Russlands Idlib-Taktik und die russischen Fregatten im Bosporus

Der Konflikt zwischen der Türkei und Russland in Syrien verschärft sich weiter. Russland setzt auf einen Multispielplan und die Türkei verbraucht in dem Sumpf, in den sie hineingeraten ist, ihre letzten Spielkarten in der Hand.

Die Ereignisse in den letzten zwei Wochen in Idlib stellen einen der größten Umbrüche in den seit 2011 in Syrien stattfindenden Entwicklungen dar: Den Übergang von einer indirekten Kriegsführung zu einem direkten Krieg.

Die Bezeichnung „Stellvertreterkrieg“, der seit Beginn des Syrien-Kriegs im Umlauf war, wird inzwischen von niemandem mehr verwendet. Wenn es sich also nicht um einen Stellvertreterkrieg handelt, wie soll man diesen Krieg sonst nennen? Um von einem Krieg zwischen Staaten zu sprechen, ist es noch zu früh.

Die syrische Armee setzt sich in Bewegung

Die syrische Armee hat sich in Bewegung gesetzt, um mit russischer und iranischer Unterstützung die ersten Etappen aus dem Sotschi-Abkommen vom 17. September 2018 umzusetzen: Die Säuberung eines 15 bis 20 Kilometer breiten Streifens im Süden und Osten Idlibs von den bewaffneten Gruppen und die Einnahme der Verkehrsverbindung M5 zwischen Aleppo und Damaskus sowie der M4 zwischen Aleppo und Latakia.

Trotz der Einsprüche der Türkei hat die syrische Armee mit ihren Unterstützern erst Maret al-Numan und Saraqib und dann den Westen von Aleppo eingenommen und die Kontrolle über die M5 erlangt. Von den zwölf Beobachtungsposten der türkischen Armee, die entsprechend des Sotschi-Abkommens in der Region errichtet worden sind, waren zehn dadurch umstellt.

Die von Erdogan gesetzte Frist

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan hat eine massive Truppenverlegung nach Idlib veranlasst und den syrischen Kräfte eine Frist bis Ende Februar gesetzt, um sich von den türkischen Beobachtungsposten zurückzuziehen.

Das Ende der Frist rückte näher, aber die syrischen Kräfte und ihre Unterstützer haben sich nicht zurückgezogen, sondern sich nach der M5 auch der M4 zugewendet und weitere Gebiete südlich von Idlib eingenommen.

Erdogans Sotschi und Putins Sotschi

In dieser Zeit stieg die Anspannung zwischen der Türkei und Russland weiter an. Russland beschuldigte die Türkei, die Bedingungen des Sotschi-Abkommens nicht zu erfüllen. Die türkische Seite wiederum erklärte ihre Präsenz in Idlib mit eben diesem Abkommen.

Offensichtlich war das Sotschi, das Erdogan im Sinn hatte, anders als das in Putins Kopf. Putin erhoffte sich von dem Abkommen, dass das gesamte syrische Territorium Stück für Stück wieder unter die Kontrolle des Regimes fällt. Erdogan hingegen ging davon aus, dass Idlib mit dem Sotschi-Abkommen ein Status zugesprochen wird.

Februar ist vorbei, die türkische Armee geht zum Angriff über

Unterdessen ging der Februar zu Ende, aber niemand zog sich zurück. Dabei hatte Erdogan sogar Glück, weil der Februar in diesem Jahr 29 Tage hatte. Aber das reichte nicht. Die türkische Armee verließ mit den bewaffneten Gruppen am 27. Februar die Beobachtungsposten im Süden von Idlib und setzte sich gegen die syrische Armee in Bewegung.

Daraufhin starteten syrische Jets zeitgleich und koordiniert mit russischen Kampfflugzeugen und die zur Operation ausgezogenen türkischen Soldaten wurden angegriffen. Nach offiziellen Angaben sind 36 Soldaten der türkischen Armee ums Leben gekommen, Quellen vor Ort sprechen von über 100 Toten.

War es Russland oder Syrien?

Hier stellt sich die Frage: Wurden die türkischen Soldaten von syrischen oder russischen Flugzeugen bombardiert? Alle Anzeichen sprechen für Russland.

Nach vorliegenden Informationen sind zuerst die syrischen Kampfbomber gestartet. Als sie die russische Airbase Hmeimim bei Latakia erreichten, stiegen auch die russischen Flugzeuge auf. In dem Moment drehten die syrischen Flieger ab und die russischen Jets bombardierten die türkische Armeeeinheit.

Türkische Stellen behaupteten allerdings beharrlich, von Syrien bombardiert worden zu sein. Es war natürlich auch nicht einfach, von einem russischen Angriff zu sprechen, zumal von der NATO und den USA keine hinreichende Unterstützung signalisiert wurde, die über verbale Zusicherungen hinausging.

Die zweite Offensive der Türkei: NATO und Flüchtlinge

Nach dem verheerenden Angriff auf seine Soldaten unternahm der türkische Staat zwei Offensiven: Erstens drückte er den Notfallknopf bei der NATO und den USA, zweitens spielte er die ständig parat gehaltene „Flüchtlingskarte“ aus, um den Westen unter Druck zu setzen.

