Forderung nach Gerechtigkeit ist Präsidentenbeleidigung
Berkin Elvan war 14 Jahre alt und wollte nur Brot holen, als er am Rande der Gezi-Proteste in Istanbul im Juni 2013 von einem Tränengaskanister am Kopf verletzt wurde. Nachdem er 269 Tage im Koma gelegen hatte, starb der Junge am 11. März 2014 im Alter von 15 Jahren.
Wegen Äußerungen im Gerichtsprozess gegen den Todesschützen wurden seine Eltern wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt. Nun verurteilte das Gericht den Vater Sami Elvan zu vierzehn Monaten und die Mutter Gülsüm Elvan zu elf Monaten und 20 Tagen Haft.
Prozess gegen den Todesschützen
Im Rahmen des Prozesses gegen den Polizisten Fatih Dalgalı, welcher am 16. Juni 2013 eine Gaskartusche auf den damals 14-jährigen Jungen abgefeuert und ihn am Kopf getroffen hatte, kam es zu vielen Unregelmäßigkeiten, wie etwa der Versetzung des Richters vor dem Urteilsspruch oder der coronabedingten Abwesenheit des Staatsanwalts.
Der Rechtsanwalt Can Atalay, der die Familie Elvan vertrat, reagierte seinerzeit empört auf diese Entwicklungen und gab im Anschluss an die Verhandlung eine Erklärung vor dem Gerichtsgebäude ab. Die politischen Machthaber hätten seit Juni 2013 alles getan, um eine Verurteilung der Verantwortlichen zu verhindern (ANF berichtete). Diese Ansicht teilte 2023 auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, ANF berichtete).
Präsidentenbeleidigung
Der AKP-Chef sah sich in Kritik am skandalösen Vorgehen der türkischen Justiz im Prozess um den Tod des jüngsten Gezi-Opfers gedemütigt und forderte Mitte 2021 über seinen Rechtsbeistand die Eröffnung einer Klage gegen die Eltern. Konkret ging es um eine Erklärung des Ehepaares nach der 18. Hauptverhandlung am 9. Dezember 2020 gegen den Todesschützen.
Sami Elvan, der Vater des Verstorbenen, hatte damals gesagt: „Unser Schmerz hört seit sieben Jahren nicht auf. Wir wissen, dass Berkin nicht zurückkommen wird, aber wir wollen auch nicht, dass andere Familien ein solches Leid erfahren.“ Angeklagt sei nur der Polizist, der die Gaspatrone abgefeuert habe, die Familie wolle jedoch auch die Befehlshaber vor Gericht sehen. Die Mutter Gülsüm Elvan richtete das Wort an den türkischen Präsidenten: „Recep Tayyip Erdoğan, du hast mir mein Kind genommen, gib mir wenigstens Gerechtigkeit. Ich will Gerechtigkeit.“
„Ich überlasse das Urteil ihrem Gewissen“
Für das türkische Gericht liegt der Fall klar: Diese Forderung nach Gerechtigkeit erfüllt den Tatbestand der Präsidentenbeleidigung. Es verurteilte Sami Elvan zu vierzehn Monaten und Gülsüm Elvan zu elf Monaten und 20 Tagen Haft und beschloss, die Verkündung des Urteils aufzuschieben.
Vater Sami Elvan sagte, bevor er den Gerichtssaal verließ: „Mein Leben hat sich in elf Jahren verändert, und ich sehne mich immer noch nach meinem Kind. Ich überlasse das Urteil ihrem Gewissen.“
Juristische Aufarbeitung
Acht Jahre lang haben die Eltern von Berkin Elvan in der Türkei für ihr Recht gekämpft. Erst im Juni 2021 wurde der Schütze Fatih Dalgalı im Zusammenhang mit der Tötung des Jugendlichen verurteilt. Der Polizist erhielt eine Haftstrafe in Höhe von 16 Jahren und acht Monaten.
Ein regionales Berufungsgericht in Istanbul hat das Urteil gegen Dalgalı im April 2023 bestätigt. Die Haftstrafe wird jedoch erst vollzogen, wenn das Urteil gegen den Polizisten durch den Kassationshof, das oberste Berufungsgericht der Türkei, bestätigt wird. Bis dahin bleibt er auf freiem Fuß.
Urteil des EGMR
Nachdem der nationale Rechtsweg ausgeschöpft war, wandte sich die Familie an den EGMR. Vergangenen Februar verurteilte das Gericht die Türkei wegen der mangelnden Aufklärung des Falls. Die Behörden seien nicht unabhängig gewesen und hätten ihre Verpflichtung zur Aufklärung nicht erfüllt, heißt es in der Entscheidung. Dabei handele es sich um ein systematisches Problem innerhalb der türkischen Justiz.
Nach Ansicht der Straßburger Richter:innen hatten die türkischen Behörden auch nicht genug getan, um zu untersuchen, welche Rolle der Leiter der nationalen Strafverfolgungsbehörden sowie der Gouverneur der Millionenmetropole damals spielten und ob diese die Strafverfolgung im Fall der Tötung des Jungen behindert hatten.
Weitere Anklagen
Das türkische Staatsoberhaupt empfand sich in diesem Fall nicht nur von den Eltern des Opfers, sondern auch von gewählten Politiker:innen, die öffentlich Kritik geübt hatten sowie Anwält:innen, die den Fall unterstützten, beleidigt. In zahlreichen Anklageschriften wegen „Terrorpropaganda“ und „Präsidentenbeleidigung“ wurden kritische Äußerungen bezüglich der Todesumstände von Berkin Elvan und deren juristischen Aufarbeitung als vermeintliche Tatbestände herangezogen.
Eines der prominentesten Beispiele hierfür ist vielleicht die Verurteilung der Oppositionspolitikerin Canan Kaftancıoğlu zu knapp fünf Jahren Haft sowie fünf Jahren Politikverbot. Die Vorwürfe gegen die damalige Istanuler CHP-Vorsitzende bezogen sich in erster Linie auf Einträge im Kurznachrichtendienst Twitter in den Jahren 2012 bis 2017. Kaftancıoğlu hatte unter anderem den Tod des 14-jährigen Berkin Elvan durch eine Tränengas-Granate bei den regierungskritischen Gezi-Protesten in 2013 kritisiert.
Gezi-Proteste
Die Gezi-Proteste entzündeten sich Ende Mai 2013 an der geplanten Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul. Sie weiteten sich zu landesweiten Demonstrationen gegen den als immer autoritärer empfundenen Führungsstil Recep Tayyip Erdoğans aus und wurden teils mit brutaler Polizeigewalt niedergeschlagen. Erdoğan war damals Ministerpräsident. Seit August 2014 ist er Staatspräsident.
Landesweit kamen bei den Protesten acht Demonstrierende ums Leben: Berkin Elvan, Ali Ismail Korkmaz, Ethem Sarısülük, Ahmet Atakan, Mehmet Ayvalıtaş, Abdullah Cömert, Medeni Yıldırım und Hasan Ferit Gedik. Zahlreiche weitere Menschen wurden teils schwer verletzt – einige verloren sogar ihr Augenlicht, weil sie von Tränengaskartuschen der Polizei getroffen wurden.