogir Alay © privat
Hogir Alay verschwand, nachdem er zuletzt vor dem Eingangsbereich der Unterkunft, in unmittelbarer Nähe zum Büro der Angestellten, geortet wurde. Video- oder Kameraaufnahmen, die zur Aufklärung hätten beitragen können, existieren nicht. Zudem wurden der Familie weder persönliche Gegenstände Hogirs übergeben noch gab es während seines Verschwindens eine Kommunikation seitens der Unterkunftsleitung. Die Familie Alay kritisiert das ausbleibende Engagement der deutschen Behörden und kündigt an, sich so lange für eine lückenlose Aufklärung einzusetzen, bis die Umstände von Hogir Alays Tod vollständig geklärt sind.
„Wir werden jeden zur Rechenschaft ziehen, der versucht, die Wahrheit zu unterdrücken oder den Prozess zu behindern. Wir tun alles, um Hogirs Tod aufzuklären. Auch wenn es Jahre dauert – wir werden diesen und deinen Kampf Hogir weiterführen!“ - Rêber Alay beim Grabbesuch bei seinem Bruder
„Auch wir sind schockiert über die ausbleibende Reaktion auf das Schicksal von Hogir Alay und seiner Familie. Um solche Missstände zu beenden, muss dieser Fall lückenlos aufgeklärt und die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. In Geflüchtetenunterkünften fehlt es oft an wirksamen Schutzkonzepten, wodurch viele Menschen nicht ausreichend geschützt sind. Gemeinsam mit der Familie von Hogir Alay fordern wir umfassende Aufklärung und konsequente Maßnahmen!“ - Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete
Fethullah Aslan an einen Bekannten: „Die Polizei hat mich mit Gewalt aus dem BAMF geholt und ich bin verrückt geworden. Ich will mich verbrennen, aber wenn ich es nicht schaffe, trete ich in den Todesstreik.“ - aus „der Freitag“
Am 11. Dezember 2024 veröffentlicht Ali Çelikkan in der Wochenzeitung „der Freitag“ einen umfassenden Artikel mit dem Titel „In der Türkei gefoltert, in Deutschland gestorben: Das kurze Leben des Fethullah Aslan“ zum tragischen Todesfall von Fethullah Aslan, ein kurdischer Geflüchteter, der Ende November in einer Berliner Psychiatrie unter ungeklärten Umständen starb. Sein Tod wirft Fragen auf – über den Umgang deutscher Behörden mit schutzsuchenden Menschen und die systemischen Versäumnisse, die tödliche Konsequenzen haben können. Fethullah Aslan suchte in Deutschland Schutz vor Verfolgung. In der Türkei war er wegen seiner politischen Haltung wiederholt festgenommen und physisch, psychisch und sexuell gefoltert worden. Trotz detaillierter Schilderungen seiner Erlebnisse, vorgelegter Gerichtsunterlagen und eines Schreibens der türkischen Generalstaatsanwaltschaft wurde sein Asylantrag vom BAMF abgelehnt (vgl. ebd.). Das BAMF wies seinen Antrag ab mit der Begründung, dass er wirtschaftlich in der Türkei „überlebensfähig“ sei. Die Ablehnung war für Aslan ein Schock. Er drohte, sich das Leben zu nehmen, und wurde daraufhin von der Polizei in eine Berliner Psychiatrie gebracht. Wenige Tage später war er tot. Die offizielle Erklärung lautet: Suizid. Doch Angehörige und Freunde zweifeln an dieser Darstellung.
Fethullah Aslan © privat
Asylsuchende aus der Türkei erfahren restriktive Behandlung
Daneben werden Asylanträge von Geflüchteten aus der Türkei zunehmend restriktiv behandelt. Im vergangenen Jahr 2024 wurden nur 9,6 Prozent der 60.000 Asylanträge türkischer Staatsbürger:innen anerkannt – eine Zahl, die politisch motiviert erscheint, da die Türkei weiterhin als sogenanntes sicheres Herkunftsland gilt. Dies ignoriert die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen, denen insbesondere kurdische Oppositionelle ausgesetzt sind (vgl. ebd.). Darauf verweist auch das im Jahre 2024 veröffentlichte Gutachten „Zur Lage der Justiz in der Türkei. Rechtsunsicherheit in Strafverfahren mit politischem Bezug“ von Pro Asyl, dennoch wird angenommen, dass die Türkei in politischen Strafverfahren rechtsstaatlich handeln würde, was folglich zu restriktiveren Entscheidungspraktiken in deutschen Asylverfahren führt (vgl. ebd.).
