Bildung bei der PKK: Auseinandersetzung und Konfrontation

Der Kolonialismus hat nicht nur Kurdistan besetzt, sondern auch das Denken, sagt Orhan Kendal vom Bildungskomitee der PKK: „In unserer Bildungsarbeit wollen wir uns selbst entdecken und uns mit uns selbst auseinandersetzen.“

Orhan Kendal ist Mitglied des Bildungskomitees der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK). Im ANF-Interview führt er aus, welchen Stellenwert Bildung in der kurdischen Befreiungsbewegung einnimmt und auf welchen Grundsätzen die Bildungsarbeit aufbaut.

Für den Begriff „Bildung“ gibt es verschiedene Definitionen, was verstehen Sie darunter?

Vor allem ist wichtig, zu welchem Zweck Bildung vermittelt wird. Staatliche und herrschende Kräfte bilden aus, um ihren eigenen Interessen entsprechend gehorsame und fügsame Menschen zu schaffen. Dabei geht es eher um Erziehung und Anpassung an Regeln und das bestehende System. Es ist das Ziel aller Herrschenden, Macht über eine apolitische Gesellschaft ohne Bewusstsein auszuüben.

Denkende und hinterfragende Menschen und eine dynamische, bewusste Gesellschaft zu regieren, ist sehr viel schwieriger. Aus diesem Grund versucht das staatliche Bildungssystem Kinder sehr früh aus den Familien zu holen, von der Gesellschaft zu isolieren und sie den eigenen Zwecken entsprechend in Institutionen zu formen. Damit sollen Generationen herangezogen werden, die sich dem Staat beugen. Das hat natürlich nichts mit gesellschaftlicher Bildung zu tun, sondern findet außerhalb der Gesellschaft und zu ihrem Nachteil statt.

Auf Kurdisch heißt Bildung „perwerde“. Bei der etymologischen Untersuchung von Begriffen zeigt sich, dass viele Wörter eine tiefe Bedeutung haben. Auch Wörter haben eine Seele. „Philosophie“ bedeutet „Liebe zur Weisheit“. „Perwerde“ heißt so viel wie „Wissen der Liebe“, aber auch „fliegen“ oder „beflügeln“. Die Weisheit zu lieben, ist in gewisser Hinsicht gut, aber wesentlich ist, zu welchem Zweck Wissen benutzt wird. Auch ein Kapitalist liebt das Wissen. Er sieht es als Stärke und will es zur Vergrößerung seines Kapitals, zur Ausweitung seiner Macht oder für andere egoistische Ziele nutzen. Das heißt, dass die Liebe zur Weisheit keine ganzheitliche Bedeutung hat. Lieben zu können oder zu lernen, verweist hingegen auf Gesellschaftlichkeit, Solidarität und Kollektivismus. Fliegen oder Beflügelung geht in Richtung Freiheit oder das Streben nach Befreiung. Und das sollte der Zweck gesellschaftlicher Bildung sein. Gesellschaftliche Bildung muss immer das Ziel haben, Menschen zu schaffen, die den Menschen, die Gesellschaft und die Natur lieben, jede Form von Herrschaft und Macht ablehnen, gegen Versklavung aufbegehren, niemals ein Stück der eigenen Freiheit aufgeben und auf ein Leben mit der eigenen Wahrheit beharren.

Der Staat vermittelt keine Bildung, damit die Gesellschaft ein Bewusstsein entwickelt und sich befreit. Die Herrschenden verfolgen das Ziel, ihre Macht zu sichern und zu wahren. Schulen und Universitäten sind Einrichtungen, die Experten und einen professionellen Kader für den Staat ausbilden.

Das Ziel gesellschaftlicher Bildung ist dagegen die Schaffung freier Menschen jeden Alters und Geschlechts auf allen Gebieten. Ein freier Mensch kann nur in einer demokratischen Gemeinschaft existieren. Das organisierte Leben und die eigene Weiterbildung eines freien Menschen finden in einer demokratischen Kommune statt. Isoliert von der Gesellschaft in Einrichtungen des Systems kann es nicht erreicht werden.

Welche Rolle spielt Bildung bei der Entwicklung des Befreiungskampfes und wie bewerten Sie die Beziehung zwischen Bildung und der von Auslöschung bedrohten kurdischen Realität?

