Wenn man sich dazu entscheidet, ein revolutionäres Leben zu führen, bringt dies viele Veränderungen mit sich. Auch wenn es symbolisch eine Bedeutung hat, so sind es primär Sicherheitsaspekte, aufgrund derer man auch seinen Geburtsnamen hinter sich lässt. Manche Revolutionäre wählen ihren Namen selbst aus, anderen wird er gegeben, wenn sie der Bewegung beitreten. Natürlich wird niemand gezwungen, einen Namen gegen seinen Willen anzunehmen, aber manchmal entstehen neue Identitäten auch einfach aus einer Situation heraus.
Mein Name wurde mir gegeben, als ich das erste Mal nach Rojava kam. Die Freund*innen dort sagten mir: „Wenn du nach einer Stunde keinen Namen hast, geben wir dir einen.“ Im gleichen Atemzug nannten sie mich jedoch „Andok“. Auch wenn ich mir davor schon viele Gedanken um einen möglichen neuen Namen gemacht hatte, nahm ich ihn erst mal an. Ich dachte mir, so einfach wie er mir gegeben wurde, so einfach würde ich ihn wieder ablegen, wenn ich damit unzufrieden wäre.
Ich fragte den Heval, was „Andok“ bedeutet und er antwortete: „Andok ist ein wunderschöner Berg in Kurdistan“. An der Art und Weise, wie er das sagte, war mir sofort klar, dass er keinen blassen Schimmer hatte, geschweige denn, den Berg jemals selbst zu Gesicht bekommen hätte. Das „wunderschön“ hatte er vermutlich nur eingefügt, um mir zu schmeicheln und mir den Namen schmackhaft zu machen. Letztlich spielt es auch keine Rolle. Ich wollte es jedoch genauer wissen und machte mich auf die Suche, um mehr über meinen neuen Namen zu erfahren.
Mount Andok
Eine alte Fotografie von Mount Andok, Quelle: Raymond H. Kévorikan, Paul B. Paboudjian, Les Arménians dans l’Empire Ottoman à la veille du Génocide, Paris, 1992.
Der Mount Andok (38°36‘00.0“N 41°15‘00.0“E) findet sich in Bakur (Nordkurdistan). Er liegt in Pasûr (türk. Kulp), einem Distrikt im Nordosten von Amed (türk. Diyarbakir), einer Provinz der heutigen Türkei. Mit seinen 2830 Metern ist der Mount Andok der höchste Gipfel dieses Bezirks und gleichzeitig der höchste Berg in Südostanatolien. Über eine enge Passage, die „Muş Strait“ genannt wird, verbindet er die beiden Distrikte Pasûr und Muş.
Die Region Pasûr erlangte ursprünglich Aufmerksamkeit als Zentrum der kurdischen Stammesführer. 1993 war das Gebiet unter Kontrolle der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Bewohner, die von der türkischen Regierung verdächtigt wurden, mit der PKK zu sympathisieren, wurden nach Amed umgesiedelt.[1]
Hier, im heutigen Südosten der Türkei, lebt der Großteil der kurdischen Bevölkerung, mit geschätzt rund 20 Millionen Menschen, also einem Viertel der Gesamtbevölkerung der Türkei. Die Kurd*innen lebten schon immer im Südosten des Landes. Durch die vielen Kriege, die anhaltenden Genozidversuche und die Zerstörung tausender kurdischer Dörfer wurden jedoch viele von ihnen gezwungen in den Westen der Türkei, vor allem in die Hauptstadt Istanbul, umzuziehen.
