Lukas Theune ist Rechtsanwalt und hat den kurdischen Aktivisten Hıdır Yıldırım verteidigt, der am 18. Dezember in Berlin zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 9 Monaten ohne Bewährung verurteilt und gleichzeitig aus der Haft entlassen wurde. Der Rechtshilfefond AZADÎ hat mit ihm über Verlauf und Ausgang des Verfahrens gesprochen.
Wessen wurde Hıdır Yıldırım – außer der mutmaßlichen Mitgliedschaft in der PKK – konkret beschuldigt?
Es gab keine konkret gegen ihn erhobenen Vorwürfe außer dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der PKK. Herr Yıldırım soll von August 2013 bis April 2014 das PKK-Gebiet Sachsen geleitet haben. Dort soll er Demonstrationen und die Teilnahme an Festivals organisiert haben – mehr nicht.
Seit den Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) von 2013 werden §§129a/b-Verfahren gegen kurdische Aktivisten vom Generalbundesanwalt zumeist nicht mehr selbst geführt, sondern an die (General-)staatsanwaltschaften der Länder abgegeben. Das Ziel der Oberlandesgerichte wiederum scheint zu sein, möglichst „kurzen Prozess“ zu machen, weil es angeblich nichts mehr zu klären gibt. War das auch der Fall im Verfahren gegen Hıdır Yıldırım?
Genauso war es auch hier. Der Senat hatte bereits zwei Verfahren – 2016 und 2017 – gegen Beschuldigte wegen PKK-Mitgliedschaft geführt. Er ging von Anfang an davon aus, dass es ein kurzer Prozess werden würde und es nichts mehr zu klären gäbe, weil dem Senat ja alles schon bekannt war. Dabei wurde erneut deutlich, dass weder das Bundeskriminalamt noch der bei den Gerichten beliebte Gutachter Dr. Posch von der Militärakademie Wien beispielsweise den Inhalt der Friedensgespräche von 2013 bis 2015 aufgeklärt haben. Die Verteidigung hatte hierfür angeboten, den nach Deutschland geflohenen Abgeordneten der HDP, Hatip Dicle, als Zeugen zu laden, damit dieser über Details der Friedensverhandlungen, an denen er selber beteiligt war, berichten könne. Das hat den Senat leider nicht interessiert.
Was würden Sie sagen, waren die Besonderheiten in diesem Prozess? Hat sich der Senat mit den politischen Entwicklungen in der Türkei auseinandergesetzt, mit den massiven Menschenrechtsverletzungen, den Tausenden von Gefangenen, eklatanten Rechtsverstößen oder mit den dennoch fortgesetzten deutschen Waffenlieferungen an die Türkei ?
Leider nur in völlig unzureichendem Maße. Das Besondere war, dass Herr Yıldırım nicht nur Kurde, sondern auch Alevit ist. Er stammt aus Dersim. Die alevitischen Kurden gerade aus der Region Dersim waren und sind einer doppelten Unterdrückung ausgesetzt. Die Verteidigung hat dazu einen 60-seitigen Antrag gestellt und auch einen Zeugen hierfür, den Berliner Ethnologen Peter Bumke, selbst zum Verfahren geladen. Das war sehr aufschlussreich für alle Anwesenden – der Senat hat sich den Erkenntnissen des Zeugen aber überwiegend verweigert und nur wenige Punkte als „allgemeinkundig“ bezeichnet.
Zu welchen Themenkomplexen hatten Sie Anträge gestellt und wurde irgendeiner vom Senat und der Staatsanwaltschaft angenommen oder sind alle abgewiesen worden?