„Ich glaube, sie nutzen die Bürokratie aus und beschäftigen die Leute mit dem Papierkram, damit sie aufgeben. Das BAMF will nicht, dass sie gegen die Ablehnung klagen. Das ist Absicht. Das hat System.“ - Aslans Anwalt Yaşar Ohle in „der Freitag“
„Neben einer verschärften Asylpolitik sind auch die Zustände in Unterkünften und Behörden problematisch. Psychisch belastete Menschen erhalten oft keine angemessene Betreuung. Statt Schutz und Unterstützung erfahren viele ein System aus Misstrauen, Bürokratie und Ignoranz, das sie in die Verzweiflung treibt“ - Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete
Unbemerkt: Vier Wochen tot in der Geflüchtetenunterkunft: „Sanoussy Barry: „Die Menschen leiden hier, weil die keinen Ansprechpartner haben in diesen Asyleinrichtungen, habe ich das Gefühl. Ich möchte, also ich wünsche mir von Herzen, dass die Sozialarbeiter – die sind ja vor Ort – mit Menschen zu reden und zu helfen, aber das fehlt. Das fehlt viel in Deutschland momentan.“ - aus der Sendung „Monitor“ vom 29. August 2024
Am 29. August vergangenen Jahres veröffentlichten Till Uebelacker und Andreas Maus einen Artikel unter dem Titel: „Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften“. Der Tod eines jungen Geflüchteten in einer Berliner Geflüchtetenunterkunft wirft ein Schlaglicht auf die Zustände in privat betriebenen Asylunterkünften – und auf ein System, das Menschen sich selbst überlässt. Mamadou Diallo, 24 Jahre alt, war aus Guinea nach Deutschland gekommen. Im Oktober 2023 starb er in seinem Zimmer in einer Unterkunft in Berlin-Steglitz – unbemerkt. Erst nach vier Wochen wurde sein verwester Leichnam entdeckt. Kein Mitbewohner, kein Sozialarbeiter, kein Verantwortlicher hatte ihn vermisst. Laut MONITOR-Recherchen wird die Geflüchtetenunterkunft von ORS betrieben – einer Firma, die in Deutschland zunehmend für solche Unterkünfte beauftragt wird. Sie gehört zum britischen Konzern Serco, der auch Gefängnisse und Grenzschutzanlagen verwaltet. Kritiker:innen werfen ORS vor, Gewinne über die Betreuung der Schutzsuchenden zu stellen. (vgl. ebd.).
Recherchen von MONITOR und der Süddeutschen Zeitung zeigen, dass ORS in den ersten drei Monaten des vergangenen Jahres finanzielle Kürzungen in Höhe von über 760.000 Euro hinnehmen musste – als Folge von Personalmangel in mehr als zehn Unterkünften. Das Unternehmen selbst verweist auf den allgemeinen Fachkräftemangel als Ursache. Doch laut Expert:innen wie dem Wirtschaftswissenschaftler Werner Nienhüser liegt das eigentliche Problem tiefer: Private Betreiber wie Serco orientieren sich primär an wirtschaftlichen Interessen und Gewinnmaximierung (vgl. ebd.)
Eine Bewohnerin der Geflüchtetenunterkunft sagt: „Es waren sehr wenig Betreuer da. Die haben auch nicht so geholfen, vor allem bei Papierkram.“ – aus MONITOR-Recherche vom 29.8.2024
Mamadou Diallo © privat
Keine Einzelfälle
Die Todesfälle von Hogir Alay, Fethullah Aslan und Mamadou Diallo stehen nicht isoliert da. Sie sind nicht bloß Einzelfälle, sondern weisen auf strukturelle Herausforderungen im Umgang mit Schutzsuchenden hin. Studien, darunter eine Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2021, haben die Notwendigkeit umfassender Schutzkonzepte in Unterkünften betont, um Gewalt vorzubeugen und besonders schutzbedürftige Personen gezielt zu unterstützen. Trotz der Einführung von Mindeststandards zum Schutz geflüchteter Menschen bleibt die Umsetzung in der Praxis oft unzureichend (vgl. Stroppel & Theel 2023).
