Salih Muslim im Gespräch über Abdullah Öcalan

Das erste Mal trafen sich Salih Muslim und Abdullah Öcalan 1984 in Damaskus. Im ANF-Interview spricht Muslim über seine Erlebnisse mit Öcalan, das internationale Komplott und die Reaktion der Bevölkerung von Rojava auf die Verschleppung des PKK-Gründers.

Der kurdische Volksrepräsentant Abdullah Öcalan reiste am 20. Juli 1979 über Kobanê nach Syrien und verbrachte rund 20 Jahre im Mittleren Osten. Während seines Aufenthalts im Libanon und in Syrien nahmen seine Persönlichkeit, Rhetorik, Ideen, Philosophie und seine Erfolge einen großen Einfluss auf die Völker von Rojava, die dem kurdischen Befreiungskampf gegenüber aufgeschlossen waren. Öcalan hatte viele Freunde unter den syrischen Politikern, Parteivorsitzenden, Meinungsführern und Geistlichen, deren Kampf er mit seinen Ideen inspirierte. Einer dieser Politiker, welche die kurdische Befreiungsbewegung und ihren Vordenker kennenlernten und daraufhin ihr Leben der Lösung der kurdischen Frage widmeten, war Salih Muslim, außenpolitischer Sprecher der PYD. Ihm hatte Öcalan mit auf den Weg gegeben, „etwas für die Kurden in Rojava zu tun”. In einem Interview mit ANF sprach Muslim, der zu den Mitbegründern der Partei der demokratischen Union (Partiya Yekitîya Demokrat, PYD) gehört, über seine Erlebnisse mit Abdullah Öcalan, das internationale Komplott gegen den PKK-Gründer und die Reaktion der Bevölkerung von Rojava auf dessen Verschleppung in die Türkei.

Erster Kontakt mit der PKK in Saudi-Arabien

„Die kurdische Befreiungsbewegung lernte ich kennen, noch bevor ich Abdullah Öcalan traf. 1978 begann ich in Saudi-Arabien zu arbeiten. Zwischen 1979-1980 traf ich ein paar PKK-Kader aus Nordkurdistan. Damals waren auch wir auf der Suche. Insbesondere ab 1975, nachdem der Aufstand von Barzanî niedergeschlagen wurde, stellten wir uns immer wieder die Frage: ‚Was wird aus dem kurdischen Befreiungskampf und wie wird er aussehen?‘. Es gab einen Freund aus Semsûr (Adıyaman), er hieß Hüsnü Yorulmaz. Später ging er nach Nordkurdistan und fiel 1987. Durch ihn erhielten wir Schriften. Besonders in der Zeit um 1978 bis 1981 haben wir die Entwicklungen eng verfolgt.

Treffen mit Öcalan in Damaskus

Meinen Jahresurlaub verbrachte ich immer in Syrien. Ich glaube es war 1984, als ich wiedermal nach Syrien kam. Ich ließ Hüseyin Yorulmaz – den wir Ali nannten – wissen, dass ich in Damaskus sein werde. Die Freunde (PKK-Kader) schickten jemanden zu mir nach Hause. Mit ihm fuhr ich los, ohne zu wissen, wohin. In einem Viertel am Rande von Damaskus stiegen wir in die oberste Etage eines vierstöckigen Hauses. Plötzlich erblickte ich jemanden auf den Stufen, der mich begrüßte: Es war Abdullah Öcalan. Es war ein sehr warmes und herzliches Gespräch. So, als würden wir uns bereits seit Jahren kennen.

Öcalan schuf Vertrauen und Hoffnung

Wir unterhielten uns etwa drei Stunden. Ich stellte mich zunächst vor, sagte wer ich bin und woher ich kam. Öcalan tat das gleiche. Er sprach von der Bewegung und versuchte, die verschiedenen Entwicklungen darzulegen. Wir aßen gemeinsam zu Mittag und trennten uns. Es war ungewöhnlich, dass eine Person so aufrichtig war, vor allem bei dem ersten Treffen. Er war sehr herzlich und beeindruckte sein Gegenüber. Seine Haltung und seine Wortwahl waren aufrichtig und innig, er hatte Charisma. Unterhaltungen mit ihm und seine Analysen schufen Vertrauen und Hoffnung bei den Menschen. Er war überzeugt davon, dass es äußerst schwierige Hürden sein werden, die das kurdische Volk zu meistern hatte. Gleichzeitig gab er uns Vertrauen, indem er sagte: ‚Wir können es schaffen und Erfolg haben‘. Er hatte mich tief beeindruckt.

