Welchen Umgang pflegt die kurdische Befreiungsbewegung mit anderen Völkern und Glaubensgemeinschaften? Und welche Haltung vertritt die Bewegung gegenüber Befreiungskämpfen wie dem der Palästinenser:innen oder den Kämpfen der indigenen und schwarzen Bevölkerung in den USA? Auf diese Fragen antworten die KCK-Vorsitzenden Besê Hozat und Cemil Bayık im vierten Teil des Interviews im Onlineportal Libyajamahiriya.
Im ersten Teil des Interviews ging es um den Unabhängigkeitsbegriff in der kapitalistischen Moderne und das von Abdullah Öcalan geprägte Verständnis einer demokratischen Autonomie in einem konföderalen System. Im zweiten Teil antworteten die Ko-Vorsitzenden des Exekutivrates der Dachorganisation KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) auf Fragen zu ihrem Wirtschaftsmodell und den sozioökonomischen Entwicklungen in Rojava. Im dritten Teil des Gesprächs wurden die Erfolge der PKK in Kurdistan behandelt. Der jetzt vorliegende vierte Teil zeigt die Haltung der Bewegung zu den verschiedenen Identitäten in Kurdistan und kämpfenden Bewegungen weltweit auf.
In Kurdistan leben zahlreiche ethnische Minderheiten, wie zum Beispiel Assyrer:innen. Welche Beziehungen unterhält die kurdische Freiheitsbewegung zu diesen Minderheiten? Und wie arbeitet sie mit ihnen zusammen?
Die PKK hat reichlich Erfahrungen mit den negativen Folgen von Nationalismus und der Feindschaft gegenüber verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften. Daher hat sie sowohl aufgrund ihrer sozialistischen Überzeugungen als auch ihrer Empathie gegenüber allen Völkern und Glaubensgruppen seit jeher eine auf Sympathie, Freundschaft und Geschwisterlichkeit basierende Haltung eingenommen. Die PKK ist die erste Bewegung in Kurdistan, der es gelungen ist, sunnitische, alevitische und ezidische Kurd:innen unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen. Bereits während der Anfangsphase, in der die erste Gruppe der PKK entstand, waren vier der sechs Gruppenmitglieder alevitische Kurd:innen. Unter den ersten Führungskadern der PKK waren mit Haki Karer und Kemal Pir zwei sehr wichtige Führungspersönlichkeiten aus der Türkei. In den Reihen der PKK sind viele türkische Genoss:innen gefallen.
Die Vielfalt Kurdistans bewahren
Auch den Assyrer:innen und den Armenier:innen sind wir stets auf der Basis von Sympathie, Freundschaft und Geschwisterlichkeit begegnet. In der PKK gab es nie Platz für Nationalismus. In Kurdistan lebt auch noch eine gewisse Anzahl an Chaldäer:innen. Die PKK hat sie stets dabei unterstützt, dass sie sich organisieren und überall dort, wo sie leben, ihren Glauben frei ausleben und ihre eigene Selbstverwaltung einrichten. Auch die Gründung ihrer eigenen Organisationen und Parteien wurde auf vielfältige Art und Weise unterstützt. Mit dieser Unterstützung wurde einzig und allein das Ziel verfolgt, die Existenz dieser Gemeinschaften als Teil der Vielfalt Kurdistans zu bewahren. Unsere Bewegung betrachtet Kurdistan als die gemeinsame Heimat der Assyrer:innen und Armenier:innen. Sie respektiert die Art und Weise, wie diese Gemeinschaften die Orte benennen bzw. definieren, an denen sie leben, und würdigt es, dass sie Kurdistan als ihre Heimat betrachten und dort leben.
Die PKK hat seit jeher eine dementsprechende Haltung an den Tag gelegt. Mit der von Rêber Apo entwickelten Idee der Demokratischen Nation fußt diese Haltung heute auf einer noch stärkeren historischen, gesellschaftlichen, ideologischen und theoretischen Basis. Aus dieser Haltung ergibt sich konsequenterweise, dass die Assyrer:innen und Armenier:innen gleichberechtigte und ursprüngliche Teile Kurdistans sind. Sie haben alles Recht dazu, frei und autonom zu leben. In der Hoffnung, dass wir den richtigen Begriff dafür verwenden und dies nicht falsch verstanden wird, können wir sogar feststellen, dass wir ihnen gegenüber eine „positive Diskriminierung“ für notwendig halten. Denn auch sie haben in Kurdistan großes Unrecht erfahren. Die Kurd:innen haben sich – wenn auch nicht in Form ihres eigenen politischen Willens, sondern insbesondere auf Initiative der herrschenden Klassen – zu einem gewissen Grad an dem Unrecht beteiligt, das an den Assyrer:innen und Armenier:innen verübt wurde. Ohne irgendwelche Komplexe zu entwickeln und ohne den geringsten Zweifel können wir heute dieses historische Unrecht zu einem Großteil überwinden, indem wir ein freies und gleichberechtigtes Leben in unserer gemeinsamen Heimat leben.
