Krieg oder Frieden

Stimmt die deutsche Gesellschaft mit der Einschätzung der deutschen Herrschaftselite überein, dass das Land in der Welt nur durch Dominanz und Gewalt einen Platz finden kann? Arif Rhein fordert eine ehrliche Diskussion über die deutsche Staatspolitik.

Wie löst unsere Gesellschaft ihre Probleme? Und wie der Staat, in dem wir leben? Unterscheiden oder gleichen sich die Mittel, die beide einsetzen? Ehrliche Antworten auf diese Fragen helfen dabei, den Zustand einer Gesellschaft, den Wesenskern eines Staates zu verstehen. Kein Individuum, keine Gesellschaft kann eine gesunde Entwicklung durchlaufen, ohne sich immer wieder im Spiegel zu betrachten und sich zu fragen, was am eigenen Spiegelbild schön ist und was es zu verändern gilt. Stellen wir uns in Deutschland diese Fragen, stoßen wir schnell auf die Frage nach Gewalt und Krieg. Auch wenn die Auseinandersetzung mit diesem Thema schmerzhaft sein mag, ist sie doch umso wichtiger dafür sich als Mensch, als Gesellschaft selbst zu erkennen. Verbunden mit der Erinnerung an gesellschaftliche Moral ist Selbsterkenntnis die Grundlage dafür, sich an grundlegende Prinzipien zu erinnern. Also die Art und Weise, wie man als Einzelner und als Gesellschaft leben möchte. Für die Gesellschaft Deutschlands ist das als zentraler Teil Europas und damit entscheidender Akteur in der Welt von besonders großer Bedeutung.

Jenseits von Staat, Macht, Gewalt und Krieg

Abdullah Öcalans Beobachtungen zu diesem Thema sind neben dem Mittleren Osten, auch für die Gesellschaften Europas interessant. In einer seiner ersten Verteidigungsschriften* schreibt er im Jahr 2004: „Bemerkenswert im Zusammenhang mit Gewalt ist, wie wenig darüber ausgesagt wird. Obwohl sie in allen Gesellschaften, die mit Macht Bekanntschaft gemacht haben, eine entscheidende Rolle spielt, wird sie behandelt wie eine Ausnahmeerscheinung. Kaum einmal wird je gesagt, dass Kriege, die ja der konzentrierteste Ausdruck von Gewalt sind, im Tierreich überhaupt nicht vorkommen. Stattdessen werden immer neue Vorwände dafür erdacht, warum sie notwendig sein sollten. Die einzige legitime Begründung für Krieg ist die Selbstverteidigung, Bewahrung und Befreiung der eigenen Existenz. Kriege nicht deswegen, sondern zum Raub und zur Plünderung gesellschaftlich zusammengetragener Werte und wegen des Strebens nach Souveränität und dauerhafter Staatsmacht zu führen, dient lediglich dazu, die Gesellschaft zu beherrschen und sie nach den eigenen Interessen zu formen. Diese einfache und verständliche Tatsache soll mit Hilfe abstruser Vorwände und falscher Definitionen vertuscht werden. Wohl nichts ist öfter falsch dargestellt worden als die wahren Ursachen von Macht und Gewalt. Mythologie, Religion, Philosophie und zuletzt die so genannten Sozialwissenschaften verzerren und verbergen es: Gewalt ist inhuman, sie ist die grausamste Handlung der Parasiten, welche die Gesellschaft beherrschen und ausbeuten.“ In Deutschland wird seit einigen Jahren immer intensiver über Krieg und Gewalt gesprochen, ohne es beim Namen zu nennen. Das Schlagwort, der Schleier heißt ‚neue deutsche Verantwortung’.

