Karasu: Zur Verteidigung der Existenz bleibt nur der Widerstand

„Gegen eine Mentalität des Rassenfanatismus gibt es nur einen Ausweg: Widerstand“, sagt Mustafa Karasu vom KCK-Exekutivrat. Erdoğan und die AKP hätten bereits alles getan, um ihre Kurdenfeindlichkeit unter Beweis zu stellen.

Am 28. Dezember 2011 wurden im türkisch-irakischen Grenzgebiet nahe des Dorfes Roboskî (Ortasu) in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) 34 kurdische Zivilisten im Alter von 12 bis 25 Jahren bei einem Angriff der türkischen Luftwaffe getötet. Es handelte sich um Grenzhändler, die mit 50 Mauleseln und ihren Waren auf dem Rückweg aus Südkurdistan waren. Der Grenzhandel ist für die Bewohner von Roboskî die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dem Militär meldeten die jungen Männer am besagten Tag noch vor dem Grenzübertritt, dass sie Schmuggel betreiben werden. Um 21:39 Uhr wurden sie mit ihren Mauleseln von türkischen Kampfjets regelrecht zerfetzt. Nur vier Menschen überlebten den Angriff.

Zwei Tage lang schwiegen Erdoğan -damals noch Ministerpräsident- seine AKP-Regierung und die Medien zu dem Massaker. Als man sich nach Berichten in den kurdischen Medien doch dazu bekannte, rechtfertigte sich die Regierung damit, man habe die Zivilisten für PKK-Mitglieder gehalten. Erdoğan versprach, den Vorfall aufzuklären, bedankte sich dann lieber doch beim Generalstabchef für den Mord an 34 Menschen. Heute jährt sich das Roboskî-Massaker zum siebten Mal. Die Bilder, auf denen Mütter und Väter Leichenstücke ihrer Kinder aufsammeln und in Satteltaschen von Maultieren verstauen, gehen wieder um die Welt. Bis heute wurde kein einziger Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen. Eingeleitete Ermittlungsverfahren wurden eingestellt, das Massaker bleibt noch immer ungesühnt.

Gegen Mentalität des Rassenfanatismus gibt es nur einen Ausweg: Widerstand

Wir haben mit Mustafa Karasu, Mitglied des KCK-Exekutivrats über das Roboskî-Massaker gesprochen. Direkt zu Beginn des Gesprächs fragt er: „Was müssen Erdoğan und die AKP noch tun, um ihre Kurdenfeindlichkeit unter Beweis zu stellen?“ und folgert: „Gegen eine Mentalität des Rassenfanatismus gibt es nur einen Ausweg: Widerstand. Ich rufe alle Kurdinnen und Kurden auf, sich diesem Kampf anzuschließen.“

Das Roboskî-Massaker sei ein Akt des bewussten und vorher geplanten Mordens an einer großen Zahl kurdischer Zivilisten gewesen, betont Mustafa Karasu. „Die Regierung räumte das ja auch ein, indem sie behauptete, es hätte sich mindestens ein PKK-Mitglied unter den Getöteten befunden. Es ist für die Türkei also legitim, für einen PKK’ler 34 Kinder zu töten, oder auch 34.000. Das ist nichts anderes als ein Schuldgeständnis.“

Form der Annäherung an die Kurden: Massaker

Mustafa Karasu sagt, mit dem Massaker von Roboskî habe der türkische Staat ein weiteres Mal sein kurdenfeindliches Gesicht offenbart. Er erinnert an Hunderte Zivilisten in Nordkurdistan, die während dem Widerstand für die Selbstverwaltung zwischen den Jahren 2015 und 2016 von türkischen Sicherheitskräften getötet wurden. Das Roboskî-Massaker sei das Ergebnis des ausgeweiteten schmutzigen Krieges der AKP-Regierung gegen das kurdische Volk. Damals diskutierten die ehemaligen Weggefährten und heutigen Erzfeinde Erdoğan und Fethullah Gülen das sogenannte Sri Lanka-Modell*, um mit einem Zerschlagungsplan das kurdische Volk „auszurotten“.

