Die kurdische Autorin Meral Şimşek ist eine der Betroffenen von der systematischen Kriminalisierung der Ausdrucks- und Gedankenfreiheit durch das Regime in der Türkei. Aufgrund ihrer Bücher und Geschichten steht sie seit Anfang des Jahres in Malatya vor Gericht. Şimşek ist PEN-Mitglied und betont vor der nächsten Gerichtsverhandlung am 21. September, dass sie sich nicht zum Schweigen bringen lässt.
Meral Şimşek stammt aus Amed und ihre Familie ist patriotisch. Sie lernt das grausame und finstere Gesicht des Staates schon früh kennen. Ihre Schwester und ihr Bruder kommen im Befreiungskampf ums Leben. Als sie 13 Jahre alt ist, wird sie zum ersten Mal festgenommen und gefoltert: Stromschläge, Falaka, Vergewaltigung mit einem Knüppel... Die Spuren dieser Folter trägt sie jahrelang mit sich. Ausgehend von ihrer eigenen Geschichte schreibt sie Bücher, mit denen sie das Leid des kurdischen Volkes in der Welt bekannt gemacht hat. Dafür wird sie in Deutschland, im Irak und in England neun Mal ausgezeichnet. Da kein Erfolg in der Türkei ungestraft bleibt, wird sie wegen PKK-Mitgliedschaft und Terrorpropaganda angeklagt.
Der Prozess ist ein Rachefeldzug
Gegenüber ANF hat Meral Şimşek von ihren schweren Erlebnissen berichtet. Den Prozess gegen sie sieht sie in erster Linie als Rachefeldzug. Wie sie selbst erzählt, wurde sie im April 2019 in Malatya mit einem Auto verschleppt. Ihre Entführer stellten sich als Polizisten vor und setzten sie unter Druck, um sie als Spitzel anzuwerben. Weil sie diesen Vorfall öffentlich machte, kam sie auf die Abschussliste. Die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin brachte den Fall vor die UN und zeigte die Polizei in Malatya an.
„Die Leute, die mich verschleppt haben und mir ihre Polizeiausweise zeigten, haben mir gedroht, dass sie mich fertig machen, wenn ich sie dechiffriere und ihr Angebot nicht annehme. Anderthalb Jahre nachdem wir Anzeige gestellt hatten, ist nicht gegen meine Entführer Anklage erhoben worden, sondern gegen mich. Am 9. Dezember 2020 drangen mitten in der Nacht Polizisten in meine Wohnung ein und nahmen mich fest. Meine Auszeichnungen, mein elektronisches Equipment, alles wurde beschlagnahmt. Ich wurde in die Antiterrorabteilung der Polizei in Malatya gebracht und nackt durchsucht. Zum damaligen Zeitpunkt war ich gerade operiert worden. Aufgrund der Folter in den 1990er Jahren musste meine Gebärmutter entfernt werden, ich habe auch ein Stück Darm verloren. Als ich 13 Jahre alt war, wurde ich im Polizeigewahrsam in Mardin-Mazıdağı gefoltert und mit einem Knüppel misshandelt. Mit der Folter sollten mein großer Bruder und meine große Schwester zum Reden gebracht werden. Obwohl ich bei der Polizei in Malatya sagte, dass ich frisch operiert bin, wurde eine Vaginalkontrolle gemacht.“
„Der Name meiner Protagonistin Arzela soll mein Codename sein“
Nach mehreren Tagen wurde Meral Şimşek gegen Meldeauflagen freigelassen. Nur einen Monat später wurde Anklage in Maltaya erhoben. In der Anklageschrift wird alles als Straftat bewertet: Ihre Bücher, ihre Auszeichnungen, ihre Kurzgeschichten, Literaturveranstaltungen, an denen sie teilgenommen hat. „Sogar meine Erzählung Arzela, die in England und vom britischen PEN zwei Preise gewonnen hat, wird als Beweismittel für meine vermeintliche Mitgliedschaft und als Organisationspropaganda gewertet. Es ging dabei eigentlich um eine Wettbewerb, zu dem ich eingeladen wurde. Es wurden gezielt Personen dafür angesprochen, die eine Erzählung im Rahmen eines Konzepts über die Zukunft der Kurdinnen und Kurden schreiben konnten.
Ich habe daran teilgenommen und eine Geschichte geschrieben. Das utopische Land, das darin vorkommt, wird als Beweismittel herangezogen. Der Name meiner Protagonistin soll mein Codename sein. Die Geschichte spielt noch nicht einmal in der Türkei, aber auch das wird als ein PKK-Projekt der Zukunft lanciert. Arzela ist in eine Anthologie von zwölf Autorinnen und Autoren aufgenommen worden, es wurden Reportagen darüber gemacht. Die Anthologie soll auch in den USA veröffentlicht werden.
