PKK-Prozess in Stammheim: Polizeispitzel als Kronzeuge

Seit fast einem Jahr läuft in Stuttgart-Stammheim ein Prozess gegen vier Kurden und eine Kurdin. Rechtsanwalt Axel Oswald äußert sich im Interview zu der Rolle des Kronzeugen, der für die Polizei gearbeitet hat und zunehmend unglaubwürdig geworden ist.

Vor dem Hochsicherheitsgericht in Stuttgart-Stammheim läuft seit dem 16. April 2019 ein Verfahren gegen vier Kurden und eine Kurdin. Sie sind angeklagt der Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ gemäß §§ 129a/b StGB. Außerdem werden sie der Freiheitsberaubung, versuchten Nötigung, gefährlichen Körperverletzung und des erpresserischen Menschenraubes beschuldigt. Drei Angeklagte befinden sich seit ihrer Festnahme im Frühsommer 2018 in U-Haft, ein weiterer ist auf freiem Fuß und im Dezember 2019 wurde der Haftbefehl gegen die Kurdin Evrim Atmaca außer Vollzug gesetzt.

Über das Verfahren sprach AZADÎ mit dem Tübinger Rechtsanwalt Axel Oswald, Verteidiger von Agit Kulu, einem der Angeklagten.

Die Anschuldigungen gegen die Angeklagten sind ja erheblich und werden in einen Zusammenhang gebracht mit einer angeblichen Unterstützung der PKK bzw. einer Mitgliedschaft gem. §§129a/b. In diesem Verfahren tritt auch Ridvan Özdemir als Zeuge der Anklage auf, der sich als „langjähriges Mitglied der PKK“ bezeichnet. Welchen „Lohn“ hat er Ihrer Kenntnis hierfür erhalten und wie belastend waren seine Aussagen für die Angeklagten?

Wie bereits öffentlich bekannt ist, basiert die Anklage der Bundesanwaltschaft in den wesentlichen Anklagepunkten auf den Behauptungen eines Zeugen der Anklage, der nach seinen Angaben für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) tätig gewesen sein soll. Während dieser Zeit hat er teilweise für die deutsche Polizei gearbeitet und sein angebliches Wissen über die PKK offenbart. Deshalb – es könnte hier von Belohnung gesprochen werden – befindet sich der Kronzeuge nunmehr im Zeugenschutzprogramm des Landeskriminalamtes, wo er sich mit neuer Identität an unbekanntem Ort aufhält und inzwischen auch einen sicheren Aufenthaltsstatus bzw. möglicherweise sogar die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hat. Dieser „Kronzeuge“ überzieht die angeklagten Menschen mit den eingangs genannten strafrechtlichen Vorwürfen, insbesondere seiner angeblichen Entführung und angeblichen Drohungen zur Herausgabe von Geld und Unterlagen, welche der PKK gehören sollen und die er für sich behalten haben soll. Falls diese Vorwürfe im Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart bestätigt würden, drohen den Angeklagten Freiheitsstrafen von jedenfalls über fünf Jahren.

Inzwischen stellte sich allerdings durch die vielfach widersprüchlichen und damit größtenteils unglaubhaften Angaben des Zeugen in der Hauptverhandlung heraus, dass er in den wesentlichen Anklagepunkten lügt und er insbesondere seine Rachegefühle gegenüber vermeintlich politisch aktiven Kurden und Kurdinnen befriedigen will.

War es den Verteidiger*innen in gleichem Umfang wie der Anklage möglich, den Kronzeugen zu befragen und „ins Kreuzverhör“ zu nehmen?

Erschwerend ist, dass der Kronzeuge seine Aussagen nach kurzer Befragung durch die Verteidigung insgesamt verweigert hat und dadurch der umfangreichen und noch offenen kritischen Befragung durch die Verteidigung nicht mehr ausgesetzt werden kann.

