Eine Wanderbücherei bei der Guerilla

Bei der Guerilla in den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten ist es nicht ungewöhnlich, unter einem Baum auf eine Wanderbücherei zu stoßen.

Der Aufstieg des Menschen zur Hochkultur und damit zur geschichtlichen Existenz vollzieht sich am unteren Nil und im Urstromtal von Euphrat und Tigris in Mesopotamien. Als erstes Volk, das den Schritt zur Hochkultur geleistet hat, gelten derzeit die Sumerer. Besonders ihre Erfindung der Keilschrift gilt als eine hervorragende Leistung.

Die hauptsächlich auf Tontafeln überlieferte Schriftkultur entstand um etwa 3300 v. Chr. im südlichen Mesopotamien und blieb mehr als dreitausend Jahre lang in Gebrauch. Oblag sie zunächst nur der Tempeladministration und der gesellschaftlichen Elite als Registrierpraxis von wirtschaftlichen Faktoren wie Steuerwesen und Verwaltungsaufgaben, entstanden im Laufe der Zeit Palastarchive mit umfangreichen Sammlungen von Wissenstexten und unterhaltender Literatur, was wir heute als Bibliothek bezeichnen.

Die über 25.000 Tontafeln umfassende Bibliothek des Assurbanipal zum Beispiel ist die größte bekannte Sammlung literarischer Werke des Alten Orients. Sie wurde vor zweieinhalbtausend Jahren vom neuassyrischen König Assurbanipal in Ninive angelegt. Auch die Ägypter besaßen in der Antike Büchersammlungen, aus denen uns die bis 1866 v. Chr. datierbaren Papyrusrollen bekannt sind. Die Bibliothek von Alexandria war unumstritten die größte und bedeutsamste antike Bibliothek. Sie entstand etwa 300 v. Chr. in der kurz zuvor in Ägypten gegründeten makedonisch-griechischen Stadt Alexandria.

Wann die ersten öffentliche Büchersammlungen angelegt wurden, darüber herrschen jedoch Zweifel. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es immer mehr öffentliche Bibliotheken. Eine der ersten mobilen Bibliotheken soll im Heer von Napoleon entstanden sein, in Deutschland gab es die erste Fahrbibliothek 1925 in Worms. Heute begegnen uns Wanderbüchereien überall auf der Welt in vielen Varianten. So auch bei der kurdischen Guerilla in den Medya-Verteidigungsgebieten. An einem Ort, wo es kaum für möglich gehalten wird, finden sich unter einem Baum sorgfältig aufgereihte Regale voller Bücher. Davor stößt man dann auf eine Guerillakämpferin, welche die Bücher nach Themen sortiert oder aber auch Literaturrecherche betreibt. „Unsere Bücherei bietet eine große Auswahl an Fachliteratur zum Mittleren Osten“, lautet meistens die selbstbewusste Antwort auf überraschte Minen.

Bemerkenswert dabei ist, dass sich zu jedem Thema guter Lesestoff finden lässt, obwohl die kleine Bibliothek nur mit begrenzten Möglichkeiten geschaffen wurde. Auch die Guerilla-Prosa hat ihren Platz in den Regalen der Wanderbüchereien in den Bergen Kurdistans gefunden. Eine besondere ihrer Art ist die Bibliothek der Şehîd-Bêrîtan-Akademie. Sie wird dort aufgestellt, wo sich die Ausbildungseinheit „Şehîd Gülnaz Ege“ gerade aufhält. Zeichnungen auf farbenfrohem Papier und Bilder gefallener Kämpferinnen und Kämpfern geben dem Ort einen unverwechselbaren Charakter. Eine Welt ohne Bücher wäre eine Welt ohne Erinnerung, ohne Wissen und ohne Fortschritt.