Auch die Rückmeldungen von Ratsuchenden, die sich an Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete, wenden, zeichnen ein ähnliches Bild: Sie berichten von unzureichenden Schutzmaßnahmen, einer mangelnden Durchsetzung bestehender Standards sowie von Erfahrungen mit Ausgrenzung, die ihre Lebensbedingungen erheblich erschweren. Zudem häufen sich Berichte über Diskriminierungserfahrungen, darunter Rassismus und migrantischer Rechtsextremismus, sowohl innerhalb von Gemeinschaftsunterkünften als auch in der Interaktion mit Behörden, Personal, Dolmetscher:innen und Sicherheitspersonal. Diese Rückmeldungen unterstreichen den bestehenden Handlungsbedarf, um ein sicheres und menschenwürdiges Umfeld für Schutzsuchende zu gewährleisten.
Beschwerden über Missstände werden an zuständige Ministerien und Antidiskriminierungsstellen weitergeleitet. Dennoch sehen sich Betroffene und ihre Angehörigen häufig mit fehlender Aufklärung, verzögerten oder eingestellten Ermittlungen sowie dem Verlust relevanter Dokumente konfrontiert. Die unzureichende behördliche Bearbeitung solcher Fälle wirft Fragen über die tatsächliche Verantwortungsübernahme im Umgang mit Geflüchteten auf.
Menschenrechtsbasierte Asylpolitik
Vor diesem Hintergrund kommt der Asyl- und Migrationspolitik eine zentrale Bedeutung für die Bundestagswahl 2025 zu. Während eine verstärkte Umsetzung bestehender Schutzkonzepte sowie eine humanere Asylpolitik gefordert werden, setzen auch demokratische Parteien zunehmend auf restriktivere Maßnahmen, darunter verschärfte Asylverfahren und Abschiebungen in sogenannte „sichere Herkunftsländer“. Die Wahl wird somit nicht nur über zukünftige Gesetzesvorhaben entscheiden, sondern auch darüber, inwieweit Deutschland seiner Verantwortung gegenüber Schutzsuchenden gerecht wird – im Einklang mit nationalen und internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen.
Die Autorin dieses Textes ist Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete
Quellen: Ali Çelikkan: „In der Türkei gefoltert, in Deutschland gestorben: Das kurze Leben des Fethullah Aslan“ am 11.12.2024 https://www.freitag.de/autoren/ali-celikkan/asylbewerber-stirbt-in-psychiatrie-das-kurze-leben-des-kurden-fethullah-aslan (Letzter Zugriff: 9.2.2025).
Initiative Hogir Alay: https://www.instagram.com/initiative_hogir_alay/?hl=de
Pro Asyl. Gutachten. Zur Lage der Justiz in der Türkei. Rechtsunsicherheit in Strafverfahren mit politischem Bezug Bericht zur Türkei, August 2024 https://www.proasyl.de/material/gutachten-zur-lage-der-justiz-in-der-tuerkei-rechtsunsicherheit-in-strafverfahren-mit-politischem-bezug/ (Letzter Zugriff: 9.2.2025).
Stroppel, S. & Theel, T. (2023). Ergebnissicherung und Wirkungsanalyse der im Rahmen der Bundesinitiative „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Maßnahmen im Zeitraum von 2016 bis 2021. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Uebelacker, Till & Maus, Andreas: Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften am 29.8.2024 https://www.bmfsfj.de/resource/blob/221454/631be15fef8bcdb3d5ea009000e49936/ergebnissicherung-und-wirkungsanalyse-der-im-rahmen-der-bundesinitiative-schutz-von-gefluechteten-menschen-in-fluechtlingsunterkuenften-gefoerderten-massnahmen-im-zeitraum-2016-bis-2021-data.pdf?utm_source=chatgpt.com (Letzter Zugriff: 9.2.2025).
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/unterversorgt-geschaefte-mit-fluechtlingsunterkuenften-100.html (Letzter Zugriff: 9.2.2025).