Tod auf dem Schwarzmeer

Vor 100 Jahren wurden Mustafa Suphi, Ethem Nejat und weitere Gründer der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) auf Anordnung der türkischen Führung vor Trabzon im Schwarzen Meer ermordet.

Unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution hatten sich auch in Anatolien kommunistische Gruppierungen gebildet. Auch Teile der von Mustafa Kemal geführten Befreiungsbewegung gegen die Aufteilung der Türkei unter die Westalliierten und ihre Verbündeten Griechenland und Armenien betrachteten die Bolschewiki als Vorbild und Partner im Kampf um nationale Unabhängigkeit. Im Anschluss an den von der Kommunistischen Internationale im aserbaidschanischen Baku veranstalteten „Kongress der Völker des Ostens“ gründeten 74 Delegierte am 10. September 1920 die Kommunistische Partei der Türkei (TKP). Die TKP war ein Zusammenschluss von 15 Organisationen, deren bedeutendste eine von Mustapha Suphi im Kaukasus gebildete Gruppe ehemaliger türkischer Kriegsgefangener, die in Istanbul aktive Sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei und die von Salih Hacioglu geführte Türkische Volkskommunistische Partei in Ankara waren. Suphi wurde zum Vorsitzenden der Partei gewählt und Ethem Nejat, ein Mitkämpfer des Spartakusbundes in der deutschen Novemberrevolution, zu ihrem Generalsekretär.

Kampf um Befreiung

Suphi trat Tendenzen innerhalb der Partei entgegen, die auf eine sofortige sozialistische Revolution in dem Agrarland mit wenigen zehntausend Industriearbeitern setzten. Er grenzte sich zugleich von ehemaligen Jungtürken innerhalb der Partei ab, die im Namen der „Einheit der Nation“ den Klassenkampf verwarfen. In einem Manifest rief die TKP zur aktiven Unterstützung des Befreiungskampfes der Türkei auf. Obwohl von der Bourgeoisie geführt, sei dieser Kampf objektiv revolutionär und im Interesse des türkischen und internationalen Proletariats, da er den Weltimperialismus schwäche.

Das Zentralkomitee beschloss, seinen Sitz in das Zentrum des Befreiungskrieges nach Ankara zu verlegen. Nachdem die Partei am 20. Dezember eine zustimmende Antwort der türkischen Regierung erhalten hatte, brachen Suphi, Nejat und 13 weitere Kommunisten auf, um Mustafa Kemal die Unterstützung der „Roten Division“ anzubieten.

Doch inzwischen waren die Kemalisten dazu übergegangen, konkurrierende Strömungen innerhalb der Befreiungsbewegung auszuschalten. So kämpfte neben der kemalistischen Befreiungsarmee auch eine vielfältige Partisanenbewegung gegen die Okkupation. Eine von kommunistischen Revolutionären mitinitiierte „Grüne Armee“ verband urislamische ethische Normen mit sozialrevolutionärem und pantürkischem Gedankengut. Das Rückgrat ihrer Truppe bildete der ehemalige Brigantenführer „Ethem der Tscherkesse“ mit seinen 3000 Kriegern. Mit ihrer Forderung nach einer Landreform fand die Grüne Armee, die in der Nationalversammlung über eine einflussreiche Fraktion verfügte, Zustimmung unter der bäuerlichen Bevölkerung. Dorfkomitees begannen in einigen Gegenden, das Land auf eigene Faust aufzuteilen. Die Mehrheit in der Nationalversammlung, die einen Block der nationalen Bourgeoisie mit dem patriotischen Teil der Großgrundbesitzer vertrat, war nicht bereit, eine Doppelherrschaft auf dem Land zu dulden und zwang die Grüne Armee im September 1920 zur Selbstauflösung. Als sich Ethem, der eng mit den Kommunisten kooperiert hatte, dem Beschluss zur Eingliederung der Partisanenverbände in die Armee gewaltsam widersetzte und schließlich zu den Griechen überlief, bot dieser Verrat den Kemalisten einen Vorwand zur Repression gegen die sozialrevolutionären Kräfte. Salih Hacioglu und weitere Aktivisten der Linken wurden im Januar 1921 inhaftiert. Um dennoch politische Militante der Grünen Armee einzubinden und gegenüber Moskau eine scheinbare Sympathie für den Kommunismus zu signalisieren, ließ Mustafa Kemal eine staatlich finanzierte Offizielle Kommunistische Partei gründen, die Panturkismus und „nationalen Kollektivismus“ als Weg zum Kommunismus pries.

Partisanen einer neuen Welt – eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in der Türkei“ – so lautet der Titel eines Buches von Nikolaus Brauns und Murat Çakır, das 2018 im Berliner Verlag Buchmacherei erschien. Das Werk schildert neben der Geschichte von Mustafa Suphi und seinen Freunden den Werdegang der Linken in der Türkei und ihrer Organisationen vom ausgehenden Osmanischen Reich bis in die Gegenwart, in Wechselwirkung mit der politischen und sozioökonomischen Entwicklung des Landes. Foto: Ethem Nejat (l.) und Mustafa Suphi

Als Suphi und seine Genossen Ende Dezember 1920 die russisch-türkische Grenze überschritten, hatte die Regierung in Ankara angesichts der zugespitzten Auseinandersetzungen innerhalb der Nationalbewegung bereits beschlossen, die Gruppe wieder zurück nach Baku zu schicken. In Kars wurden sie zwar am 28. Dezember vom Kommandanten der östlichen Front, General Kazim Karabekir, offiziell empfangen. Doch gleichzeitig stachelten die Militärs gemeinsam mit der „Gesellschaft zur Verteidigung der Heiligen Plätze“ die Bevölkerung zu antikommunistischen Demonstrationen gegen die „Gottlosen“ auf. So hoffte Karabekir, die kommunistische Delegation ohne Brüskierung der Sowjetregierung zu vertreiben. Auch in Erzurum und schließlich in der Schwarzmeerstadt Trabzon wurden die Kommunisten von einem aufgehetzten Mob mit Rufen und Steinen attackiert. So akzeptierten sie das Angebot des Chefs der Bootsführergilde, Yahya Kaptan, eines engen Unterstützers von Enver Pascha, mit einem Schiff in Sicherheit gebracht zu werden. In jener Nacht zum 29. Januar 1921 wurden Suphi, Nejat und ihre 13 Genossen auf heimtückische Weise ermordet und ihre Leichen ins Wasser geworfen. Suphis russische Frau Maria war vor Abfahrt der Schiffe von der Gruppe getrennt worden. Sie wurde von Yahyas Bande versklavt, vergewaltigt und in den Tod getrieben. Inwieweit Yahya auf höheren Befehl aus Ankara handelte, ist nicht bekannt. Als er unter Mordverdacht auszupacken drohte, wurde Yahya selber im Gefängnis umgebracht. Das Auslandsbüro des ZK der TKP in Baku benannte die kemalistische Regierung als »die eigentliche Urheberin dieses Verbrechens« und forderte von der Kommunistischen Internationale Solidarität, „dass die Henker erhängt werden, damit dies große Verbrechen nicht ungestraft und ungesühnt bleibt“.

Repressionswelle

Doch ohne ein Wort zur Ermordung der türkischen Kommunisten zu verlieren, schloss die Sowjetregierung am 16. März 1921 mit der Türkei einen aus der gemeinsamen Gegnerschaft gegen den britischen Imperialismus erwachsenen „Freundschafts- und Brüderlichkeitsvertrag“. Aus außenpolitischen Erwägungen Sowjetrusslands wurden die Kommunisten in der Türkei nun zur politischen Unterordnung unter die bürgerliche Nationalbewegung angewiesen. Dies war ein Bruch mit den von Lenin verfassten Leitsätzen der Komintern zur Nationalitäten- und Kolonialfrage, die bei zeitweiligen Bündnissen mit der revolutionären Bewegung der rückständigen Länder die Aufrechterhaltung des selbständigen Charakters der proletarischen Bewegung – „sei es auch in ihrer Keimform“ – forderten.

Unmittelbar nach ihrem durch sowjetische Waffenlieferungen ermöglichten Sieg über die Griechen leiteten die Kemalisten im Herbst 1922 eine erneute antikommunistische Repressionswelle ein. Schließlich diente ein kurdischer Aufstand 1925 als Vorwand für das bis heute gültige Verbot aller kommunistischen Betätigungen. Innerhalb der Komintern fand zu keinem Zeitpunkt eine kritische Aufarbeitung ihrer frühen Türkei-Politik statt. Dies ist eine Ursache dafür, dass sich große Teile der türkischen Linken bis heute nicht vom Kemalismus lösen konnten.


Mustafa Suphi

Mustafa Suphi wurde 1883 in Giresun geboren. Nach einem Jura-Studium in Istanbul promovierte er ab 1905 an der École des Sciences politiques in Paris. In Frankreich stand Suphi der jungtürkischen Reformbewegung nahe, die sich für eine konstitutionelle Monarchie in der Türkei einsetzte. Nach seiner Rückkehr in die Türkei arbeitete er ab 1910 als Lehrer. 1912 brach Suphi endgültig mit dem seit seiner Machtübernahme in der bürgerlichen Revolution 1908 zunehmend nationalistisch und autoritär auftretenden jungtürkischen „Komitee für Einheit und Fortschritt“. 1913 wurde Suphi im Rahmen einer Verhaftungswelle gegen Oppositionelle nach der Ermordung des jungtürkischen Großwesirs Mahmut Sevket Pascha zu 15 Jahren Exil in Sinop verurteilt. Von dort gelang ihm 1914 die Flucht nach Russland. Als Kriegsgefangener nach Kriegsausbruch in den Ural verbannt, schloss sich Suphi dort 1915 den Bolschewiki an. Nach der Oktoberrevolution arbeitete er als Sekretär des tatarischen Bolschewisten Mir-Said Sultan Galiew sowie als Leiter der orientalischen Sektion im von Stalin geführten Volkskommissariat für Nationalitäten. Mit einer aus türkischen Kriegsgefangenen gebildeten „Roten Division“ kämpfte Suphi an der Seite der Roten Armee im Bürgerkrieg. 1919 nahm er am Kongress der Kommunistischen Internationale teil und gründete die erste türkischsprachige kommunistische Zeitung Yeni Dünya (Neue Welt). Das Zentralkomitee der von Suphi gebildeten türkischen kommunistischen Gruppe siedelte 1919 von der Krim nach Baku über, um von dort aus die Partei in der Türkei aufzubauen. Auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei der Türkei am 10. September 1920 in Baku wurde Suphi zum Vorsitzenden gewählt. Gemeinsam mit 14 seiner Genossen wurde er in der Nacht auf den 29. Januar 1921 von Kemalisten ermordet.

*Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors; Historiker und Journalist Dr. Nikolaus „Nick“ Brauns .