„Looking for Mehmet“ lautet der Titel eines Filmprojekts des mazedonischen Dokumentarfilmemachers Nikola Ivanovski über die letzten Monate im Leben des Journalisten Mehmet Aksoy (Nom de Guerre: Fîraz Dağ). Aksoy war Mitglied des YPG-Pressezentrums und begleitete die Offensive gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) zur Befreiung der nordsyrischen Stadt Raqqa. Am 26. September 2017 starb er bei einem IS-Angriff, als er an einer Dokumentation über die Offensive arbeitete.
Für „Looking for Mehmet“ wird sich Ivanovski mit Mehmet Aksoys Mutter Zeynep und seiner Schwester Gonca auf eine Reise nach Rojava begeben, um die Zeit des Journalisten in der Region anhand von Interviews mit ihm nahestehenden Personen und Archivmaterial, das er vor Ort gedreht hat, zusammenzustellen. Im Interview mit ANF spricht Regisseur Nikola Ivanovski über seine Beweggründe für den Film.
Kannten Sie Mehmet persönlich?
Ich hatte keine Gelegenheit, Mehmet persönlich kennenzulernen, als er noch unter uns war, aber wir bewegten uns in ähnlichen Kreisen und hatten eine Reihe von gemeinsamen Freunden. Wir sind wahrscheinlich bei einigen Veranstaltungen aufeinandergetroffen, haben uns aber nie direkt kennengelernt. Ich war mir seiner Person und seiner Arbeit bewusst.
Mehmet ist nicht der erste YPG-Gefallene aus Europa. Was macht ihn so besonders, dass Sie einen Dokumentarfilm über sein Leben drehen wollen?
Es ist wahr, dass es viele andere Menschen gibt, die sich dem Kampf gegen die IS angeschlossen haben und gefallen sind. Es gibt aber einige Dinge, die mich an Mehmets Geschichte faszinieren. Ich bin durch mein Politikstudium auf die kurdische Frage aufmerksam geworden und habe versucht, einen Weg zu finden einen Film zu machen, der die kurdische Geschichte über eine ganze Reihe von Jahren hinweg erzählt. Als ich von Mehmets tragischen Tod hörte, sprach ich mit seinem Onkel. Er erzählte mir, dass Mehmet in Rojava war und einen Film über den kurdischen Kampf gegen den IS gedreht habe. Ich erkundigte mich, was mit dem Filmmaterial passiert ist. Mir wurde gesagt, dass im Moment nicht viel getan wird. Im Gedanken, dass Mehmet etwas begonnen hatte, das ich machen wollte, fragte ich um Erlaubnis, mir das Filmmaterial anzusehen. Ich hatte mich entschlossen, diese Arbeit zu beenden und damit einen Kollegen zu ehren, der sein Leben dafür gegeben hat, die Geschichte zu schreiben, die ich machen wollte. Dann nahm ich an seiner Beerdigung teil und filmte sie. Dabei erkannte ich, dass die Geschichte viel mehr beinhaltet, als ich ursprünglich dachte.
An seiner Beerdigung nahmen etwa 6000 Menschen aus der ganzen Welt und allen Bereichen des Lebens teil. Abgeordnete, Gewerkschaftsführer, Freiwillige, die aus Rojava anriefen, Akademiker, Rabbiner, Priester, Aktivisten... Er war ein großzügiger Mensch, charismatisch, gutaussehend, intelligent, talentiert, beliebt und hatte alle für sich eingenommen. Er hatte die Herzen und die Leben so vieler Menschen weltweit berührt. Die Frage, was einen solchen Menschen dazu bringt, alles hinter sich zu lassen und mit der Kamera in der Hand um ein Land zu kämpfen, das er nicht kannte, aber als sein Zuhause empfand, nach den Werten, die dahinter stehen hat mich unendlich fasziniert. Aber was mich bei der Beerdigung wirklich schockiert hat, ist die Erkenntnis, dass seine Familie nicht wirklich wusste, wie beliebt und wichtig ihr gefallener Sohn war. So reifte in mir die Idee in den folgenden Monaten, in denen ich der Familie näherkam, einen solchen Film zu machen. Ich teilte ihre Trauer und ihren Schmerz und kam zu der Überzeugung, ihnen durch diesen Film einen Abschluss in Bezug auf den frühen Tod Mehmets und der wichtigen Arbeit zu geben, die er leistete, um sowohl für die Familie als auch für die kurdischen Gemeinschaften weltweit ein dauerhaftes Denkmal setzen zu können.
Als ich mehr und mehr über sein Leben nachforschte, wurde mir klar, dass die tragische Geschichte von Mehmet eine der größten politischen Tragödien des 21. Jahrhunderts, die bittere Geschichte des kurdischen Kampfes um Anerkennung und Autonomie verkörpert. Und indem ich die Geschichte von Mehmets Leben erzähle, erzähle ich der Welt die Geschichte der Kurden.
Auf der persönlichen Ebene finde ich viele Ähnlichkeiten zwischen unseren Geschichten. Wir sind beide mit mehreren Identitäten aufgewachsen. Mehmet wurde türkisch-kurdisch geboren, wuchs britisch auf, nur um dann als Teenager seine kurdische Identität zu entdecken. Ich wurde jugoslawisch geboren, als ich sieben Jahre alt war, wurde mir gesagt, dass ich Mazedonier bin, und dann ging ich weg und lebte in verschiedenen europäischen Ländern, bis ich mich schließlich in Großbritannien niederließ. Wir waren beide Journalisten, dann Filmemacher, und wir teilten die gleichen politischen Werte. Auf einer breiteren politischen Ebene war die Geschichte der Kurden die Geschichte der Mazedonier bis 1944, als Josip Broz Tito Mazedonien einen Status innerhalb der Föderation Jugoslawiens verlieh. Zuvor existierte Mazedonien dank der politischen Machenschaften der Großmächte (Großbritannien und Frankreich) nach den Balkankriegen formal nicht als Land. Die Mazedonier wurden, ähnlich wie die Kurden, unter Serbien, Griechenland, Albanien und Bulgarien aufgeteilt und verfolgt. Während die Mazedonier 1944 ein Land bekamen, erhielten die Kurden nie eines. So konnte ich die politische Notlage der Kurden verstehen.
Während dem Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat war Mehmet insbesondere nach dem IS-Überfall auf Şengal im August 2014 mit großer Energie aktiv, um die kurdische Bevölkerung und die europäische Öffentlichkeit zu informieren und zu organisieren. Viele Menschen wurden durch sein Handeln beeinflusst. Konnte die Lücke, die er hinterließ, gefüllt werden?
Mehmet spielte eine sehr wertvolle Rolle im kurdischen Kampf gegen den IS und die kurdische Bewegung im weiteren Sinne. Seine Bedeutung als Inspiration bei der Vermittlung der Entwicklungen in Rojava kann nicht genug betont werden. Er war auch eine Person, die Menschen zusammenbrachte, immer bereit zu diskutieren und zu debattieren und nahm sich für jeden Zeit. Leider sind Menschen wie er selten und es wird schwierig sein, in seine Fußstapfen zu treten. Aber Menschen können sich von seinem Leben und Vermächtnis inspirieren lassen und seine wichtige Arbeit fortsetzen. Im Idealfall kann sein Opfer helfen, viele neue Mehmets hervorzubringen.
In einer Rede auf Mehmets Beerdigung in London fiel der Satz: ‚Mehmet hat es geschafft, das Dilemma Familie/Kampf, in dem sich jeder kurdische Jugendliche in Europa befindet, zu lösen und den Mut bewiesen, sich dem Befreiungskampf anzuschließen. Wurde die kurdische Jugend in Großbritannien von Mehmets Beteiligung an diesem Kampf beeinflusst?
