Bei der Frage, wie mit den Verbrechen des IS umzugehen ist, haben die politischen Verantwortlichen in der Föderation Nord- und Ostsyriens eine klare Haltung: Sie fordern die Errichtung eines Internationalen Tribunals, vor welchem auch die rund 2.000 ausländischen IS-Mitglieder gestellt werden soll. Civaka Azad, das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, fasst im nachfolgenden Beitrag die Auseinandersetzung um die Frage des Umgangs mit den ausländischen IS-Mitgliedern und ihrer Familienangehörigen, die sich in Nordsyrien befinden, zusammen und verweist bei den Diskussionen um die Errichtung eines Tribunals auf das Dossier Bringing ISIS to Justice. Towards an international tribunal in North East Syria des Rojava Information Centers:
Der militärische Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) wurde von der gesamten Weltöffentlichkeit gefeiert. Doch mit dem Sieg über die Territorialherrschaft der Organisation ist das Problem nicht gelöst. Die zentrale ungelöste Frage lautet, was soll aus den gefangenen IS-Mitgliedern nun geschehen. So sehr der Kampf der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) gegen den IS bejubelt wurde, ebenso sehr werden die politischen Kräfte im Norden Syriens nun mit dieser Last alleine gelassen. Doch die gefangenen IS-Mitglieder stellen ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko dar und das nicht nur für die Region des Mittleren Ostens, sondern für die gesamte Welt.
Über 2.000 ausländische IS-Gefangene befinden sich derzeit in den Gefängnissen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien (Autonomous Administration of North and East Syria – kurz AANES). Nicht berücksichtigt in dieser Zahl sind IS-Mitglieder mit syrischer und irakischer Staatsangehörigkeit. Wenn man die Frauen und Kinder der ausländischen IS-Mitglieder hinzunimmt, steigt die Zahl auf rund 14.500 an. Die Verwahrung und Unterbringung dieser Personen stellt die AANES vor großen Herausforderungen. Allein im Camp Hol, in welchem die meisten IS-Angehörigen untergebracht sind, beläuft sich ihre Zahl auf mehr als 11.200. Wenn die internationale Gemeinschaft sich ihnen nicht annimmt, droht hier eine neue Generation des IS heranzuwachsen. Denn der militärische Sieg über die Organisation bedeutet noch lange nicht, dass der Kampf gegen die Ideologie des IS gewonnen ist. Und mit dieser Herausforderung wird die AANES bislang weitgehend alleine gelassen.
Die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien hat bereits in der Vergangenheit vielfach die internationale Staatengemeinschaft dazu aufgerufen, diejenigen IS-Mitglieder mit ausländischer Staatsangehörigkeit in ihre jeweiligen Staaten zurückzuholen. Bislang sind die Antworten auf diese Forderungen weitgehen unbeantwortet geblieben. Auch die deutsche Regierung drückt sich bislang vor ihrer Verantwortung. Die Verantwortlichen aus Nordsyrien beziffern die Zahl der IS-Mitglieder und ihrer Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit auf mindestens 183. Ob sich die Haltung der deutschen Bundesregierung nach dem jüngsten Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zur Rückholung der IS-Angehörigen ändern wird, bleibt zweifelhaft. Die Bundesregierung bückt sich bislang mit dem Verweis auf das Fehlen diplomatischer Beziehungen zur Föderation Nordsyrien weg. Allerdings haben einige andere Staaten, darunter Frankreich, die Niederlande, die USA oder Russland vorgemacht, dass die Rückführung ihrer Staatsangehörigen doch möglich ist.
Eben weil sich die internationale Staatengemeinschaft vor ihrer Verantwortung drückt – denn die bisherigen erfolgreichen Rückführungen betrafen praktisch keine aktiven IS-Mitglieder, sondern vor allem ihre Kinder und Frauen – hat die AANES den Vorschlag für die Errichtung eines internationalen Sondertribunals in Nordsyrien zur IS-Mitglieder unterbreitet. Dieser Vorschlag findet auch die breite Unterstützung der Opfer des IS, die sich letztlich vor Ort befinden. Die internationale Koalition im Kampf gegen den IS ist gefragt, ihrer Verantwortung in dieser Sache gerecht zu werden. Ohne dass die Verbrechen des IS im Angesicht ihrer Opfer aufgeklärt werden, kann es keinen nachhaltigen Frieden in der Region geben. Ob ein solches Tribunal errichtet werden kann, ist eine Sache des politischen Willens. Besteht der Wille, den IS nachhaltig zu zerschlagen und die Kinder der IS-Mitglieder wieder für die Gesellschaft zurückzugewinnen? Oder nimmt man willentlich in Kauf, dass der Nährboden für diese Organisation weiterhin fruchtbar bleibt und somit vielleicht schon in den nächsten Jahren ein neuer IS sich verantwortlich für neue Verbrechen zeichnet? Dieser Frage muss sich die internationale Gemeinschaft stellen und entsprechend eine klare Haltung einnehmen. Wie dringend die Beantwortung dieser Frage ist, wird an den politischen Gefahren deutlich, welcher die Föderation Nord- und Ostsyriens derzeit ausgesetzt ist. Die Türkei und ihnen untergebene islamistische Milizen stellen ebenso eine Gefahr für die Stabilität der Region dar wie untergetauchte IS-Zellen in der Region, die sich weiterhin praktisch täglich für Anschläge gegen die Sicherheitskräfte und Zivilisten verantwortlich machen. Selbst eine militärische Konfrontation mit dem Assad-Regime ist nicht auszuschließen, sollte es zu keiner politischen Einigung in Syrien kommen. Die Verantwortlichen der Föderation machen deshalb immer wieder deutlich, dass eine militärische Eskalation mit einer deutlichen Schwächung der Sicherheitslage einhergehen würde. Und das wäre letztlich der perfekte Nährboden für ein Wiedererstarken des IS oder ähnlicher radikal-islamistischer Strukturen.
Um die Optionen für die Errichtung eines internationalen Tribunals in Nordsyrien zu diskutieren, hat das Zentrums für strategische Studien Rojava (NRLS) vom 6. bis zum 8. Juli eine dreitägige internationale Konferenz in Nordsyrien veranstaltet. Hierzu hat das NRLS vorab ein ausführliches englischsprachiges Dossier mit dem Titel „Bringing ISIS to Justice – Towards an international tribunal in North East Syria” veröffentlicht, das unter folgendem Link abrufbar ist: