Solidarität ohne Abdullah Öcalan?

Bilder von Öcalan werden vom deutschen Staat nicht deshalb verboten, weil die Gesellschaft vor dem Führerkult geschützt werden soll, sondern weil seine Ideen als Bedrohung für das herrschende System wahrgenommen werden.

Wie viele von uns haben unzählige Podiumsveranstaltungen zu verschiedensten Themen schon hinter sich gebracht. Mit Vorträgen und Demonstrationen zu der kurdischen Bewegung wurde das Konzept des demokratischen Konföderalismus mit all seinen Erfahrungen und praktischen Beispielen wie die Selbstverwaltungsstrukturen in Bakur vorgestellt, die seit 2005 von der Bevölkerung umgesetzt wurden und durch systematische und kontinuierliche Angriffe vom türkischen Regime, durch Repressionen und Festnahmen der Zivilbevölkerung, der Aktivist*innen, Bürgermeister*innen, Student*innen und Abgeordnete, vernichtet worden sind.

Oder die Errungenschaften in Camp Mexmûr in Südkurdistan, ein Ort der vielen unbekannt ist, der sich jedoch seit mehr als 20 Jahren selbst verwaltet. Die Frauenrevolution in Rojava und der Föderation Nord- und Ostsyrien, die unter ständigen ideologischen und militärischen Angriffen durch die direkte Offensive der Besatzungsmacht Türkei steht.

Oder die Aufdeckung der Haltung der NATO-Mitglieder, die eine scheinheilige Politik der Enthaltung und für die Verschleierung der Menschen und Völkerrechte in Gebieten des Nahen-Mittleren Osten sorgen, nach dem Motto: „Solange die eurozentristischen Rechte unserer Bürger nicht verletzt werden, sehen wir keinen Grund zur Aufrechterhaltung der globalen Menschenrechte.“

Oder von den Repressionen, die sich in Europa gegen alle Menschen auswirken, die in Bezug auf die kurdische Bewegung Solidaritätsarbeit leisten. Um konkret zu werden, viele von uns kennen die Räume, in denen über diese vielen Errungenschaften und positiven Beispiele einer Alternative diskutiert werden und Menschen sich damit identifizieren. Aber die wohl wichtigste Person dabei, Abdullah Öcalan, der Vordenker dieser Umsetzungen, wird außen vorgelassen.

Ein Angriff auf allen Ebenen

Die kurdische Bewegung wird in allen politischen, gesellschaftlichen, militärischen und ideologischen Ebenen global angegriffen. In vielen Kreisen, in denen wir uns bewegen, ist die Repression allen bewusst. Linksradikale, autonome Gruppen und alle, die sich selbst definieren möchten, setzen mit der kurdischen Bewegung ein Zeichen, wenn auf Demonstrationen die Bilder und Flaggen von der YPG/YPJ, der PYD oder die der revolutionären Sara – Sakine Cansiz verboten werden. Das ist eine starke Haltung, um Repressionen kommunal aufzufangen.

Was ist aber mit der Haltung, sobald in Vorträgen auf den Repräsentanten der kurdischen Bewegung, Abdullah Öcalan, Bezug genommen wird? Oder die Haltung, wenn auf Demos, sobald kurdische Frauen* „Bijî Serok Apo“ rufen, was ebenfalls verboten ist, etwas anderes zu rufen? Was ist mit den unsicheren Blicken und der Stummheit in den eigenen Reihen? Warum wird gegen das Verbot dieser Fahnen etwas unternommen, jedoch gegen die von Öcalan nichts? Haben die denn nichts miteinander zu tun? Wo und warum fangen wir an zu selektieren?

Kulturell bedingter Führerkult?

Es wird oft Kritik gegenüber Aktivist*innen der kurdischen Frauenbewegung und dem Frauenbefreiungskampf geäußert. Beispielsweise wird kritisiert, dass sie in den Reden Bezug auf Abdullah Öcalan nehmen, auf 8.-März-Demos seine Fahnen hochhalten und die Vereine und Veranstaltungen mit seinen Bildern füllen. Und der Frage „Frauenbefreiung schön und gut, wie kritisch steht ihr denn zum Führerkult und dazu, dass ihr aus der feministischen Perspektive einen Mann glorifiziert?!“ kann man ohnehin auch nicht entkommen.

Diese Aussagen und diese Frage decken sehr gut die eurozentrisch feministische Perspektive und Denkweise gegenüber der kurdischen Frauenbewegung auf. Zum einen wird mit dieser Aussage allen kurdischen Frauen und der kurdischen Frauenbewegung, die seit Jahren Widerstand gegen rückständige, sexistische und patriarchale Strukturen leisten, von einer weißen eurozentrischen Perspektive vieles abgesprochen, wie zum Beispiel nichts über den „Führerkult“ des dominanten Mannes zu wissen. Denn es ist ja schließlich kulturell bedingt, dass die „anderen“, nicht weißen Frauen*, die auch noch aus dem Mittleren Osten kommen, dazu neigen, sich der Unterdrückung des Mannes zu ergeben!

