25 Jahre sind vergangen, seitdem Cengiz Ulutürk sein Leben in den kurdischen Bergen verloren hat. Heute wäre er fast 50 Jahre alt. Seine Biografie ist eine Besonderheit in der Geschichte der Guerilla. Vermutlich ist er der erste türkische Internationalist, der sich aus Deutschland der Volkbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK), der Vorgängerorganisation der HPG, angeschlossen hatte. In Berlin hatte er enge Kontakte zu Kurd:innen der PKK-Bewegung, die damals in Deutschland noch nicht verboten war.
Cengiz war Antifaschist, genauer: Er war Mitglied der Antifaşist Gençlik, der „Antifaschistischen Jugend“, er hatte sie mit aufgebaut.
Die meisten Mitglieder von Antifaşist Gençlik kamen aus organisierten türkischen und kurdischen Strukturen. Ende der 1980er Jahre entstanden in vielen großen Städten Gangs migrantischer Jugendlicher. Die Antifaşist Gençlik versuchte diese Gangs zusammenzubringen und zu politisieren. Gemeinsam patrouillierte man in den Vierteln, stellte die räumliche Dominanz der Rechten in Frage.
Logo der Antifa Gençlik, aus: ak wantok (Hg.): Antifa Gençlik. Eine Dokumentation (1988–1994). Münster: Unrast, 2020
Repression
Nachdem der rechtsextreme Politiker Gerhard Kaindl, Mitglied der „Deutschen Liga für Volk und Heimat” und Kandidat der Wählergemeinschaft „Die Nationalen“ im April 1992 nach Auseinandersetzung mit jugendlichen Antifaschist:innen seinen Verletzungen erlag, wurde das politisches Umfeld der Antifaşist Gençlik und die Gruppe selbst verdächtigt. Nach eineinhalb Jahren erfolgloser Ermittlungen stellte sich im November 1993 ein an Schizophrenie erkrankter, siebzehnjähriger Jugendlicher der Polizei. Er belastete die Antifaşist Gençlik und ihr Umfeld, woraufhin vier Jugendliche festgenommen wurden und weitere mit Haftbefehl Gesuchte untertauchten. Cengiz konnte gerade noch einer Festnahme entkommen. Nach einiger Zeit in verschiedenen Verstecken ging er in den Mittleren Osten und schloss sich der ARGK an.
Devrimci Halk Partisi
Anfang der 1990er Jahre waren viele Revolutionär:innen mit türkischer Herkunft vorwiegend von den Universitäten zur PKK gekommen. In der Parteischule in Syrien diskutierte der Vorsitzende Abdullah Öcalan mit ihnen, wie die Revolution in der Türkei jenseits vom Dogmatismus großer Teile der türkischen Linken weiterentwickelt werden könnte. So wurde die Devrimci Halk Partisi (Revolutionäre Volkspartei, DHP) gegründet. In der Türkei breitete sie sich schnell aus. Der türkische Staat reagierte mit Repression; ab 1993 wurden viele Mitglieder festgenommen, sie bekamen hohe Haftstrafen. Ziel war es Angst zu verbreiten. Die Genoss:innen gingen in die Berge.
Als Cengiz zur Guerilla kam, wurde ihm vorgeschlagen sich ebenfalls der DHP anzuschließen, was er mit großer Begeisterung tat. Er war entschlossen, den Kampf von den Kämpfer:innen selbst zu lernen und die Geschwisterlichkeit der Völker im Kampf zu entwickeln.
Er wurde Teil des Guerillalebens und nach einer zweijährigen Ausbildung machte er sich auf den Weg zu kämpfenden Einheiten.
Guerilla
Persönlich habe ich Cengiz nur zweimal für wenige Stunden gesehen, im Januar 1996. Diese Treffen, obwohl so kurz, haben großen Eindruck bei mir hinterlassen. Zu der Zeit hatte er den Kampfnamen Munzur angenommen. Aus meinem Tagebuch:
„Ein Freund aus Deutschland ist auf dem Weg zum Logistikpunkt bei uns vorbeigekommen. Heval Munzur ist Türke und in Berlin groß geworden. Es ist wunderbar, sich mal wieder fließend auf deutsch unterhalten zu können (…). Heval Munzur versteht meine Schwierigkeiten. Die kurdische Kultur war ihm genauso fremd wie mir, als er vor einigen Jahren gekommen ist. In Berlin war er in der Antifa organisiert, kennt also auch die Probleme der deutschen Linken. In der BRD wurde er gesucht. Das war aber nicht der Grund, sich der Guerilla anzuschließen, es war nur ein Auslöser. Es ist offensichtlich, dass er bei der Guerilla glücklich ist. Munzur strahlt eine mitreißende Energie aus und kann es kaum erwarten, in die Kampfgebiete im Norden zu gehen. Sein größter Wunsch ist es, nach Dersim zu gehen, eine der nördlichen Provinzen Kurdistans. Er erklärt mir, dass sie in unserem Gebiet etwa 30 Freund:innen bei der DHP sind, 10 werden im Frühjahr in den Kampf gehen, er wird auch dabei sein.
Was Heval Munzur mir noch mit auf den Weg geben kann, sind seine Erfahrungen: ‚Es ist wichtig, dass du nie so herangehst: ,Keiner versteht mich’. Vielmehr musst du erst mal versuchen, die Realität, aus der die Freund:innen kommen, zu verstehen. Das ist nicht immer leicht, aber du musst bedenken, dass die meisten von ihnen das Leben in Europa nicht kennen.‘“[1] Diesen Ratschlag habe ich mir sehr zu Herzen genommen.
1997 traf ich die türkische Freundin Güneș aus der DHP in Botan wieder. Sie berichtete mir von Heval Munzur. Er sei im Juni 1996 auf dem Weg nach Dersim gefallen. Seine Gruppe war in einen Hinterhalt geraten.
Cengiz’ Leben und Kampf ist ein Gruß an alle, die Widerstand leisten, an die Antifa, die in den Straßen gegen die Faschisten kämpft, an den Guerillawiderstand der Würde und der Menschlichkeit und an alle, die entschlossen sind, den Kampf um jeden Preis für ein Leben in Würde fortzusetzen.
Alle zusammen gegen den Faschismus!
*Anja Flach ist Ethnologin, Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung und lebt in Hamburg. Sie ist Autorin mehrerer Bücher zum Thema Kurdistan und engagiert sich unter anderem für die feministische Organisierung „Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und Demokratische Autonomie”. Von 1995 bis 1997 war sie bei der Guerilla in den kurdischen Bergen und verarbeitete ihre Erfahrungen in den Büchern „Jiyanekê din – ein anderes Leben“ (2003) und „Frauen in der kurdischen Guerilla“ (2007). Auch ist sie Mitverfasserin von „Revolution in Rojava“ (2015), ein Buch, das in zehn Sprachen übersetzt wurde. Dieser Artikel ist eine Kurzversion des Artikels über Cengiz Ulutürk, der im nächsten Kurdistan Report erscheinen wird.
[1] Jiyaneke din – ein anderes Leben, Köln 2003