Der Prozess läuft nun fast ein Jahr. Werden die Vorwürfe und Beschuldigungen der Anklage seit Beginn der Hauptverhandlung genauso aufrechterhalten oder hat sich im Laufe des Prozesses hieran etwas geändert? Denn immerhin wurde der Haftbefehl gegen Evrim A. außer Vollzug gesetzt.

Die Verteidigung arbeitet natürlich an dem Ziel, trotz dieser komplizierten Umstände, eine möglichst niedrige Verurteilung für die Angeklagten zu erreichen und daran, bald zu einer Außervollzugsetzung der noch bestehenden Haftbefehle zu kommen. An der bestehenden Anklage hat sich bisher nichts geändert. Lediglich die Würdigung der Aussagen des Kronzeugen durch das OLG hat sich zu dessen Ungunsten verändert. Dies führte schließlich dazu, dass der Haftbefehl für Evrim A. außer Vollzug gesetzt worden ist.

Wie lange wird dieser Prozess voraussichtlich noch laufen?

Es ist bislang nicht absehbar, wie lange das Verfahren noch dauern wird. Verhandlungstermine sind vom OLG bis Ende 2020 festgesetzt worden.

Wir möchten noch nach den Haftbedingungen der Angeklagten fragen und danach, wie sie während der Verhandlungen im Gerichtssaal behandelt werden.

Die Untersuchungshaft ist für alle Angeklagten eine sehr starke Belastung, da sie von diversen Einschränkungen betroffen sind. Dies betrifft sowohl den Kontakt mit anderen Gefangenen als auch den Besuchskontakt mit Angehörigen und Bekannten. Die Behandlung unserer Mandanten im Gerichtssaal ist den Umständen entsprechend korrekt.

Am 28. Januar hat der Kassationshof in Brüssel entschieden, dass es sich bei der PKK und deren Volksverteidigungseinheiten HPG nicht um „terroristische“ Organisationen handelt, sondern um eine Partei in einem seit langer Zeit anhaltenden bewaffneten Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung. Wie wirkt sich dieses Urteil auf die Verfahren gegen Kurd*innen in Deutschland aus?

Die Entscheidung des Kassationshofes in Brüssel vom 28. Januar 2020, wonach die PKK nach belgischem Anti-Terror-Gesetz keine terroristische Organisation ist, sondern im Gegenteil, eine Partei in einem bewaffneten kriegerischen Konflikt darstellt, ist sicherlich ein Meilenstein in der belgischen Rechtsprechung. Allerdings kann das dortige Urteil nicht als zu beachtende Entscheidung in hiesigen Verfahren herangezogen werden, da sie lediglich von einem nationalen belgischen Obergericht getroffen wurde. Trotzdem liefert sie gute Argumente auch für die Verteidigung in Deutschland.

Könnte Ihrer Meinung nach die – wie wir finden – wichtige Entscheidung einen Einfluss auf die deutsche Politik haben?

Die Frage, ob diese Entscheidung Einfluss auf die deutsche Politik in Bezug auf die PKK und damit auch in Bezug auf die Türkei haben wird, kann ich unter Berücksichtigung der politischen Interessen der deutschen Regierung nur mit „Leider nein!“ beantworten. Die deutschen Interessen an einem „Good Will“ des islamfaschistischen Regimes Erdoğans sind zu groß, als dass hier Optimismus angebracht wäre. Diese Haltung deutscher Türkeipolitik wird sich perspektivisch nur über hohen politischen Druck auf Deutschland und möglicherweise über Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verändern lassen.

Kommen Besucher*innen zu den Verhandlungstagen, um den Prozessverlauf zu beobachten?

Aufgrund der schon langen bisherigen Verhandlungsdauer von über 40 Tagen ist der Kreis der Besucher*innen leider eher klein und überschaubar.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview ist erstmalig im Azadî-Infodienst 197 erschienen. Die Publikation des Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland informiert regelmäßig über juristische Verfahren und politische Hintergründe.

Das Titelfoto zeigt Agit Kulu, einen der Angeklagten, im Gerichtssaal.