Und zum anderen bedient man sich der eigenen Geschichte und Sichtweise, die als Maßstab für alle anderen Kämpfe genommen wird – die Nazigeschichte mit seinem Führerkult – dies wird als Maßstab für Abdullah Öcalan genommen. Keine*r spricht es offen aus – vorsichtig wird von „Führerkult“ gesprochen, was im Endeffekt den Kurd*innen indirekt zugesprochen wird.

Die Angriffe des Staates gegenüber der kurdischen Bewegung, sei es durch das Tragen von Bildern Abdullah Öcalans, das Rufen von Slogans, all das wird vom deutschen Staat nicht deshalb verboten, weil er die Gesellschaft vor dem Führerkult schützen möchten, sondern weil er Abdullah Öcalan und seine Ideen als eine Drohung und eine Alternative zum eigenen herrschenden System sieht. Hier können wir sagen, dass der deutsche Staat vielmehr als manche Gruppen und Individuen Öcalan verstanden und analysiert hat. Das zeigt sich im Schweregrad der Repressionen wieder. Während Menschen unsicher sind und überlegen, Abdullah Öcalan überhaupt zu erwähnen bzw. offen Bezug zu nehmen, fangen sie an, das Ganzheitliche an ihm – Abdullah Öcalan als Initiator des Demokratischen Konföderalismus und Repräsentant der kurdischen Gesellschaft und Bewegung in allen Teilen Kurdistans und der Diaspora – zu zerstückeln, bedienen sich an ihren Privilegien, um zu entscheiden, wer und was für mich als Individuum unterstützungswert ist. Es ist entweder Rojava ohne Öcalan zu erwähnen, oder die kurdische Frauenbewegung ohne die Bedeutung von Öcalan für sie zu verstehen.

Keine Ahnung von der Gender-Frage?

Gleichzeitig wird der kurdischen Frauenbewegung abgesprochen, keine Ahnung über die Gender-Frage zu haben. Dies zeichnet sich ja schließlich im Alltag der kurdischen Frauen ab – sie sehen Öcalan, einen Cis-Mann, als ihren Vordenker der Frauenbewegung und der Jineolojî, der Wissenschaft der Frau! Wie paradox! Und sie nennen sich eine geschlechterbefreite, ökologische, demokratische und freiheitliche Bewegung!?

Das Paradox der Situation liegt darin, fernab der Ideen und Konzepte der Frauenbefreiungsideologie die kurdische Frauenbewegung auf das männliche Geschlecht zu reduzieren. Abdullah Öcalan wird auf seinem Geschlecht als Mann reduziert, was zu einer eingeschränkten und kurzsichtigen Einsicht der Realität führt – und zeigt parallel die dogmatische Haltung, sich ständig nur am Geschlecht des Mannes abzuarbeiten und eine ablehnende Haltung einzunehmen. Die Mentalität der dominanten und toxisch-hegemonialen Männlichkeit wird dem Geschlecht zugesprochen und nicht als eine Mentalität und Haltung verstanden, die gesellschaftlich konstruiert sind. Als sich auf das Geschlecht des Mannes zu fokussieren, müssen die kritischen Stimmen gegenüber Öcalan sich mit seinen Verteidigungsschriften und Ideen auseinandersetzen, die ihn zu dem machen, was er für die kurdische Frauenbewegung ist!

Die Gefängnisinsel Imrali als Tatort

Anders kann keine Solidarität zwischen Frauen* aufgebaut werden, wenn die Haltung der Zu- und Absprechungen über anderen Frauen* nicht überwunden und vernichtet wird. Um die kurdische Frauenbewegung zu verstehen, bedarf es daher einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit den Fragen: Warum spielt Abdullah Öcalan eine so wichtige Rolle für die kurdische Bewegung? Warum bezieht sich eine der fortschrittlichsten Frauenbewegungen der Welt stark auf Abdullah Öcalan? Die Antwort kann doch nicht abrupt sein: weil alle kurdischen Frauen rückständig sind!! Aber genau dieses Gefühl wird durch die verschiedenen ablehnenden Haltungen, die sich rassistisch, sexistisch und eurozentrisch in Verhaltens- und Denkweisen aufzeigen, produziert.

Die momentanen Angriffsdrohungen der Türkei gegen Rojava und die Föderation Nord- und Ostsyrien, auf das Camp Mexmûr und Şengal müssen als einen direkten Angriff auf den Repräsentanten Abdullah Öcalan verstanden werden. Daher dürfen unsere Blickrichtung und unser Aktionismus nicht nur nach Kurdistan gerichtet sein, sondern auch die Insel Imrali muss als ein TATORT betrachtet werden.

Die kurdische Frauenbewegung braucht eine gemeinsame Praxis, die Abdullah Öcalan als einen unverzichtbaren und untrennbaren Denker der kurdischen Gesellschaft sieht. Um genau auf diese Wichtigkeit aufmerksam zu machen, starteten die HDP-Abgeordnete Leyla Güven und weitere dutzende Frauen* in den türkischen Gefängnissen einen Hungerstreik. Ihre Aktion richtet sich gegen die Totalisolation und Haftbedingungen von Abdullah Öcalan. Auch hier in Europa befinden sich seit dem 17. Dezember 15 Aktivist*innen in einem unbefristeten Hungerstreik. Diese Frauen* brauchen in ihrem Kampf und bei der Verteidigung von Abdullah Öcalan eine starke Frauen*solidarität!