Das sind hinreichend bekannte Tatsachen. Verworrener ist jedoch, dass Russland einen Tag nach dem Angriff auf die türkischen Soldaten den Luftraum über Idlib teilweise für türkische Drohnen geöffnet hat. Dass die türkische Armee ihre Leichen mit Hubschraubern abtransportiert, wurde von Russland nicht gestattet. Warum wurden dann einen Tag später türkische Aufklärungs- und Kampfdrohnen zugelassen?

Getroffen wurden vor allem proiranische Gruppen

Um das zu verstehen, geben die Stellen und Kräfte, die von der türkischen Luftwaffe angegriffen wurden, gewisse Anhaltspunkte. Bei einem Großteil handelte es sich um Mitglieder der proiranischen Zeynebiyyun- und Fatimiyyun-Brigaden, der libanesischen Hisbollah und innerhalb der syrischen Armee um proiranische Kräfte von Mahir al-Assad.

Von den Toten gehörten 14 zur Hisbollah und 26 zu der aus Afghanen bestehenden Miliz Fatimiyyun und der aus Pakistanern bestehenden Zeynebiyyun-Brigade. Einer der Toten war Brigadegeneral Burhan Rahmun, Kommandant des 124. Banners der von Baschar al-Assads Bruder Mahir al-Assad kommandierten Republikanischen Garden.

Warum öffnete Russland den Luftraum?

Warum also hat Russland den Luftraum geöffnet? Zu dieser Frage gibt es verschiedene Interpretationen, aber am meisten Gewicht hat die Überzeugung, dass es der russische Multispielplan erforderlich gemacht hat.

Laut einer der Deutungen hat Russland den Luftraum für die türkische Luftwaffe freigegeben, um die Reaktion der Türkei abzuschwächen und eine Intervention der NATO und der USA zu vermeiden.

Die zweite Deutung ist verworrener: Dass zwischen Russland und dem Iran seit langer Zeit ein Tauziehen in Syrien stattfindet, ist kein Geheimnis. Nach dem am 25. Juni 2019 zwischen den USA, Russland und Israel geschlossenen Jerusalem-Abkommen hat diese Anspannung eine neue Ebene erreicht.

Konflikt zwischen Russland und Iran

Russland hat sein Gewicht im syrischen Militär, in der Bürokratie und im Geheimdienst geltend gemacht, was viele Personen zu spüren bekamen, die für ihre Nähe zum Iran bekannt waren.

Israelische Luftangriffe auf proiranische Kräfte in der Umgebung von Damaskus sind mittlerweile zur Routine geworden und Flugabwehrsysteme werden dagegen nicht zum Einsatz gebracht. In der Nacht, in der die türkischen Angriffe stattgefunden haben, hat Israel Luftangriffe auf proiranische Kräfte bei Damaskus durchgeführt.

Der Konflikt zwischen Russland und dem Iran hat zwar noch keine ernste Ebene erreicht, aber ihre Unterschiedlichkeiten sind offensichtlich. Da Russland weiß, dass sich der Iran auf dem Radarschirm der internationalen Mächte befindet, wäre es nicht abwegig, von Zeit zu Zeit auch gegen den Iran offensiv zu werden, um eine Gleichgewichtspolitik zu den USA herzustellen.

Russisches Multispiel

Tatsächlich ist Syrien für Russland ein Multispielfeld, auf dem es viele verschiedene Kräfte an einer Leine halten kann. Russland weiß sowohl die Schwachstellen als auch die starken Seiten der Kräfte vor Ort gut einzuschätzen und bewegt sich dementsprechend. Dabei verweigert sich Russland keiner Taktik, die seiner Strategie dient. Letztendlich will Russland als bestimmendes Element in Syrien die Macht über das Mittelmeer erlangen. Dazu gehört auch die Unterstützung für General Haftar in Libyen.

Russische Fregatten passieren den Bosporus

Zum Thema Mittelmeer gibt es eine weitere Anekdote. Nach dem tödlichen Angriff auf die türkischen Soldaten in Idlib haben zwei russische Kriegsschiffe den Bosporus in Istanbul passiert und sind aufs Mittelmeer gefahren. Die Namen der Fregatten lauteten Admiral Grigorowitsch und Admiral Makarow.

Erdogans Koalitionspartner Devlet Bahçeli hat vor zwei Wochen auf der Fraktionssitzung seiner Partei MHP gesagt: „Niemand soll uns Lügengeschichten erzählen. Wir kennen Russland seit ‚93 Harbi‘ [Osmanisch-Russischer Krieg 1877-1878]. Wir wissen, wem wir die Hand reichen und wem wir die Faust entgegenstrecken.“ Wenn man sich an diese Worte erinnert, erscheinen die Namen der russischen Kriegsschiffe noch bezeichnender.

Unter Stepan Ossipowitsch Makarows Kommando wurde der osmanischen Flotte in dem von Bahçeli erwähnten Krieg ein empfindlicher Schlag versetzt. Iwan Grigorowitsch war der letzte Marineminister im Zarenrussland und zu Beginn des ersten Weltkriegs der erste Kommandant, der die Osmanen im Schwarzen Meer angriff.

In Anbetracht der Kämpfe in Idlib und des Notrufs der Türkei an die NATO und die USA ist die Botschaft Putins, der in den arabischen Medien als „neuer Zar“ bezeichnet wird, an den „neuen Sultan“ Erdogan allzu offenkundig.