Weitere Treffen

Es blieb nicht bei diesem ersten Treffen. Bei jedem unserer Urlaube besuchten wir ihn. 1991 kehrte ich schließlich nach Syrien zurück. Ab diesem Zeitpunkt trafen wir uns regelmäßig. Ich schrieb für Dengê Kurdistan und übersetzte Texte aus dem Türkischen ins Arabische, hin und wieder auch ins Kurdische. Ich war kein Kader der Bewegung, half ihr jedoch als Freund. Gespräche mit dem Vorsitzenden führten wir mal in Aleppo, mal in Damaskus.

Es gibt Führungspersönlichkeiten, die Befehle erteilen. Öcalan aber fragte jeden um Rat und holte sich unterschiedliche Meinungen ein. ‚Es gibt da eine Sache. Wie sollen wir damit umgehen?‘ fragte er dann. Manchmal beriet er sich sogar mit Kindern. Von 1997 bis 1998 kam es immer wieder an der Grenze zum Süden zu Operationen von der PDK. In diesen Phasen ging es in den Büros, in denen sich Öcalan aufhielt, immer sehr lebendig zu. Es gab Diskussionen. Es mag zwar sein, dass er oft die endgültigen Entscheidungen traf, doch er zog jeden hinzu und band die Menschen in die Lösungssuche mit ein. Öcalan beeindruckte die Leute, mit denen er sprach. Er war aufrichtig, die Menschen verstanden ihn und seine Sprache. Deshalb fragten sie sich nach Gesprächen mit ihm immer wieder: ‚Wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen?‘

Gründung und Bedeutung von MED TV

1995 wurde MED TV gegründet. Wir saßen im Haus der Partei mit dem Vorsitzenden. Auch Freunde der Partei waren anwesend, also das Volk. Bei MED TV lief eine Kindersendung für Kurdisch-Unterricht. Dieses Bild beeindruckte mich enorm. Der Vorsitzende schaute sich mit seinem Volk eine Sendung eines TV-Kanals an, den er quasi selbst gegründet hatte. Es war ein sehr ergreifender Moment, der mir Hoffnung gab. Zu dieser Zeit – es war 1995 – verfügten nicht besonders viele Staaten über Satellitenfernsehen.

Er schätzte seine Freunde

Öcalan legte großen Wert auf die Menschen und seine Freunde. In Momenten, in denen er sprach und du versuchtest, aufzustehen, ließ er es nicht zu. Man fühlte sich wahrhaftig als Mensch neben ihm. Er hatte keine herrische Art, sondern war bescheiden. Ein Bauer, der ihn nicht kannte, hätte ihn für einen ganz gewöhnlichen Menschen gehalten. Menschen, die mit ihm sprachen, fühlten sich ihm verbunden.

Gespräche vor dem internationalen Komplott

Wenige Monate vor dem Komplott wurde darüber diskutiert, wohin man gehen sollte, falls das Land verlassen werden müsste. ‚In die Berge oder nach Europa?‘ lautete die Frage. Niemand wusste, aus welchem Grund diese Diskussion geführt wurde. Wir dachten uns nur: ‚Wohin kann er von hier aus denn hin?‘ Diese Frage stellte sich jeder. Dass ein mögliches Komplott im Raum steht, wussten wir nicht. Er hatte es wahrscheinlich vorausgesehen oder zumindest gespürt. Es wusste, dass irgendetwas im Gang war und bereitete sich vor.

Das letzte Treffen

Unser letztes Treffen mit Öcalan hatten wir am 17. September 1998. Wir waren zu sechst und dachten darüber nach, was wir für die Kurden Syriens tun können. Wir fragten uns, ob wir eine Bewegung initiieren oder eine Partei gründen sollten. Wir wollten etwas tun, deshalb fuhren wir zu ihm. Wir blieben den ganzen Tag, aßen zusammen zu Mittag und diskutierten darüber, was wir machen könnten. ‚Ihr Kurden in Rojava und Syrien müsst euch in jedem Fall organisieren. Schaut nicht zu uns, wir sind nur zu Gast und können jederzeit gehen‘. Er verfolgte nicht den Ansatz, dass wir Kurden Syriens uns darauf beschränken sollten, die PKK zu unterstützen. Er forderte uns auf, dass wir an uns selbst denken und für uns etwas tun sollen. ‚Ihr habt eure Ideen und Erfahrungen. Macht etwas daraus‘, sagte er. Auf dieser Grundlage haben wir versucht, etwas zu tun.