„Diese Haltung macht unsere Identität und unseren Charakter aus“
Wir hegen keinerlei negative Haltung gegenüber den Assyrer:innen. Sie verfügen in Kurdistan ausnahmslos über alle Rechte. Es ist völlig ausgeschlossen, dass wir ihnen gegenüber eine negative Haltung einnehmen. Doch kann es von Zeit zu Zeit dazu kommen, dass sie aufgrund ihrer Beziehungen zu gewissen Staaten uns gegenüber eine negative Haltung zeigen. Darauf reagieren wir jedoch nicht mit Protest, sondern begegnen diesem Umstand mit Verständnis. Was auch immer geschehen mag, wir werden unsere Einstellung ihnen gegenüber niemals verändern. Denn diese Haltung macht unsere Identität und unseren Charakter aus. Wenn wir davon erfahren, dass es in Rojava in diesem Zusammenhang vereinzelt zu Fehlern kommt, nutzen wir unseren Einfluss und versuchen die Korrektur dieser Fehler zu unterstützen. Dieses Thema ist für uns so sensibel und wichtig wie kein anderes. Wir können es nicht dulden, dass anderen Völkern und Glaubensgruppen Unrecht geschieht. Wenn wir diese Sensibilität nicht an den Tag legen, verlieren wir unsere eigene Identität und unseren Charakter. Zugleich würde dies bedeuten, dass wir uns Rêber Apo gegenüber sehr respektlos verhielten. Rêber Apo duldet es nicht, dass anderen Völkern, Glaubensgruppen und auch Frauen Unrecht angetan wird. Genauso wenig verzeiht er denjenigen, die für dieses Unrecht verantwortlich sind.
Wir tauschen uns immer wieder direkt mit den assyrischen Parteien und Freund:innen aus. Wir entsprechen ihren Forderungen und Vorschlägen, so gut es uns unsere aktuellen Möglichkeiten erlauben. Wir betrachten unsere Möglichkeiten und Ressourcen zugleich als die ihren. In dieser Frage machen wir keinen Unterschied. Auch unsere Beziehungen zu ihnen finden im Rahmen von Gleichberechtigung und Gerechtigkeit statt. Wir setzen damit die Beziehungen, die vor Jahrzehnten von Rêber Apo aufgebaut wurden und auf gegenseitigem Respekt basieren, und die damit einhergehende Arbeitsweise fort. Wir sind zudem stets für jede Form von Kritik ihrerseits offen.
Ho Chi Minh und Palästina
Welche Haltung vertritt die Kurdische Freiheitsbewegung gegenüber Befreiungskämpfen wie dem der Palästinenser:innen oder den Kämpfen der indigenen und schwarzen Bevölkerung in den USA?
Als nationale Befreiungsbewegung empfinden wir seit jeher Sympathie und Interesse für die nationalen Befreiungskämpfe in den anderen Teilen der Welt. Wir wurden auch stark davon geprägt, dass wir die Bücher anderer nationaler Befreiungsbewegungen lasen und deren Kämpfe aufmerksam verfolgten. Insbesondere Anfang der 1970er Jahre hatte der nationale Befreiungskampf in Vietnam einen enormen Einfluss auf uns. Ho Chi Minh und Giap stellten für uns Anführer der nationalen Befreiung dar. Die Worte Ho Chi Minhs - „Nichts ist kostbarer als Unabhängigkeit und Freiheit“ - entwickelten sich zu unserer grundlegenden Losung. Das Buch über die Geschichte der Arbeiterpartei Vietnams wurde damals von allen Kadern und Anhänger:innen gelesen.
