Kommunalputsch in Colemêrg ist offener Ausdruck von Kolonialismus
Die Geschehnisse rund um den Kommunalputsch in Colemêrg sind offener Ausdruck der Tatsache, dass der Kolonialismus in Nordkurdistan sein wahres Gesicht nicht mehr verbergen kann.
Die Geschehnisse rund um den Kommunalputsch in Colemêrg sind offener Ausdruck der Tatsache, dass der Kolonialismus in Nordkurdistan sein wahres Gesicht nicht mehr verbergen kann.
Die Regierung Erdoğan/Bahçeli hat bei den Kommunalwahlen am 31. Mai in der Türkei eine schwere Niederlage einfahren müssen. Dadurch büßte das Regime massiv an Legitimität und Stärke ein. Auch wenn die Kommunalwahlen dem Regime deutlich machen, dass es nicht mehr für eine Regierungsführung legitimiert ist, ignorieren Erdoğan/Bahçeli das Ergebnis, klammern sich an die Macht und werfen mit Drohungen um sich. Erdoğan versucht die CHP erneut einzufangen, in dem er Phrasen von einer angeblichen Lockerung und Entspannung drischt. Aber das AKP/MHP-Regime hat die Türkei in den wirtschaftlichen Ruin getrieben und in ernste Probleme im In- und Ausland gestürzt. Zehntausende Soldaten der türkischen Armee befinden sich jetzt in Syrien und im Irak im Krieg und die Zahl der festen Truppenstützpunkte im Ausland nimmt weiter zu.
Seit 2015 befindet sich dieses Regime in einem pausenlosen Angriff auf das kurdische Volk. Nahezu alle von der HDP in den vergangenen beiden Legislaturperioden gewonnenen Kommunalverwaltungen wurden geraubt und mit Zwangsverwaltern besetzt. Diese Zwangsverwalter waren dem Volk gegenüber nicht rechenschaftspflichtig und handelten als Staatsbeamte und Teile des Regimes. Sie verschleuderten die Ressourcen der Kommunen und stürzten die Verwaltungen in einen Sumpf von Schulden.
Mit dem Kobanê-Verfahren wurde eine Justizfarce durchgeführt und der Vorstand der HDP, einschließlich der Ko-Vorsitzenden der Partei, wurden ins Gefängnis geworfen. Sie hätten angeblich das Volk aufgehetzt und seien für den Tod von Dutzenden von Menschen verantwortlich. Der Prozess hatte noch gar nicht begonnen, als Erdoğan und Bahçeli bereits ihre Lügenpropaganda und Hetze verbreiteten. Sie erfanden Geschichten von Gemeinden, die angeblich öffentliche Gelder an Qendîl (die Guerillaführung) geschickt hätten. Als säßen die Inspektoren des Staates nicht jeden Moment den HDP-geführten Rathäusern im Nacken. Jeder Atemzug wurde von den Geheimdiensten und anderen staatlichen Kräften beobachtet. Wie sollte man in solch einer Situation öffentliche Gelder nach Qendîl schaffen? Nicht einmal die Gerichte, die als Büttel dieses Regimes dienen, konnten Beweise in diesem Sinne finden und entsprechende Urteile fällen.
Nun wurde am 3. Juni der Ko-Bürgermeister von Colemêrg festgenommen und sofort ein Zwangsverwalter an seiner Stelle eingesetzt. Seine Festnahme und anschließende Inhaftierung wurden mit einem seit 2014 verhandelten Prozess gegen ihn begründet. Zehn lange Jahre mussten also vergehen, bis man just zwei Monate nach seiner Wahl zum Bürgermeister zu einem Urteil kommen konnte. Es ist offensichtlich, dass es sich nicht um ein normales Verfahren handelt. Der Gerichtstermin war am 5. Juni, festgenommen und des Amtes enthoben wurde der Bürgermeister aber zwei Tage eher. Zumindest zum Schein hätte man das Urteil abwarten können, um den Plan in die Tat umzusetzen. Niemand nimmt diese Scheingerichte und die auf Befehl gefällten Urteile ernst. Am wenigsten das kurdische Volk.