Beginn des Komplotts gegen Öcalan

Wenige Wochen später begann am 9. Oktober das Komplott. Der Vorsitzende verließ Syrien, jeder war besorgt. Wir fragten uns, was passierte und wohin er gehen würde. Es war das erste Mal in der Geschichte von Rojava, dass sich das Volk in diesem Ausmaß zu einem Führer verbunden fühlte. Ich war in Kobanê, es herrschte Unsicherheit. Es war, als hätte jede Familie einen Toten zu beklagen. Jeder war aufgebracht und wütend. Während der Zeit Öcalans in Italien gab es Todesfasten und Selbstverbrennungen.

Bevölkerung von Kobanê strömt zur Grenze

Als das Komplott vom 15. Februar bekannt wurde, hielt es die Bevölkerung nicht mehr aus. Alle Menschen gingen auf die Straße. Als ich davon erfuhr, war ich bei der Arbeit auf dem Feld. Ich hörte gerade Radio, als die Ansage kam: ‚Öcalan wurde gefangen genommen, in zwei bis drei Stunden wird Ecevit eine Erklärung abgeben‘. Als ich das hörte, ging ich sofort nach Hause. Meine Kinder und meine Frau hatten es bereits aus den Nachrichten im Fernsehen erfahren. Sie waren geschockt, also versuchte ich sie zu beruhigen. Am Abend ging ganz Kobanê auf die Straße. Barfüßige Kinder, Frauen und Männer, einfach alle Menschen zogen brüllend durch die Straßen und strömten bis zum Grenzübergang. Die staatlichen Kräfte hatten sich ebenfalls Richtung Grenze bewegt und waren dort in Position gegangen. Wir versuchten, die Menschen zu besänftigen, damit niemand zu Schaden kommt und keine Zusammenstöße ausbrechen.

Öcalan war ein Hindernis

Die Ideologie Öcalans und seine Ideen hätten nicht nur das kurdische Volk, sondern den gesamten Mittleren Osten noch viel stärker beeinflussen können. Aus diesem Grund wurde er als Hindernis vor der Umgestaltung der Region wahrgenommen. Um ihn aus dem Weg zu räumen, wurde das internationale Komplott realisiert. Öcalan hatte eine Vision für die Zukunft und war im ideologischen Sinne eine starke Persönlichkeit. Er hatte eine Partei und eine Guerillabewegung – eine Kraft, die das Gleichgewicht des Mittleren Ostens beeinflusst. Der Kopf dieser Kraft musste verschwinden.

Sie konnten ihn nicht zum Schweigen bringen

Trotz des Komplotts konnte Öcalan nicht zum Schweigen gebracht werden. Mit seinen Schriften, Analysen und Büchern beeinflusst er die Menschen auch von der Insel. Araber, Kurden und andere Völker folgen seinen Ideen. Auf Imrali erarbeitete Öcalan eine Reihe von Lösungsvorschlägen und lieferte langfristige Prognosen. Seine Ideen, Gedanken und Projekte beschränken sich nicht auf die Kurden, sondern sind für alle Völker. Seine Projekte wie der demokratischen Autonomie, die demokratische Nation usw. basieren auf Koexistenz und Geschwisterlichkeit der Völker.

Isolation

Dies ist auch der Grund dafür, weshalb er seit Juli 2011 seinen Rechtsbeistand und seit 2016 seine Familie nicht sehen darf. Die erschwerte Isolation soll die Ausbreitung seiner Ideen und Gedanken verhindern, denn die Menschen werden von ihm beeindruckt und setzen seine Vorstellungen um.

Unsere Aktivitäten unzureichend

Das, was wir tun, reicht einfach nicht. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun. Leyla Güven zum Beispiel handelt nicht für eine Person oder eine Partei, sie handelt für 40 Millionen Kurden. Sie tut das, was wir nicht können. Wir sollten nicht warten. Zwar führen wir sogar in den Dörfern von Rojava Solidaritätsaktionen durch, sind aber dennoch nicht effektiv. Hier in Rojava hat sich bereits ein Revolutionsprozess in Gang gesetzt. Deshalb sollte insbesondere die Stimme unserer Bevölkerung in türkischen Metropolen wie Ankara, Istanbul und Izmir viel lauter werden.

Mobilmachung für Leyla Güven

Unsere Zukunft hängt von dieser Phase ab. Der Feind hat sich bereits mobilisiert, bei uns steht die Mobilmachung weiterhin aus. Von den Dörfern bis in die Städte müssen wir unsere Aktionen überall durchführen. Leyla Güven und ihre hungerstreikenden Freunde sind Pioniere, denen wir kraftvoll zur Seite stehen müssen, damit ihre Stimme überall Gehör findet“.