Das kurdische Volk ist insbesondere seit dem letzten Jahrhundert von einer kulturellen Auslöschung bedroht. Wir können dazu auch „weißer Genozid“ oder Assimilation sagen. Gleichzeitig haben auch physische Massaker am kurdischen Volk stattgefunden. Beide Formen des Völkermords werden gleichzeitig angewendet. Die Gründungsphilosophie des türkischen Staates basiert auf der Verleugnung und Vernichtung der Kurden. Der kolonialistische türkische Staat ist als Nationalstaat inszeniert worden und birgt von Kopf bis Fuß Faschismus in sich. Alle Nationalstaaten befinden sich im Krieg mit der Gesellschaft, aber der türkische Nationalstaat repräsentiert die gröbste Form davon.

Für eine Gesellschaft ist es ein schlimmer Zustand, wenn ihr das Recht auf Selbstbestimmung genommen und sie in eine Lage versetzt wird, in der sie keine Politik machen, nicht selber denken, sich auseinandersetzen und Entscheidungen für sich treffen kann. Die gegen die Kurden angewandte Völkermordpolitik geht noch weit darüber hinaus. Das kurdische Volk sollte keine Gesellschaft mehr darstellen. Ihm sollten seine Wurzeln entzogen und seine Geschichte genommen werden. Unser gesellschaftliches Gedächtnis wurde verschwommen, es wurde sozusagen vergiftet. Wie unser Land wurde auch unsere eigene Institutionalisierung, die den Körper der Gesellschaft darstellte, besetzt und zersprengt. Das alles wurde als Futter für die Entwicklung einer türkischen Nationalisierung benutzt. Mit diesem Vorgehen, das bis zu einem Verbot unserer Sprache ging, wurde ein derartiger Grad der Entfremdung von sich selbst, der Kultur, Identität, Geschichte und den eigenen Werten erreicht, dass Abdullah Öcalan dazu sagte: „Es gibt kein Individuum mehr, das sich nicht selbst verraten hat.“

Auf dieser Basis ist die PKK entstanden. Die stattfindende Entfremdung konnte nur mit Bildung überwunden werden. Der Kolonialismus hat nicht nur unser Land besetzt, sondern gleichzeitig und in noch gefährlicherer Form auch unsere Köpfe. Um die Kolonialisierung und Besatzung zu beenden, mussten zunächst die in den kurdischen Köpfen errichteten Wachposten niedergerissen werden.

Abdullah Öcalan hat den Kampf der PKK als „Kampf für die Bildung der Kurden“ bezeichnet. Welche Rolle hat die PKK im Prozess der Aufklärung des kurdischen Volkes gespielt?

Die von der PKK angeführte Revolution in Kurdistan kann nicht nur als militärischer und politischer Kampf oder nationale Befreiung betrachtet werden. Das wäre eine sehr unzureichende Definition. Die PKK hat auf einen gesellschaftlichen Wandel gesetzt. Revolutionen, die ohne einen gesellschaftlichen Wandel stattgefunden haben, sind früher oder später gescheitert. Unsere Revolution sieht vor, dass das, was zerstört werden muss, niedergerissen wird und gleichzeitig ein Aufbau stattfindet. Sozialismus, Freiheit, Demokratie, Frauenbefreiung, Gleichberechtigung und ähnliche Punkte können nicht auf einen Zeitpunkt nach der Revolution verschoben werden. Es handelt sich um Entwicklungsprozesse, die heute erkämpft und erschaffen werden müssen. Aus diesem Grund hat die PKK seit ihrer Gründung versucht, sowohl sich selbst als auch die Bevölkerung zu bilden.

Intellektuell zu sein bedeutet nicht, nur über Informationen und theoretisches Wissen zu verfügen oder abstrakte Ideen vorzulegen. Gedanken haben einen Sinn und einen Wert, wenn es eine gesellschaftliche Entgegnung gibt, sie in den praktischen Kampf einfließen, den politischen Prozess nähren und sich dadurch weiterentwickeln. Ansonsten geht es nicht über das Gerede einer Elite oder individualistischer Persönlichkeiten hinaus. In diesem Sinne sind das innerhalb der PKK entstandene und sich im kurdischen Volk entwickelnde intellektuelle Niveau und politische Bewusstsein äußerst fortschrittlich.

Können Sie uns von der Arbeit Ihres Komitees und Ihrem Bildungssystem berichten?

Die PKK ist eine Bewegung der Rückkehr zum eigenen Selbst. Bei unserer Bildungsarbeit geht es darum, die eigenen Wurzeln wiederzufinden und sich darüber selbst neu zu erschaffen. Das Ziel ist nicht, irgendwelches Wissen zu erlangen und auswendig zu lernen.

Der Zweck unserer Bildungsarbeit ist das Zusammentreffen mit der Wahrheit: unsere eigene Wahrheit, die gesellschaftliche Wahrheit, die Realität des Feindes und so weiter. Menschen, die sich selbst kennen, akzeptieren keine Versklavung. In unserer Bildungsarbeit versuchen wir, uns selbst kennenzulernen und zu verstehen.

Unsere Bildungsinhalte basieren auf der Philosophie und dem Paradigma Abdullah Öcalans. Alle Themen werden aus einer ideologischen Perspektive behandelt. Wir versuchen, die gesellschaftliche Natur auf der Grundlage ihrer historischen Entwicklung zu begreifen und ins Bewusstsein zu rücken. Es ist wichtig, jedes Thema unter gesellschaftlichen und historischen Aspekten zu behandeln. Abdullah Öcalan hat bei der Analyse von Persönlichkeiten als Methode festgelegt, dass es nicht um den Moment, sondern um die Geschichte und nicht um eine Person, sondern die Gesellschaft gehen muss, um zur Wahrheit zu kommen.

Unsere Bildungsarbeit findet in zentralen Parteischulen, als Kader-Ausbildung, in Akademien, als militärische Ausbildung, als spezifische Fortbildungen, als Komitee-interne Weiterbildung, als Sprachunterricht und als Bildungsangebote für die Bevölkerung statt. Selbst unter härtesten Kriegsbedingungen wird die Bildungsarbeit nicht unterbrochen. Bildung ist ein wichtiger Teil unseres Kampfes. Sobald er vernachlässigt wird, entsteht eine bedeutende Lücke mit negativen Folgen.

In unserer Bildungsarbeit kommt die Beziehung Lehrer-Schüler nicht vor. Grundlegende Methoden sind Dialoge und Diskussionen. Es gibt keine Unterteilung in Wissende und Unwissende. Niemand nimmt nur passiv als Zuhörer daran teil. Dass sich alle aktiv beteiligen, ist ein grundlegendes Prinzip. Alle tragen das dazu bei, was sie wissen und verstanden haben. Wir ergänzen uns gegenseitig. Für uns geht es nicht um einen Wissensvorsprung. Manchmal kann ein einziger Satz, der aus dem praktischen Kampf oder dem Leben hervorgeht und in schlichter Form zur Sprache gebracht wird, eine große Bedeutung haben und uns viel beibringen. Wissen ist für uns kein Wertmaßstab und wir konkurrieren nicht damit. Unser Ziel ist nicht, dass etwas auswendig gelernt wird, sondern dass es begriffen und verinnerlicht wird. Wir wollen kein Wissen deponieren, sondern es in unsere Persönlichkeiten einfließen lassen und damit eine Veränderung im Denken hervorrufen. Natürlich besteht auch Bedarf nach Wissen. Von der Quantenphysik bis zur Ökologie, von der Entstehung des Universums bis zur Frauenbefreiung versuchen wir zu jedem Thema unsere Auffassungsfähigkeiten zu entwickeln.

Eine weitere wichtige Besonderheit unserer Bildungsarbeit ist die Vielfältigkeit der Teilnehmenden. An unsere zentralen Parteischulen kommen Freundinnen und Freunde aus allen Teilen Kurdistans und allen Arbeitsbereichen. Es nehmen kurdische, türkische, arabische, persische, tscherkessische, deutsche und viele weitere Freundinnen und Freunde teil. Die Zusammensetzung ist fast wie die Gesamtheit der Sprachen und Kulturen. Dadurch können wir uns und die in unseren Arbeitsbereichen auftauchenden Probleme besser kennenlernen und verstehen, außerdem dient es dem Erfahrungsaustausch.

In unserer Bildungsarbeit wollen wir uns selbst entdecken, uns kennenlernen und uns mit uns selbst auseinandersetzen. Schließlich kommen wir alle mit einer Persönlichkeit und einem Denken, das von der kapitalistischen Moderne und unserer Herkunftsgesellschaft geprägt ist, zur Partei. Die uns vom System auferlegten Eigenschaften wollen wir überwinden und hinter uns lassen. Das gelingt uns nur, wenn wir den Mut aufbringen, uns mit uns selbst auseinandersetzen. Deshalb ist ein grundlegendes Thema unserer Bildungsarbeit die Analyse der eigenen Persönlichkeit.