Die deutschen Eliten und ihr Hang zu Gewalt

Die Herrschaftsfraktionen in Deutschland – ob in Wirtschaft, Bürokratie, Militär oder Politik – haben ein sehr gefährliches Verständnis der Position Deutschlands in Europa und der Welt. Nicht alle Staaten der Welt verfolgen, so wie Deutschland, Weltmachtambitionen. Dafür fehlen ihnen entweder die Mittel, oder sie lehnen es aus anderen Gründen ab. Der deutsche Staat hingegen hegt diese Ambitionen nicht nur theoretisch, er verfolgt sie auch sehr aggressiv, dogmatisch und ungeduldig. Die beiden Weltkriege gehen nicht zufällig auf das Land im Zentrum Europas zurück. Welche Mentalität, welches Selbstbild steckt dahinter? Ein Blick in die europäische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte hilft.

Während des dreißigjährigen Krieges in den Jahren 1612 bis 1648 wurde Deutschland zum Schlachtfeld für die europäischen Mächte. Zurück blieb nicht nur eine zerstörte Gesellschaft, sondern auch ein Trauma innerhalb der Elite, das bis zu den Weltkriegen prägend bleiben sollte: Man war davon überzeugt, dass die deutschen Regionen aufgrund ihrer Zersplitterung und Schwäche zum Spielball europäischer Staaten wie Frankreich oder das Habsburger Reich geworden waren. Durch ihre geographische Lage stellen die deutschen Gebiete natürlicher Weise eine Brücke zwischen West- und Ost-, zwischen Nord- und Südeuropa dar. Dieser Umstand in Verbindung mit seiner politischen Zersplitterung im 17. Jahrhundert und anderen Faktoren spielte sicherlich eine wichtige Rolle dabei, dass deutsche Dörfer und Städte massiv unter den Konflikten der damaligen europäischen Großmächte leiden mussten. Die Frage ist, welche historischen Schlüsse man daraus zieht.

Die deutsche Bourgeoisie und andere einflussreiche Kreise scheinen klare Schlussfolgerungen daraus gezogen haben, die bis heute in angepasster Form gültig sind. Sie zu kennen hilft die aktuelle europäische und globale politische Strategie des deutschen Staates zu verstehen. Man scheint davon überzeugt, dass Deutschland nur bestehen kann, wenn es im Inneren stark zentralistisch organisiert ist und nach Außen mit kompromissloser Dominanz auftritt. Das Vertrauen, der Respekt der deutschen Eliten in andere Staatseliten, in die eigene Gesellschaft ist sehr schwach. Die Gründe dafür liegen unter anderem im zuvor erwähnten Dreißigjährigen Krieg, aber auch in der vergleichsweise späten kapitalistischen Entwicklung des deutschen Kulturraums im 19. Jahrhundert. Weder die Verwüstungen durch andere europäische Staaten im 17. Jahrhundert, noch den gesellschaftlichen Widerstand gegen die nationalstaatliche Einigung und den zentralistisch durchgesetzten Kapitalismus etwa 200 Jahre später haben die deutschen Eliten bis heute vergessen. Entstanden ist eine Kultur, ein Selbstverständnis der deutschen Herrschaftskreise, das es ihnen völlig berechtigt erscheinen lässt, die eigene Bevölkerung so stark wie nur möglich unter Druck zu setzen, während europäische ‚Partner’ wirtschaftlich-politisch dominiert und der Rest der Welt mehr oder weniger unverhüllt ausgebeutet werden. Bei Bedarf ermöglicht diese Mentalität sich für den Aufbau eines faschistischen Systems zu entscheiden, so wie in den 30er Jahren geschehen. Die heute gewählten Mittel sind subtiler, weniger plump – haben aber sehr gefährliche Konsequenzen. Verfügt Deutschland neben seiner bereits vorhandenen wirtschaftlichen und politischen Macht erst einmal über den für 2031 geplanten Militärhaushalt von knapp 100 Milliarden Euro – was dann? Was passiert, wenn die Mentalität der deutschen Elite mit riesigen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Druckmitteln verbunden wird?