Weitere Anträge haben wir gestellt beispielsweise zur Unterstützung des IS und anderer islamistischer Gruppen in Syrien durch die Türkei. Hier hat der Senat gesagt, dass auch dies allgemein bekannt sei. Auch zu der Praxis der „Verschwundenen“ und der Morde durch „unbekannte Täter“ hat das Gericht die als Zeugin angebotene Rechtsanwältin Eren Keskin leider nicht vernommen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Verteidigung lag auf den Ereignissen während und nach dem Militärputsch von 1980. So wurden die damaligen Morde und die schwere Folter beispielsweise im Gefängnis von Diyarbakir (Hölle Nr. 5 genannt) thematisiert. Dem ist der Senat teilweise nachgekommen. Ziel war es, eine historische Richtigstellung der Ereignisse zu erreichen: Bislang haben die Gerichte immer geschrieben, dass „der türkische Staat die PKK mit großer Härte bekämpfte.“ Die Verteidigung hat demgegenüber nachweisen wollen, dass vielmehr die Entstehung der PKK und die Aufnahme des bewaffneten Kampfes 1984 eine Reaktion auf die Situation in der Türkei unter einer faschistischen Militärjunta waren. Dies ist teilweise gelungen.
Wie ist das Urteil zu verstehen, dass Hıdır Yıldırım zwar zu einer Strafe ohne Bewährung verurteilt wurde, aber Haftentlassung angeordnet wurde? Was war ausschlaggebend hierfür?
Das Gericht hat für eine Bewährungsstrafe relativ unverblümt ein Geständnis gefordert, das Herr Yıldırım nicht abgelegt hat. Er hat sich ziemlich kämpferisch und politisch geäußert. Dennoch war dem Gericht bekannt, dass Herr Yıldırım ein Arbeitsangebot hatte und es auch um seine Gesundheit nicht zum Besten bestellt ist. Wir werden jetzt zunächst Revision einlegen. Sollte die Revision verworfen werden, hat Herr Yıldırım aber Chancen, nach zwei Dritteln der Strafe entlassen zu werden. Da Untersuchungshaft angerechnet wird, müsste er dann nur noch vier Monate im Gefängnis verbringen.
Schlussendlich: Wie bewerten Sie dieses Verfahren juristisch und politisch?
Diese Verfahren sind absurd, und das ist auch allen Beteiligten bekannt, auch den Gerichten. Das Gericht zeigte sich verärgert, dass ich den Prozess gegen Herrn Yıldırım in meinem Plädoyer mit dem gegen Meșale Tolu in der Türkei verglichen habe. Die mündliche Urteilsbegründung klang wie eine Rechtfertigungsrede; das Gericht stellte klar, dass es ja wohl nicht so schlimm hier sei wie in der Türkei und nur wenige kurdische Aktivisten hierzulande verfolgt würden, im Gegensatz zur Türkei. Auf die weitere Parallele, dass die Verfahren nur geführt werden, wenn und wo das Justizministerium, also die Exekutive, dies wünscht, sind sie dann lieber gar nicht mehr eingegangen.
Was glauben Sie, ist erforderlich, um eine künftige Bundesregierung zu einer veränderten Haltung gegenüber der kurdischen Bewegung zu veranlassen, gerade auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Sie mit diesem Prozess gemacht haben, obwohl das Gericht sicher jedweden politischen Charakter bestreiten würde ?
Meines Erachtens haben weder die Bundesanwaltschaft noch die Oberlandesgerichte zurzeit ein großes Verfolgungsinteresse. Auch ihnen ist klar, dass die Situation in der Türkei mit einem Rechtsstaat schon länger nicht mehr vergleichbar ist. In ihrem Plädoyer in dem Verfahren gegen Zeki Eroglu in Hamburg hat sich die Bundesanwältin regelrecht für ihre Arbeit entschuldigt. Die Bundesregierung hat jedoch ein Interesse daran, einerseits der Türkei als Brückenkopf in den so wichtigen Nahen Osten diplomatisch entgegen zu kommen; andererseits gibt es, wie etwa die Verfahren im Kontext der G20-Proteste zeigen, auch ein genuines Interesse der deutschen Behörden, progressive Bewegungen wie die kurdische zu marginalisieren und zu unterdrücken, um damit auch die kapitalistische Marktwirtschaft zu sichern. Das wird sich meiner Meinung nach in naher Zukunft eher nicht ändern.