Wir haben noch gut in Erinnerung, wie die Verurteilung und Hinrichtung von Seyid Riza ablief. Das Gerichtsverfahren und die Hinrichtung erfolgten unter großem Zeitdruck, da man Atatürk, der Dersim am nächsten Tag besuchen wollte, nicht mit Gnadenersuchen belästigen wollte. Der Beamte, der das Gerichtsverfahren an einem Sonntag kurz vor Mitternacht organisierte, war der spätere Außenminister İhsan Sabri Çağlayangil. Er schilderte die Hinrichtung in seinen Memoiren:
„Als Seyid Riza die Galgen sah, verstand er. „Ihr werdet mich hängen“, sagte er, und drehte sich zu mir um. „Bist du aus Ankara gekommen, um mich zu hängen?“ Wir schauten uns an. Zum ersten Mal stand ich einem Menschen, der hingerichtet werden sollte, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er lachte. Der Staatsanwalt fragte, ob er beten wolle. Er lehnte ab. Wir fragten nach seinen letzten Worten. „Ich habe noch vierzig Lira und eine Uhr, gebt die meinem Sohn“, sagte er. In dem Moment wurde Fındık Hafiz gehängt. Zweimal riss der Strick. Ich stand vor dem Fenster, damit er nicht sehen konnte, wie Fındık Hafiz gehängt wurde. Die Hinrichtung von Fındık Hafiz war zu Ende. Wir brachten Seyid Riza zum Richtplatz. Es war kalt. Niemand war da. Aber Seyid Riza sprach in die Stille und Leere, als ob der Platz voller Menschen sei. „Wir sind Kinder Kerbelas. Wir haben nichts verbrochen. Es ist eine Schande. Es ist grausam. Es ist Mord“, sagte er. Es überlief mich eiskalt. Dieser alte Mann ging schnellen Schrittes und schob den Zigeuner beiseite. Er legte sich den Strick um, trat den Stuhl weg und vollstreckte sein eigenes Urteil.“
Nach der jüngsten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats wurde verkündet, dass neue Angriffe gegen die Kurdinnen und Kurden in Vorbereitung seien. Zuvor hat Bahçeli die Eskalation des Krieges gegen das kurdische Volk, einschließlich eines neuen Angriffs auf Rojava, verkündet. Erdoğan trägt seinen Teil dazu bei, diesen Plan umzusetzen und zu koordinieren. In seiner jüngsten Erklärung betonte er, dass die Ernennung von Zwangsverwaltern nicht auf Colemêrg beschränkt bleiben wird, und damit erst der erste Schritt getan sei.
Das macht klar, dass es bei diesem Vorgehen weder um Gesetz noch um Justiz geht, sondern dahinter die Exekutive Regie führt. Was in Colemêrg geschieht, ist offener Kolonialismus. Das Regime kann seinen Kolonialismus in Kurdistan nicht mehr verbergen. Kurdistan wird durch Kriegsrecht, Generalinspekteure und den Ausnahmezustand regiert. Aber dennoch versucht man im In- und Ausland den Eindruck zu erwecken, dass man nicht diskriminiere, dass alle Bürger:innen gleich behandelt würden. Diese Propaganda entbehrt jedoch jeder Grundlage.
In Colemêrg wird die Stadtverwaltung jetzt von Panzern belagert. Die Einwohner:innen der Stadt dürfen sich dem Rathaus nicht nähern. Die Menschen dort hatten ihre Wahl getroffen, aber der Staat machte klar, dass er diese Wahl nicht akzeptiert und seine Macht nutzen wird, das Ergebnis zu seinen Gunsten zu revidieren. Das ist Tyrannei und Willkür. Nicht einmal die eigenen Gesetze werden beachtet. Das lässt sich weder im In- noch im Ausland noch verbergen. Da das kurdische Volk erwacht ist und sich wehrt, wird dem türkischen Staat die Maske vom Gesicht gerissen.
In Rojava bereitet die Selbstverwaltung gerade Gemeindewahlen vor. Der türkische Staat setzt militärisch und politisch alles daran, diese Wahlen zu sabotieren. Wo auf der Welt werden Wahlen als Terrorismus oder als Gefahr betrachtet? Diese Denkweise ist nur im türkischen Staat zu finden. Seine Mentalität ist vergiftet. Aus seinem Munde kommt nichts als Gewalt und Tod. Das Regime in Ankara hat seine Massaker gegen Rojava bereits ausgeweitet und droht noch schwerere Angriffe an. Seine Kurdenfeindschaft kennt keine Grenzen. In dieser Region leben fünf bis sechs Millionen Menschen. Die Hälfte der Bevölkerung ist arabisch, alle Völker sind miteinander verflochten. Die türkische Regierung erklärte, man werde dort keine Wahlen zulassen, denn es werde ein „Terrorstaat“ etabliert. Gibt es auf der Welt ein „Terroristan“, das durch Wahlen geschaffen wurde? Nein! Aber so funktioniert das rassistische und mörderische Denken des türkischen Staates.
Das kurdische Volk und alle Demokratie-Kräfte, die sich als Opposition bezeichnen, müssen einen starken Protest und Widerstand organisieren. Wenn es keinen wirksamen Widerstand gibt, werden auch die anderen Kommunalverwaltungen verloren gehen und Erdoğan und Bahçeli werden die Geißel der Türkei und des Nahen Ostens bleiben.
Der Text erschien zuerst bei Yeni Özgür Politika