Die Haltung der Gesellschaft Deutschlands

Öcalans obige Beobachtungen legen eine Frage nahe: Wie offen sprechen wir – die Gesellschaft Deutschlands – über die Kriegs- und Herrschaftsambitionen des deutschen Staates? Wenn die deutschen Entscheidungsträger sich in den Kopf gesetzt haben, ihre europäischen ‚Partner’ zu dominieren und mehr oder weniger auf ihrem Rücken die EU global so zu positionieren, dass sie mithilfe von wirtschaftlich-politischem Druck oder Krieg andere Regionen und Gesellschaften ausbeuten kann – was sagen die Menschen in Deutschland dazu? Krieg ist ein marginales Thema in Deutschland. Es wird gerne der Eindruck vermittelt, das Land sei ein zurückhaltender, vermittelnder und auf partnerschaftliche Zusammenarbeit bedachter internationaler Akteur. Die Rolle der Bundeswehr, Polizei oder des BNDs im Ausland, die Folgen deutscher Waffenexporte, die politische Unterstützung für Faschisten in der Türkei, Ägypten oder Brasilien – gesellschaftliche Randthemen. Daher sind aktuelle Versuche eine neue Friedensbewegung aufzubauen richtig. Das Land wird sie dringend brauchen. Doch vielleicht lohnt es sich die große Frage nach dem Umgang mit Gewalt und Krieg in Deutschland noch umfassender anzugehen, auch um noch stärkeren Protest zu organisieren. Sich als Einzelner und als Gesellschaft zu fragen: Welche Rolle möchten wir in Europa, in der Welt spielen? Viele europäische Gesellschaften nehmen Deutschland als rücksichtslosen Profiteur der europäischen Ordnung war. Wollen wir das? Im Mittleren Osten, insbesondere in Kurdistan, wird Deutschland als gewalttätige imperialistische Macht wahrgenommen, die das Rückgrat des türkischen Faschismus darstellt. Möchten wir das? Wenn nicht, was dann?

Die Gesellschaft Deutschlands spielt kulturell, geographisch, politisch und wirtschaftlich eine wichtige Rolle in Europa. Sie kommt also gar nicht darum herum, sich ständig an europäischen Entwicklungen zu beteiligen. Bisher überlässt die Gesellschaft dieses Feld hauptsächlich dem Staat, der mit dem egozentrischen Profitfokus seiner Außen-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik eine maßgebliche Verantwortung für die politische Krise Europas und das Chaos im Mittleren Osten trägt. Ob der rücksichtslose Ausverkauf Griechenlands während der Finanzkrise oder der Exportstopp von medizinischem Material als Reaktion auf die Verbreitung des Coronavirus – das rücksichtslose Machtstreben der deutschen Elite ist im europäischen Ausland mittlerweile wieder stärker bewusst. Ganz zu schweigen von den Gesellschaften Jemens oder Kurdistans, die sehr genau die politische Unterstützung und Waffen aus Deutschland für die Regime der Region zur Kenntnis nehmen. Stimmt die deutsche Gesellschaft mit der Einschätzung der deutschen Herrschaftselite überein, dass das Land in der Welt nur durch Dominanz und Gewalt einen Platz finden kann? Oder kann sie die Kreativität und Kraft aufbringen, um sich als Brücke, als Zentrum eines Europas zu positionieren, das diesen westlichen Zipfel des eurasischen Kontinents als einen friedlichen, demokratischen Akteur in der Welt positioniert? Eine ehrliche Diskussion über die deutsche Staatspolitik und eine Rückbesinnung auf moralische Werte stellt den Anfang dafür dar. Nötig ist es allemal, wenn wir den Worten Öcalans Beachtung schenken möchten.


*Das Zitat stammt aus dem Buch Jenseits von Staat, Macht und Gewalt (S. 277). Das Buch schrieb Abdullah Öcalan in Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Es war aufgrund seine theoretisch-historischen Überlegungen und praktischen Vorschläge ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Paradigmenwechsel der PKK. Zugleich intervenierte Öcalan mit dem Buch nach eigenen Worten in das internationale Komplott und verhinderte, dass eine Gruppe von PKK-Kadern Anfang der 2000er Jahre die PKK liberalisierte, um sie in die Kapitalistische Moderne zu integrieren. Der Versuch dieser Gruppe scheiterte trotz der Unterstützung durch die USA, Israel oder Großbritannien am Widerstand Öcalans und des Großteils der PKK-Kader selbst.

Arif Rhein ist Mitarbeiter von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.