Roboskî: „Wir wurden wegen unserer Identität ermordet“

Der ehemalige HDP-Abgeordnete Ferhat Encü veröffentlichte aus der Haft heraus einen Brief zum Roboskî-Massaker: „Wir wurden nicht nur wegen unserer Armut ermordet, sie ermordeten uns auch wegen unserer Identität und Zugehörigkeit.“

Der im Hochsicherheitsgefängnis von Kandıra inhaftierte ehemalige Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Ferhat Encü hat zum siebten Jahrestag des Roboskî-Massakers einen offenen Brief veröffentlicht. Darin beschreibt er das Massaker als einen dunklen Fleck in der Geschichte der Menschheit.

Mittlerweile sind sieben Jahre seit dem Massaker von Roboskî vergangen. Am 28. Dezember 2011 bombardierte die türkische Luftwaffe in Şirnex-Qilaban (Şırnak-Uludere) eine Gruppe junger Menschen, die vom Grenzhandel lebte und in jener verhängnisvollen Nacht aus Südkurdistan zurückkehrte. Bei dem Luftangriff nahe des Dorfes Roboskî (türkisch: Ortasu) starben 34 junge Männer im Alter von 12 bis 25 Jahren. Ferhat Encü verlor bei dem Massaker 27 Familienangehörige, darunter auch seinen Bruder Serhat Encü. Heute warten die Angehörigen der Opfer von Roboskî weiterhin auf Gerechtigkeit. Trotz der vergangenen sieben Jahre wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen werden die Familien für ihren Kampf nach Gerechtigkeit bestraft, schreibt Encü und fährt fort: „Die gewissenlose herrschende politische Haltung und die Justiz, die diese politische Haltung schützt, haben mit ihrer Entscheidung, dieses Massaker zu vertuschen, eine ewig blutende Wunde im Gewissen der Menschheit geschlagen. Die Geschichte wird dieses Unrecht nicht vergessen. Früher oder später wird mit dieser Gewissenlosigkeit abgerechnet. Die Justiz ist nicht dazu da, die Institutionen zu schützen, die dieses Leid verursachten, sondern das Leid der Opfer zu lindern. Die Gesetze wurden hierzu geschaffen. Sie wurden auf der Grundlage der Grund- und Freiheitsrechte niedergelegt.

Wir wurden wegen unserer Identität ermordet

Aber dennoch wurde die Justiz wie bei den vielen anderen Massakern leider auch bei diesem Massaker ihrer Aufgabe nicht gerecht. Seit dem 28. Dezember 2011 sagen wir ‚nie wieder.‘  Wir haben uns gegen die Politik gestellt, die unser wunderschönes Land in ein Blutbad verwandelt, dafür gekämpft, den Schmerzen der Mütter ein Ende zu bereiten und die Sehnsucht nach Geschwisterlichkeit und Frieden in der Region endlich zu erfüllen. Wir werden auch weiterhin dafür kämpfen. Wir wissen, wer hinter diesem Massaker steht. Wir wurden nicht nur wegen unserer Armut ermordet, sondern auch wegen unserer Identität und Zugehörigkeit. Leider geht dieses Massaker heute weiter.

Wir müssen ohne Furcht die Wahrheit verkünden

Dieses Land hat viel Leid erlebt. Die Verantwortlichen sind nichts weiter als eine Handvoll Machthungriger, die alles daran setzen, ihre eigenen Interessen zu wahren. Um diesen Schmerz zu überwinden, ist es notwendig, sich aufrichtig mit den Realitäten zu konfrontieren. Mit einer Verweigerungs- und Vernichtungshaltung lassen sich in diesem Land weder die Armut noch die Unterschiede, die uns ausmachen, aufheben. Die Wahrheit lässt sich nicht hinter Artilleriegranaten, Panzern oder F-16-Bombern verbergen. Es gibt keine andere Wahl, als sie wahrzunehmen und anzuerkennen. Alles andere bedeutet, noch größeres Leid zu verursachen. So müssen wir ein weiteres Mal unsere Entschlossenheit zum Kampf und unseren Willen zeigen. Wir müssen das Leichentuch, das uns vor mehr als drei Jahren umgelegt wurde, aufheben. Wir müssen, ohne uns zu fürchten, die Wahrheit und die Gerechtigkeit verkünden.

Das Massaker von Roboskî soll wie viele andere Massaker und Morde in den dunklen Hinterzimmern in Ankara verschwinden. So wie die AKP noch für kein Verbrechen die Verantwortung übernommen hat, versucht sie die Wahrheit zu verdrehen und zu begraben. Es ist eine Notwendigkeit des Gewissens, diese zum Himmel stinkende, korrupte Haltung zu bekämpfen. Ich rufe alle Menschen, die ein Gewissen haben, dazu auf, diese Verantwortung zu übernehmen. Ich rufe alle Verteidiger*innen des Rechts und Jurist*innen auf, die auf juristischem Weg ermordete Wahrheit von Roboskî ans Tageslicht zu bringen und sich mit den Opfern zu solidarisieren.“