Obwohl das Land vor Jahren mit Wäldern bedeckt war, nahm die grüne Fläche mit der Zeit ab. Eichen dominieren die Oberflora der Vegetation. Es gibt Thymian, Schwarzdorn, Euphorbia, Königskerze und Wiesengräser. Das Gebiet der Region gehört zur zweiten Periode der geologischen Periode und weist eine kalkhaltige und nebelige Struktur auf. Meist dominieren Gesteine wie Boralt, Granit und Granulit. Aufgrund der topografischen Struktur des Landes kommt es vor allem im Frühjahr häufig zu Erdrutschen. Es gibt zwei Seen bei den Dörfern „Uzunova“ und „Özbek“, die erheblich zur Landwirtschaft beitragen. Der Kulp-Strom, der durch den östlichen Rand von Pasûr fließt, der Sakhiran-Strom, der nach Westen fließt, und der Sarum-Strom, der die Kulp-Ausläufer bildet, sind die Hauptflüsse dieser Region. Der Winter ist kalt und Schneereich, der Sommer trocken, tagsüber heiß und kühl in der Nacht. Der jährliche Niederschlag beträgt 1.150 mm. Der meiste Regen fällt im Januar. Die durchschnittliche Regenzeit beträgt 78,5 Tage. Das Klima zwischen Südostanatolien und Ostanatolien ist wechselhaft.
Die armenischen Hochländer
Historisch gesehen gehört der Mount Andok jedoch zum dem Gebiet Qabilcewz (auch Sasun, Sassoun oder Sason), im Westen der armenischen Hochländer. Im Mittelalter nannte man das von hohen Gebirgsketten umringte Hochland „Mishnajhkharh Hayots“.
Im Zentrum der Hochländer, von Ost nach West, erstreckt sich der Gebirgszug „Haykakan Par“ (Inneres Taurusgebirge), zu denen auch der vulkanische Ararat (armen. Masis, kurd. Çiyayê Agirî), mit seinen zwei Spitzen, von denen eine mit 5156 Metern Höhe den höchsten Gipfel in den armenischen Hochländern darstellt, gehört. Der Azat Masis, wie ihn die Armenier auch nennen, ist der heilige Berg und Symbol des Mutterlandes, dem unter anderem auch der achtzehnte Tag des altertümlichen armenischen Kalenders gewidmet ist. Viele Legenden ranken sich um diesen Gipfel. Der Bibel zufolge soll auf diesem Gipfel auch Noahs Arche gestrandet sein. Vom östlichen Ende (Vaspurakan) erstreckt sich das Zagros-Gebirge nach Süden (Armenisches Vulkan-Hochland). Im Süden erstreckt sie der Gebirgszug des armenischen Taurus, zu dessen Gipfeln neben Marutasar oder Maratuk, Tsovasar, Arnos und Artos, auch der Mount Andok gehört.
Das armenische Hochland ist berühmt für seine reichhaltigen Wasservorkommen, weshalb es von der semitischen Bevölkerung, im alten Mesopotamien im zweiten Jahrtausend vor unserer Zeit, „The Land of Rivers“ genannt wurde. Unter anderen haben hier auch die Flüsse Euphrat, Tigris, Yeraskh, Halis, Gaylget, Kur und Chorokh ihre Quelle. Aufgrund der reichhaltigen Ressourcen war dieses Gebiet schon seit jeher von großer ökonomischer und politischer Bedeutung. Sassoun, wie es von den Armeniern genannt wird, spielt aber auch eine prominente Rolle in der armenischen Kultur und Geschichte.
Die Menschen von Sassoun
Die Menschen von Sassoun sind sehr traditionell. Angetrieben aus dem Bedürfnis heraus, sich vor Bedrohungen von außen zu schützen, haben sie sich isoliert und unabhängig von anderen Gebieten in den Gipfeln der Berge niedergelassen. Das dortige Leben basierte auf eigenen Traditionen, Riten, Beobachtungen und Einstellungen, die im Laufe der Jahre auf hiesiger Ebene in außerordentlichem Maße Wurzeln schlugen. Die geografische Lage mit ihrer natürlichen Umgebung und ihrer einzigartigen Erscheinungsform hat das vorherrschende System von Beobachtungen und Ritualen noch stärker gefestigt. Besonders geschätzt waren die zahlreichen Feiertage, an denen die Familien zusammen kamen oder man sich gegenseitig besuchte, um zu feiern, zu singen und zu tanzen. Diese Anlässe wurden auch häufig zum heiraten genutzt.
Die Verbundenheit zur Natur
Die starke Verbundenheit zur Natur, vor allem zum Wasser und den Bergen, zeigt sich in vielen Bräuchen und Sagen, unter anderem auch in der monumentalen armenischen Heldengeschichte „Sassountsi Tavit“ (David von Sassoun; Die Höllenteufel von Sassoun). Die Geschichte erzählt von „Tavit“ (David) und seiner heldenhaften Verteidigung des Landes gegen die Invasion der Ägypter und Perser. In dieser Geschichte wird „Dzovinar“ mit „Sanasar“ und „Baghdasar“ schwanger, nachdem sie zwei Hände voll Wasser einer übernatürlichen Quelle trinkt. Als „Sanasar“ von der gleichen Quelle trinkt, spricht er: „Aznants vortouchour e, ov vor etor agan chour khme, etbes gdridj gelni“ („Dies ist das Wasser der Söhne des Mutes; Wer auch immer das Wasser dieser Quelle trinkt, wird so mutig wie die Mutigen“). „Kourgig Djalali“, „Tavit“s Pferd, wurde aus „Baytogh Aghpur“ geboren, einer Quelle, die dem Mount Andok entspringt. Vor dem entscheidenden Kampf bringt „Kourgig Djalali“ „Tavit“ zu der Quelle „Mher‘s gatnaghpur“ („Quelle aus Milch“), kniet davor nieder und fordert ihn auf, daraus zu trinken.
In den Bergen von Sassoun gibt es viele Quellen, Dampfquellen und Bäche mit wundersamen Namen, wie zum Beispiel „Lousaghpur“ („Quelle des Lichts“), „Gatnaghpur“ („Quelle der Milch“) oder „Otsaghpur“ („Quelle der Schlange“). Die Menschen von Sassoun glauben an die medizinischen und heilenden Eigenschaften dieser Gewässer.
Die Legende des Mount Andok
Der Legende nach befand sich im Inneren des Mount Andok ein See mit flammenden Rössern, die aus seiner Quelle „Baytogh Aghpur“ („Ausbrechende Quelle“) am Fuße des Berges galoppierten, um die Erde und die Sonne in Augenschein zu nehmen. Als sie jedoch die Anwesenheit der Menschen spürten, zogen sie sich schnell wieder in das Innere das Berges zurück.
Der Mount Maratoug war der beliebteste unter den Bergen in Sassoun und das Gebiet am Fuße des Berges wurde häufig von Pilgern besucht, die dort zahlreiche Pilgerstätten errichteten. Eine dieser Pilgerstätten, nämlich „Maroutavank“, besuchen auch „Tavit“ und „Lion Mher“ am Vortag der entscheidenden Schlacht. Die Menschen erzählen sich, dass Mount Andok, der König der Berge, einmal eifersüchtig auf Mount Maratoug wurde und diesen zum Kampf herausgefordert hat. Während dieses Kampfes hat Mount Andok mit einem Hieb seines aus Blitzen bestehenden Schwertes den Kopf des Mount Maratoug getroffen und dabei seinen Gipfel tief gespalten. Aus diesem Grund wird der Berg heute auch manchmal „Choughdag klough Maratoug“ („Maratoug mit den Zwillingsköpfen“) genannt. Als Antwort auf den schweren Treffer hob Maratoug einen großen Felsbrocken und schleuderte ihn Andok entgegen, traf seine Brust und verwundete ihn. Die Leute glauben, dass der „Tati Kharan“ („Tatzenabdruck“), aus dieser Wunde entstammt. Die „Tati Kharan“ befindet sich am Übergang des Mount Andok zum Mount Gepin.
Die Armenier und das Osmanische Reich
Im 19. und dem frühen 20. Jahrhundert war Sassoun auch Hauptschauplatz der armenischen „Fedayi“-Aktionen, die 1894 und 1904 in zwei Aufständen gegen die osmanischen Machthaber und einige kurdische Stämme gipfelten. Die Fedajiner oder auch Hajdukner waren durch Eid verschworene Kampfgruppen der armenischen Landbevölkerung, die sich als „Selbstschutzverbände“ verstanden und bereits 1885 gegründet wurden.
Die Armenier bildeten nach den Griechen die zweitgrößte christliche Minderheit im Osmanischen Reich. Obwohl sie aus osmanischer Sicht als „loyale Tradition“ galten, waren sie dennoch nicht gleichberechtigt. Sie mussten eine zusätzliche, nach dem Vermögen abgestufte Kopfsteuer zahlen, die 1856 durch eine Militärbefreiungssteuer ersetzt wurde. Sie waren rechtlich unterprivilegiert und diskriminierender Behandlung ausgesetzt. Im 19. Jahrhundert befand sich das multiethnische Osmanische Reich im Niedergang. Das erwachende Nationalbewusstsein störte zunehmend das empfindliche Gleichgewicht offizieller Ungleichheit und relativer Toleranz. Der wachsende Nationalismus verstärkte auch die schon lange bestehenden Spannungen zwischen Armeniern und Kurden. Die Ursache dieser Spannungen lag im Streit um die Winterweiden der kurdischen Hirtennomaden in armenischen Dörfern.
Das Massaker von Sassoun
1894 nutzte das Osmanische Reich die Spannungen zwischen Kurden und Armeniern aus, um einige kurdische Stämme aus der Umgebung von Amed zu einem Angriff auf die Armenier zu bewegen. Die als wehrhaft geltenden Armenier konnten die gemeinsamen Angriffe der kurdischen Stämme und der osmanischen Soldaten jedoch zurückschlagen. Im Sommer wuchsen die Spannungen weiter, als sich die Sassoun-Armenier weigerten, die von der Regierung und den verbündeten kurdischen Stammesführern eingeforderte doppelte Steuerlast zu bezahlen. Es kam zum Aufstand. Die osmanische Staatsmacht schlug jedoch mit aller Härte zurück. Türkisches Militär und irreguläre Hamidiye-Einheiten in einer Stärke von etwa 3000 Mann stürmten im August nach mehr als zweiwöchigen blutigen Kämpfen die aufsässigen Dörfer. Sie töteten zwischen 900 und 4000 Armenier und zerstörten 32 der 40 armenischen Dörfer der Region. Diese Spannungen entluden sich in den Jahren 1894 bis 1896 in zahlreichen weiteren Pogromen an den Armeniern. In dieser Zeit wurden schätzungsweise 80.000 bis 300.000 Menschen getötet. Darüber hinaus starben Zehntausende obdachlose Armenier in den Folgejahren durch Hunger und harte Winter. 1897 zählte das armenische Patriarchat 50.000 Waisenkinder. Dennoch fallen die Massaker dieser Jahre „nicht in die Kategorie des Völkermords […] Das Ziel war eine harte Bestrafung, keine Ausrottung.“ [2]
Ein Überlebender des „Sassoun-Massakers“ erzählt:
„Mein Name ist Asadur Giragosian. Mein Zuhause war die sonnige Seite eines hohen Berges [Mt. Andok], in der Stadt Muş. […] Bis 1894 war meine Familie, wie die meisten anderen in Sassoun, sehr angesehen. Die Kurden, die mit uns lebten, waren im Großen und Ganzen freundlich. Dennoch gingen sie regelmäßig ihrer Gewohnheit nach und stahlen uns Rinder und Schafe. Meistens waren wir jedoch in der Lage, unser Eigentum oder gleichwertigen Ersatz bei ihnen wieder zu holen. Meine Familie bestand aus zwölf Mitgliedern und wir hatten viele Rinder und Schafe. Im gesamten Dorf waren 200 Familien, die zusammen ungefähr 15.000 Schafe besaßen. Natürlich besaß jedes der 60 armenischen Dörfer, von denen mittlerweile 42 zerstört sind, im Sassun-Distrikt Rinder und Schafe. […] Im Frühling 1984 begannen die Kurden mehr Schafe und Rinder als gewöhnlich zu entführen. Zur selben Zeit vermutete die Regierung, dass sich viele bewaffnete Revolutionäre in der Gegend Sassoun verstecken und begann nach ihnen zu suchen, konnte sie aber nicht finden. Daraufhin wollten sie einige unserer normalen Bürger verhaften und sie als Revolutionäre nach Muş bringen. Sie sagten: „Ihr habt hier revolutionäre Vereinigungen“. Wir leisteten jedoch Widerstand und konnten sie davon abhalten, unsere Leute mitzunehmen. Wie ich bereits sagte, haben uns die Kurden in diesem Frühling mehrfach attackiert und unsere Tiere entführt. Wir konnten sie jedoch jedes Mal aufspüren und die Tiere befreien, wobei