Ein weiterer Anklagepunkt sind die Gedichte und Fantasien in meiner biografischen Arbeit Nar Lekesi (Granatapfelfleck), die ausgehend von der Geschichte meiner Familie das Leid des kurdischen Volkes in den 1990er Jahren beleuchtet. Und sogar meine Antwort auf die Frage eines Lesers auf einer Veranstaltung in Batman gilt als Straftat. Auf die Frage, warum ich nicht auf Kurdisch schreibe, hatte ich geantwortet, dass ich mich schäme, nicht in meiner Muttersprache schreiben zu können. Das ist in der Anklageschrift aufgeführt. Es ist derartig tragikomisch.“
Gegen Wildschweine, Soldaten und den Sumpf gekämpft
Mit der Anklageschrift hat sich herausgestellt, dass Meral Şimşek anderthalb Jahre technisch und physisch observiert wurde. Um der nicht enden wollenden Repression zu entfliehen, überquert sie Ende Juni die Grenze nach Griechenland und erlebt bei einem illegalen Pushback die dortige Polizeigewalt. Auf dem Weg lernt sie Dicle Mohamed kennen, eine Kurdin aus Rojava. Die beiden Frauen werden auf dubiosen Wegen in eine Gegend geleitet, bei der sich hinterher herausstellt, dass es sich um militärisches Sperrgebiet handelt. Zwölf Stunden lang kämpfen sie hungrig und durstig gegen Wildschweine, Soldaten und den Sumpf an.
Als sie eine Straße erreichen, treffen sie auf zwei Polizisten. Meral Şimşek zeigt ihren internationalen PEN-Ausweis vor und sagt, dass sie in der Türkei verfolgt wird. Sie wird geschlagen und erfährt erneut sexualisierte Gewalt. In dem Moment begreift sie, dass auch Schriftstellerinnen nirgendwo sicher sind.
Illegaler Pushback
Meral Şimşek sagt, dass die griechischen Behörden über eine Anwaltskanzlei in Athen von ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt worden sind, aber nichts getan haben. Von dem weiteren Geschehen berichtet sie: „Ich wurde nicht nur belästigt und misshandelt, mir wurden Ausweis, Telefon, Portemonnaie und Tablet weggenommen. Es gab Wasser im Auto und ich fragte danach, aber sie gaben uns nichts. Als wir noch bekleidet waren, wurden wir für eine angebliche Durchsuchung abgetastet und belästigt. Danach gaben sie irgendwo Bescheid. Ich dachte, dass sie die Polizei im Dorf verständigt hätten, denn dort sollten meine Anwälte auf uns warten. Wir waren schon fast dort angekommen, als wir gefasst wurden.
Während wir abwarteten, kam ein weißer Transporter ohne Nummernschild. Mich packte das Grauen, denn ich wusste ja aus der Türkei, was ein Auto ohne Nummernschild bedeutet. Eine Frau und ein Mann im Alter zwischen 30 und 35 Jahren stiegen aus dem Fahrzeug aus und kamen zu uns. Sie zogen uns mitten auf der Straße brutal aus und durchsuchten uns. Es war inzwischen hell geworden und an uns fuhren zivile Autos vorbei, aber das kümmerte sie nicht. Die Frau zog einen schwarzen Handschuh an und machte zunächst einschließlich Vaginalkontrolle alles bei mir. Dann machte sie mit demselben Handschuh das Gleiche bei Dicle, obwohl sie ihre Regel hatte.
Danach wurden wir dort weggebracht und Personen mit schwarzen Masken übergeben, die uns wiederum anderen Maskierten auslieferten. Sie brachten uns zum Grenzfluss Mariza (gr. Evros). Ich wehrte mich, weil ich dachte, dass ich sterben werde. Sie schlugen mich. Dann warfen sie Dicle und mich ins Wasser. Unsere Sachen gaben sie nicht zurück. Wir waren in der Region Ipsala, im Sperrgebiet. Dort waren türkische Militärs und wir wurden gefasst. Zusammen mit Dicle wurde ich verhaftet, weil ich das verhängte Ausreiseverbot missachtet habe. Wir kamen ins Gefängnis in Edirne. Nach acht Tagen wurde ich gegen Meldeauflagen freigelassen.“
Gegen Meral Şimşek läuft jetzt ein zusätzliches Verfahren wegen Verletzung des Sperrgebiets an der Grenze in Ipsala. Weil die Misshandlung in Griechenland eine Retraumatisierung ihrer Erfahrungen in der Türkei verursacht hat, wird sie von der Menschenrechtsstiftung TIHV psychologisch betreut und ist in medizínischer Behandlung.
„Ich werde nicht schweigen“
Meral Şimşek ist Mutter von zwei Kindern. Weil sie Bücher und Erzählungen geschrieben hat, drohen ihr bis zu 15 Jahre Gefängnis. Der nächste Verhandlungstag ist am 21. September. Voraussichtlich wird dann die Staatsanwaltschaft plädieren. Die größte Unterstützung bekommt die Autorin vom internationalen PEN. Şimşek wiederholt noch einmal, dass mit dem Prozess Rache geübt werden soll, weil sie die Polizisten in Malatya angezeigt hat. „In diesem Prozess steht mit meiner Person die Literatur vor Gericht“, sagt sie. Sie soll zum Schweigen gebracht werden.
Das Schreiben will sie niemals aufgeben, erklärt sie: „Mein Abenteuer des Schreibens hat damit begonnen, dass ich meinen Schmerz in Worte gefasst haben. Später habe ich nach Wegen gesucht, den Schmerz in Hoffnung und Schönheit zu verwandeln. Ich habe über Berdel (Von Familien arrangierter Frauentausch zwecks Heirat), über Armut, über die Grausamkeit der Hizbullah, über staatliche und männliche Gewalt und alles Leid, das Frauen und Kindern widerfährt, geschrieben. Das soll jedoch nicht bekannt werden und alle, die sich darüber äußern, sollen zum Schweigen gebracht werden. Wenn wir schweigen, schweigt auch die Gesellschaft. Ich werde jedoch nicht schweigen. Kein Gerichtsurteil kann meine Reise zur Hoffnung aufhalten.“