Ich bin davon überzeugt, dass er definitiv als Inspiration für die kurdische Jugend im Vereinigten Königreich dient. Sein Name lebt im kollektiven Gedächtnis jeder kurdischen Familie in Großbritannien weiter. Vergessen wir jedoch nicht, dass seine Lösung des angesprochenen Dilemmas die Frage der Hinterbliebenen zurücklässt. Es ist ein interessanter Konflikt, ganz besonders für die Kurden, die über die ganze Welt verstreut und auf ihrem Land im Iran, Irak, in der Türkei und in Syrien bleiben müssen, aber ohne Rechte und Anerkennung. Einerseits ist er ein Held und Märtyrer der Bewegung und seiner Mutter. Sie ist wie jede andere kurdische Mutter, die einen Sohn oder eine Tochter für den Kampf verloren hat, stolz. Aber auf der anderen Seite, auf der persönlichen Ebene, verlor seine Familie ihren Sohn und Bruder. Nichts kann das ersetzen. Es handelt sich um einen interessanten und einzigartigen Aspekt, den ich in der kurdischen Gemeinschaft finde. Dieses Thema möchte ich filmisch untersuchen. Und vergessen wir nicht, dass es unter der kurdischen Diaspora Tausende anderer Mehmets auf der ganzen Welt gibt. Die Geschichte von Mehmet repräsentiert all diese Geschichten.
Sie wollen mit ihrer Dokumentation die letzten Monate im Leben von Mehmet schildern. Planen Sie auch, sich den emotionalen Konflikten der kurdischen Jugend in Europa und den Werten zu widmen, die ausschlaggebend für Mehmets Reise nach Rojava waren?
Auf Mehmets Reise vom Filmemacher zum Revolutionär, von Mehmet Aksoy bis Fîraz Dağ werde ich zweifellos die emotionalen Konflikte vieler anderer kurdischer Jugendlicher weltweit ansprechen. Mehmet musste in seinem kurzen, aber reichen Leben schwierige Entscheidungen treffen. Nicht der engsten Familie von seiner Entscheidung zu erzählen, eine Liebesgeschichte hinter sich zu lassen, weil er seine Liebe zu Rojava nicht mit den Anforderungen einer normalen Beziehung in Einklang bringen konnte… Es gibt so viele Themen, die die kurdische Jugend in ganz Europa ansprechen werden, sodass ich glaube, dass viele ihre Dilemmata und Probleme durch Mehmets Geschichte erkennen werden. Und deshalb ist es sehr wichtig, diesen Film zu machen.
In dieser Dokumentation wird es um das Leben einer Person gehen, die in Europa aufgewachsen ist und in vielen verschiedenen Bereichen des Lebens sehr erfolgreich war. Als Außenstehender könnte man meinen, dass es sich bei Mehmet um einen ‚gut integrierten‘ jungen Mann mit kurdischen Wurzeln handelte. Wie wollen Sie die Veränderung im Leben Mehme’s durch den kurdischen Befreiungskampf behandeln? Wie interpretieren Sie als Regisseur diese Situation? Ist Mehmets Rebellion ein inspirierendes Drama oder ein echtes Phänomen, das revolutionären Mut erfordert, bei dem jeder einen Teil von sich selbst finden kann?
Während Mehmet oberflächlich betrachtet ein in der britischen Gesellschaft gut integrierter junger Kurde war, war er tief in seinem Inneren verunsichert. Als er in seiner Jugend seine politischen Werte entwickelte, fühlte er sich mehr und mehr wie ein Außenseiter in Großbritannien. Er empfand die britische Gesellschaft als zu kapitalistisch, zu materialistisch. Und als der Bürgerkrieg in Syrien begann und er sah, was in Rojava vor allem nach der Belagerung von Kobanê geschah, sah er die Möglichkeit, eine neue und bessere Welt zu errichten, die auf Werten wie Geschlechtergerechtigkeit und direkter Demokratie, die er schätzte, beruht. Es ist diese Reise von einem gut integrierten jungen britischen Kurden zu einem Revolutionär - von Mehmet Aksoy zu Fîraz Dağ -, mit der sich der Film in erster Linie befassen wird. Diese Reise durch die Augen seiner Familie betrachtet, während sie um die Welt reisen, um die Menschen zu treffen, mit denen er zusammenarbeitete, um zu verstehen, warum er tat, was er tat und was das alles bedeutete.