Auch der Kampf der Palästinenser:innen hatte einen unmittelbaren Einfluss auf uns. Rêber Apo und unsere Bewegung gingen noch vor dem Militärputsch am 12. September 1980 nach Palästina. Dort erhielten sie Unterstützung und erfuhren die Solidarität der Palästinenser:innen. Unsere ersten Guerillakämpfer:innen wurde in den palästinensischen Camps ausgebildet. Auch als sich unsere Partei nach dem faschistischen Militärputsch vom 12. September in den Mittleren Osten zurückzog, erhielt sie viel Unterstützung von den Palästinenser:innen. Es ist unbestreitbar, dass das palästinensische Volk und dessen politische Kräfte unsere Bewegung dabei unterstützten, sich nach dem Militärputsch wieder zu sammeln und zugleich den Guerillakampf vorzubereiten. Sie werden immer die Freund:innen unseres Kampfes bleiben. Wir unterstützen ihren Freiheitskampf.
Bis zum Jahr 1982, als Israel Palästina besetzte, lebten wir eng beieinander in gemeinsamen Camps. Im damaligen Krieg gegen Israel kämpften PKK-Mitglieder an vorderster Front Seite an Seite mit ihren palästinensischen Schwestern und Brüdern. Im Krieg gegen Israel fielen elf sehr wertvolle Genoss:innen von uns und knapp 20 weitere wurden verletzt. Diese Gefallenen stellen eine unzerstörbare Brücke zwischen uns und dem Kampf des palästinensischen Volkes dar. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Palästinenser:innen in ihrer Heimat und mit ihrer eigenen Führung ein freies und demokratisches Leben erreichen werden. Das haben sie sich durch ihren enormen Kampf verdient.
Öcalan: Die PKK führt den Befreiungskampf aller Unterdrückten
Rêber Apo hat die PKK stets nicht nur als Freiheitskampf der Kurd:innen, sondern aller Unterdrückten verstanden. Er hat die gesamte Praxis der PKK dementsprechend grundlegend darauf ausgerichtet, alle unterdrückten Gruppen und Glaubensgemeinschaften in Kurdistan und dem Mittleren Osten zu befreien. Denn diese Notwendigkeit ergibt sich aus unserer Ideologie. Im Kontext solch einer Ideologie haben sich Angehörige der verschiedensten Völker der PKK angeschlossen. Die von Rêber Apo entwickelte Idee der Demokratischen Nation stützt sich ja auch nicht nur auf eine einzige ethnische Gruppe, sondern umfasst unterschiedlichste ethnische und religiöse Gemeinschaften. Auf dieser Grundlage unterstützen wir den Kampf für Freiheit und Demokratie aller Unterdrückten auf dieser Welt.
Wir betrachten es als die Aufgabe aller sozialistischen und demokratischen Bewegungen und Menschen, die Kämpfe der indigenen und schwarzen Bevölkerung in den USA zu unterstützen. Es ist sehr wichtig, dass überall die Rechte der indigenen Bevölkerung in den USA verteidigt und wiederhergestellt werden. Als die eigentlichen Besitzer des Landes müssen sie in die Lage gelangen, in ihrer Heimat ein freies und demokratisches Leben zu leben. Dafür ist es wichtig, dass sie über alle Mittel verfügen, die für diese Art des Lebens notwendig sind. Die indigene Bevölkerung der USA muss also über genügend Land verfügen, um ein freies und demokratisches Leben zu führen. Genauso wichtig ist es, dass sie überall dort, wo sie als Gemeinschaft stark vertreten ist, ein freies und autonomes Leben entwickelt.
Zweifelsfrei ist es sehr wichtig, dass die schwarze Bevölkerung in den USA als Bürger:innen des Landes die gleichen Rechte wie alle anderen genießt. In allen Bereichen des gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens müssen alle Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung ein Ende finden. In keinem Lebensbereich darf es zu Ungleichheit kommen. Das ist die gesamte Menschheit – insbesondere gilt das für die US-Amerikaner:innen – der schwarzen Bevölkerung schuldig. Diese Schuld muss beglichen werden, indem die grundlegendsten Rechte der schwarzen Bevölkerung anerkannt werden und zugleich gewährleistet wird, dass sie ein vollständig gleichberechtigtes und freies Leben führen können. Tun sie dies nicht, können weder die US-Amerikaner:innen noch der Rest der Menschheit von sich behaupten, wirklich auf Gleichberechtigung, Moral, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Demokratie Wert zu legen.