wir ein oder zwei ihrer Leute töteten. Diese begruben wir jedoch, so dass sie sie nicht finden konnten. Zwei Angriffe führten zum gleichen Ergebnis. Beim dritten Mal konnten wir die Getöteten nicht vergraben, worauf sie die Leichen nach Muş brachten und der Regierung zeigten. Es gab einen großen Tumult und die Leute berichteten, dass „die Armenier von Sassoun rebellieren und die muslimischen Anwohner massakrieren“. Weiterhin sagten sie, dass wir „mit Gewehren und Kanonen“ bewaffnet wären. Die türkische Regierung nutzte diese Ausrede und stiftete die Kurden dazu an, die armenischen Dörfler anzugreifen und zu massakrieren. Das versuchten sie dann auch und viele griffen uns an. Unter den Angreifern befanden sich allerdings viele Soldaten, die als Kurden verkleidet waren. Obwohl die angreifenden Kurden von der Regierung gut bewaffnet wurden, konnten wir aufgrund unserer besseren Lage dem Angriff 15 Tage lang standhalten. Die Kurden wurden ständig zurückgedrängt und mussten viele Tote und Verletzte zurücklassen. In der Zwischenzeit sammelten sich die türkischen Truppen schnell in Merg-Mozan. Es waren ungefähr 25 Bataillone, die dort zusammen kamen. In diesen Kämpfen mit den Kurden verloren wir nur sieben Personen, aber drei armenische Dörfer wurden niedergebrannt. […] Anschließend starteten die versammelten Soldaten ihren Angriff. An einem Tag vernahmen wir den Klang ihrer Signalhörner und über den ganzen Tag hinweg führten sie ihren Angriff mit großem Lärm fort und belagerten die Seiten Geligozans. Die Straße zu einem sehr hohen Berg namens Andok war jedoch offen. Wir schafften es, unsere Familien und Tiere hastig dorthin zu bringen, während wir mit den türkischen Soldaten kämpften. Dann teilte sich die Armee auf. Ein Teil ging Richtung Andok, der andere kam auf uns zu. Wir hatten das Dorf bereits verlassen und Schutz in den Felsen darüber gesucht. Unsere Position erlaubte es uns, auch diesem Angriff den ganzen Tag über standzuhalten. Wir konnten aber sehen, dass sie das Dorf Husentsik nahe unserem Dorf bereits angezündet hatten. Gegen Abend starteten sie eine erneute Attacke und kamen uns näher. Unsere Munition war fast aufgebraucht und wir begannen uns zurückzuziehen. Dann steckten sie auch unser Dorf in Brand und aus der Ferne konnten wir die Flammen sehen. Wir flohen zum Berg Andok, wo bereits unsere Familien und Tiere auf uns warteten“.[3]
Der armenische Genozid
Als das Osmanische Reich am 14. November 1914 an der Seite der Mittelmächte gegen die Entente in den Ersten Weltkrieg einzog, nutzte es die Gelegenheit, um die Verträge zu kündigen, die die Souveränität des Osmanischen Reichs beschränkten. Mit der Kündigung der Kapitulation des Osmanischen Reiches, der Administration de la Dette Publique Ottomane und dem armenischen Reformpaket begannen auch wieder die Überfälle auf armenische Dörfer, sowohl im Osten Anatoliens als auch jenseits der Grenzen zu Russland und Persien. Getrieben von der pantürkischen Vorstellung wollte das Osmanische Reich die im Krieg gegen Russland verlorenen Gebiete zurückerobern. Dass einige Armenier auf russischer Seite kämpften, führte dazu, dass die Armenier von der jungtürkischen Führung kollektiv für die militärischen Probleme in Ostanatolien verantwortlich gemacht wurden. Dies löste eine Kaskade katastrophaler Geschehnisse aus, die zum Völkermord an den Armeniern führte. Schätzungen zufolge fielen den Massakern und Deportationen zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Eine Kommission des osmanischen Innenministers bezifferte 1919 die Zahl der armenischen Opfer auf 800.000. Mit Berufung auf das Urteil vom Oberlandesgericht Berlin-Brandenburg vom 17. März 2006 (Az. OVG 1 S 26.06) erfüllt die Bezeichnung des Genozids an den Armeniern als „Lüge“ einen Straftatbestand nach §189 StGb.