In dem Film werde ich auch einige der Spielfilme, die er gestaltet hat, aufmerksam verfolgen, insbesondere sein Frühwerk, die Geschichten eines jungen Einwanderers, der in London aufwächst, sowie sein letzteres Werk, den Film, den er 2014 während der Belagerung von Kobanê an der Grenze zwischen der Türkei und Rojava gedreht hat. Mehmets Geschichte ist sowohl ein inspirierendes Drama, das sich überzeugend für die Großleinwand eignet, als auch ein echtes und einzigartiges Zeugnis für die kurdische Gemeinschaft. Und ich denke, dass die Themen der Geschichte (Liebe, Verlust, Opfer, Solidarität, Revolution, Familie) sowohl für das kurdische als auch für das allgemeine Publikum weltweit universell sind. Das macht seine Geschichte zu einem großartigen Filmstoff.
Handelt es sich bei den Crew-Mitgliedern um Freunde von Mehmet?
Keines der Crew-Mitglieder ist ein Freund von Mehmet. Aber viele seiner Freunde werden im Film als Mitwirkende auftreten. Ich halte es für wichtig, die Experten und die Protagonisten zu trennen, um sich objektiver auf die Geschichte zu konzentrieren zu können und auch schwierige Phasen im Produktionsprozess zu überstehen.
Würden Sie diesen Film auch machen, wenn es sich um die Geschichte von jemand anderem handeln würde?
Die Tatsache, dass ich emotional nicht involviert bin, versetzt mich in eine gute Position, um als Geschichtenerzähler objektiv zu sein. Ich bin frei vom direkten Schmerz und Trauma, unter dem ich leiden würde, wenn ich ein enger Freund gewesen wäre. Allerdings bin ich in einer guten Position, die Geschichte zu nutzen, um damit der Familie und der kurdischen Community zu helfen, ihren Schmerz durch den Produktionsprozess des Films zu lindern.
Nikola Ivanovski
Wer ist Nikola Ivanovski?
Der in London lebende Dokumentarfilmemacher Nikola Ivanovski ist Absolvent der National Film and Television School, die als bedeutendste Filmhochschule Großbritanniens gilt und zu den weltweit angesehensten Film- und Medieninstitutionen gehört. Er hat einen Master-Abschluss in Diplomatie und Internationale Beziehungen der SOAS University of London sowie einen Bachelor in Geistes- und Sozialwissenschaften mit dem Nebenfach Journalismus der Anglo-American University in Prag. Vor seinem Wirken als Filmemacher arbeitete er unter anderem als Journalist für BBC und als Bildredakteur für die Fotoagentur Demotix. Das Unternehmen, das heute in seinen ursprünglichen Zügen nicht mehr existiert, war überzeugter Vertreter des „Graswurzel-Journalismus“, einer Form des Journalismus, bei der die Zivilgesellschaft durch eigene Medien am gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt. Ivanovski war außerdem Dozent für Dokumentarfotografie sowie Internationale Wirtschaft und Finanzen an der Anglo-American University. Er arbeitete auch für Organisationen wie Save the Children, Comic Relief und die Vereinten Nationen und lebte in Kenia und Indien. 2017 drehte er für den italienischen Sender Rai 1 die 18. Staffel von „Overland“, einer Dokumentationsreihe zum Thema Expeditionsreisen, bei der Ivanovski von Italien nach Afghanistan reiste. Sein Dokumentarfilm „Salvation" wurde 2017 auf dem Korean Refugee Film Festival (KOREFF) in Seoul uraufgeführt.
Um einen Teil der Kosten für das Filmprojekt über das Leben Mehmet Aksoys abzudecken, haben Regisseur Nikola Ivanovski und Produzent Lennard Ortmann eine Crowdfunding-Kampagne auf Indiegogo ins Leben gerufen. Sie hoffen, mit Spenden einen Teil der Crew-Gehälter, Reise- und Übernachtungskosten, Vermietung von technischem Equipment und die Gebühren für Lizenzen abzudecken. Wer das Projekt finanziell unterstützen möchte, kann dies noch bis zum 14. Mai auf Indiegogo tun.