Erdoğan hat Anweisung für Massaker erteilt

Mustafa Karasu weist darauf hin, dass Erdoğan persönlich die Anweisung für das Massaker erteilt habe. Ein einfacher Kommandeur einer Gendarmerie-Wache könne nicht einfach so entscheiden, 34 Zivilisten zu töten. „Wie Sie sich sicherlich erinnern, bedankte sich Erdoğan bei den Tätern für das Massaker. Hätte er nicht seine Finger mit im Spiel, so hätte er sich bei den Verantwortlichen zumindest nicht öffentlich bedankt.” Mit seinem Streben an der Macht zu bleiben versuche Erdoğan lediglich zu vermeiden, aufgrund seiner Kriegsverbrechen und seiner Beziehung mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) juristisch zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Erdoğans Sündenbock: Ferhat Encü

Der inhaftierte ehemalige HDP-Abgeordnete Ferhat Encü verlor bei dem Massaker in Roboskî 27 Familienangehörige, darunter auch seinen Bruder Serhat Encü. Mustafa Karasu bemerkt, dass sich Encü stets für die Aufarbeitung des Roboskî-Massakers und die Verurteilung der Verantwortlichen eingesetzt hat. Außerdem habe er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Schuld Erdoğans gelenkt. Dies sei mitunter der Hauptgrund, aus Ferhat Encü einen Sündenbock zu machen und ihn ins Gefängnis zu stecken.

Was soll Erdoğan noch tun?

„Jeder sollte spätestens jetzt eine Haltung gegen die AKP-Regierung annehmen. Der Blickwinkel des Staates gegenüber den Kurden ist offensichtlich. Dass es nach all den Angriffen Erdoğans immer noch Kurden gibt, die ihre Stimme der AKP geben oder aktiv für sie sind, bedeutet Verrat an seiner eigenen Identität und seinem eigenen Volk.“

Kurden müssen sich widersetzen

Die Besatzungsdrohungen des türkischen Präsidenten gegen Rojava/Nordsyrien, die Angriffe auf das Flüchtlingslager Mexmûr und das ezidische Siedlungsgebiet Şengal, und das Massaker von Roboskî hätten eines gemeinsam: Die rassenfanatische Mentalität der Verantwortlichen, sagt Karasu. „Das gesamte kurdische Volk muss die Realität von Erdoğan und seiner AKP erkennen. Ihre Kurdenfeindlichkeit und ihre Absicht, einen Genozid an den Kurden zu verüben, ist offensichtlich. Das kurdische Volk muss sich organisieren und widersetzen. Wenn es nicht ausgelöscht werden will, bleibt diesem Volk nichts anderes übrig als Widerstand zu leisten. Um ihre Existenz zu verteidigen, bleibt den Kurden nur dieser Weg.“ 

Kurden sind die Stärkeren

Dies könnten sie mit ihrer Stärke bewältigen, meint Mustafa Karasu. „Beim Kräftemessen geht es nicht um die Anzahl von Soldaten, Technik oder Geld. Kraft ist in erster Linie mit Gerechtigkeit, Legitimität und moralischen Werten verbunden. Der Feind ist nicht stark. Wenn gegen ihn gekämpft wird, so wird seine Lebensdauer nur kurz sein. Deshalb übt der Feind sowohl innen als auch außen Druck aus. Das zeugt von seiner Schwäche. Die Demokratiekräfte und das kurdische Volk sollten sich dieser Realität bewusst werden. Es ist nicht die Zeit zu schweigen, es ist die Zeit des Widerstands.“


*Der Inselstaat Sri Lanka wurde von 1983 bis 2009 durch gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) und den jeweiligen Regierungen erschüttert. Eine Militäroffensive bereitete dem 2009 ein blutiges Ende. Um die LTTE vollständig zu vernichten, nahmen Regierung und Militär schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Kauf. Allein in der letzten Kriegsphase starben vermutlich 40.000 Zivilistinnen und Zivilisten. Hunderttausende waren gezwungen, die Kriegsregion im Norden und Osten der Insel zu verlassen. Die Regierung unter Präsident Mahinda Rajapaksa (2005-2015) pries diesen Weg als „Sri Lanka-Modell“ der Konfliktlösung: Der Konflikt zwischen Singhalesen und Tamilen wurde nach der „siegreichen“ militärischen Intervention schlicht für beendet erklärt. Die zugrundeliegenden Konfliktursachen wurden aber nicht bearbeitet.