Die Flucht vor dem Tod
Armenian National Institute, Inc., mit freundlicher Genehmigung von Sybil Stevens (Tochter von Armin T. Wegner). Sammlung Wegner, Deutsches Literaturarchiv, Marback & United States Holocaust Memorial Museum. Wegner beschrieb dieses Bild: „Auf der Flucht vor dem Tod. Eine armenische Mutter auf den Höhen des Taurusgebirges, deren Mann getötet wurde.“
Auf dem Bild (1915) sehen wir eine armenische Mutter auf den Gipfeln der Taurusgebirge. Ihr Mann wurde getötet, geschlachtet, ins Gefängnis geworfen oder zur Zwangsarbeit verpflichtet. Auf ihrem Rücken trägt sie ihren ganzen Besitz. Eine Decke zum Schlafen oder als Sonnenschutz, etwas Brennholz und darauf ihr Baby. Die türkische Regierung brachte sie mit dem Zug zum Fuß des Taurusgebirges. Dort endeten damals die Bahngleise und die Vertriebenen mussten zu Fuß weiter.
Berxwedan Jiyan ê
Mittlerweile denke ich nicht mehr darüber nach, meinen Namen abzulegen. Werde ich bei meinem Namen gerufen, so hat dies mittlerweile eine weit größere Bedeutung für mich. Ich fühle mich geehrt, den Namen der Şehîd (kurd. „Gefallene/r“) tragen zu dürfen, und empfinde gleichzeitig eine hohe moralische und ethische Verantwortung und Motivation, dem Vermächtnis der Gefallenen gerecht zu werden. Ich empfinde Respekt und Trauer für die zahlreichen Freund*innen, die in diesem historischen und revolutionären Widerstand ihr Leben gaben und täglich geben, um für die Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Unterprivilegierten zu kämpfen. Ich empfinde Demut hinsichtlich des seit Dekaden andauernden Kampfes und der großen Disziplin und Opfer, die jeder Einzelne im Kampf gegen Faschismus, Imperialismus und vor allem sich selbst gebracht hat. Ich empfinde Faszination und Ehrfurcht, wenn ich an die zahlreichen Geschichten und Legenden um meinen Namen denke. Und allen voran empfinde ich große Freude, in den Reihen dieser Freund*innen stehen zu dürfen und zu wissen, dass unser Widerstand und der Kampf nach Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung allen Widrigkeiten zum Trotz nicht aufzuhalten ist. Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und das Ende wird ein neuer Anfang sein.
Jin, Jiyan, Azadî.
Quellen:
[1] Jongerden, Joost (2007-05-28). The Settlement Issue in Turkey and the Kurds: An Analysis of Spatial Policies, Modernity and War. BRILL. p. 261.
[2] Rev. Edwin Munsell (1896) Turkey and the Armenian Atrocities. Edgewood Publishing Company. Bliss. p. 374/375
[3] Norman M. Naimark: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. Fischer Taschenbuch, Stuttgart 2008, S. 35f.