Imrali, Efrîn, Lêlîkan

Das Jahr 2018 stellt einen neuen Höhepunkt der Angriffe auf die kurdische Bewegung durch den türkischen Staat dar.

Es ist eine historische Tatsache und oft wiederholtes Muster, dass in Zeiten der Krise Diktaturen zum Mittel der militärischen und politischen Aggression greifen, um ihren drohenden Untergang zu verhindern. Das Jahr 2018 stellt gewissermaßen die Zuspitzung und Fortsetzung türkischer Imperialambitionen dar, und zugleich ein Jahr massierter Angriffe gegen die kurdische Freiheitsbewegung. Der Krieg und die Invasion Efrîns sollten den Auftakt zu einem Jahr des Krieges nach außen und des politischen Genozids im Inneren bilden.

Invasion Efrîns, Operation am Lêlîkan, Besetzung Südkurdistans

Dabei führt die Performanz der türkischen Armee und verbündeter „lokaler Kräfte“ (wie die in Efrîn eingesetzten Ahrar-al-Sham, salafistische Miliz und Al-Qaida-Ableger im syrischen Bürgerkrieg) nicht gerade ein Bild der Stärke vor Augen: trotz umfassendstem Material- und Truppenaufgebot gelang es der türkischen Armee erst nach 58 Tagen, den westlichsten Kanton der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien (dem politischen Projekt, das aus der Revolution von Rojava, Westkurdistan hervorgegangen ist) einzunehmen. Seitdem gehen die von der türkischen Regierung dort angesiedelten salafistischen Banden brutal gegen die Zivilbevölkerung vor, um einen demografischen Wandel durch genozidale Praktiken durchzusetzen, während verbliebene Kräfte der YPG/YPJ mit Guerilla-Taktiken aus dem Untergrund gegen die Besatzung Widerstand leisten.

Eine Offensive durch die türkische Armee, die international kaum Beachtung fand, stellt der Invasionsversuch der Medya-Verteidigungsgebiete im Nordirak dar, den Guerillagebieten unter Kontrolle der PKK. Während Erdoğan bereits den Fall von Qendîl verkündete, das sich am Südende der befreiten Gebiete befindliche Herz der Selbstverwaltung der kurdischen Bewegung, des Dachverbandes KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), blieb die Offensive angesichts des Widerstands der Guerilla nach wenigen Kilometern auf den Lêlîkan-Höhen stecken. Hier gelang es der türkischen Armee, einige Gipfelstützpunkte zu errichten; seitdem ist sie bemüht, sich gegen Aktionen der Guerilla zu schützen.

Die Operationen in Efrîn und Lêlîkan wird ergänzt durch eine schleichende Besetzung Südkurdistans durch die türkische Armee. Seit dem Kerkûk-Vorfall im Herbst 2017, bei dem nach einem von der pro-westlichen PDK (Demokratische Partei Kurdistans) durchgeführten Unabhängigkeitsreferendum irakische Truppen und schiitische Milizen die Stadt besetzten und den Stand der kurdischen Autonomieregion schwächten, hat die Türkei im großen Maßstab Truppen in den Nordirak verlegt und Stützpunkte errichtet. Dieses Manöver zielt auf eine Reihe von Effekten: Nach der Schwächung der Erdoğan-loyalen PDK, die in Südkurdistan eine Politik zwischen kurdischem Nationalismus und politischem Islam verfolgt – eine Art „weiße“ Kurdenpartei, liberal, NATO-abhängig, vor allem unter der Schutzhand der deutschen Regierung – stärkt die Türkei damit ihren Einfluss und ihre direkte Kontrolle der südkurdischen Bevölkerung, Gebiete und Ressourcen. Zum zweiten sollen die türkischen Stützpunkte die Medya-Verteidigungsgebiete der PKK von Süden her umzingeln, um bei erfolgreicher Invasion von Seiten der türkisch-irakischen Grenze von Norden her unterstützen zu können. Zum dritten stellen die Stützpunkte nahe der türkischen Grenze im Westen einen Keil dar, der die Guerillagebiete von der nordsyrischen Föderation und Rojava abschneiden soll – ähnlich dem Keil, den die türkische Armee im Sommer 2016 in die Şehba-Region zwischen Efrîn und Kobanê in Nordsyrien trieb, um die Kantone voneinander zu isolieren.

Alle diese Gebiete haben zweierlei gemeinsam: Sie sind Teil des Misak-i Milli, dem Territorium des zerfallenen Osmanischen Reichs, und werden mehr oder weniger offen formuliert von der Türkei beansprucht – daher auch die Ambitionen der AKP in den Auseinandersetzungen um Idlib, eine der letzten Regionen unter Kontrolle der syrischen Opposition – die ihrerseits wiederum unter massivem Einfluss der Erdoğan-Regierung steht. Zu den beanspruchten Städten zählt unter anderem auch das an Idlib grenzende Aleppo sowie Mossul und Kerkûk im Nordirak. Gleichzeitig sind all diese Gebiete mehrheitlich kurdisch besiedelt – historisch sowie zeitaktuell Widerstandspol gegen türkische Einflussnahme und Machtpolitik – und in Gestalt der kurdischen Bewegung, die aus dem Kampf der PKK hervorging, im Besitz einer hochorganisierten Kraft, die von weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung vor allem in Person des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalans als legitime Vertretung in der kurdischen Frage gesehen wird.

Isolation Öcalans, politischer Genozid und Guerillakrieg in Nordkurdistan

Die Offensive der Türkei gegen die kurdische Bewegung außerhalb des türkischen Staatsgebiets folgt dabei der Logik im Inneren. 2015 beendete die AKP nach dem Erfolg der pro-kurdischen HDP bei den Parlamentswahlen unter Vorwänden den Dialogprozess mit der PKK, verhängte eine Totalisolation über Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali und begann mit Massenbombardierungen der Medya-Verteidigungsgebiete. Mit der Kriegsentscheidung der Erdoğan-Regierung trat der Plan „çökertme“ (in etwa: „ins Knie zwingen“) in Kraft: Die politisch-militärische Offensive zur Zerschlagung der PKK und der Unterwerfung nicht nur der kurdischen, sondern aller demokratischen oppositionellen Kräfte innerhalb der Türkei. Im Winter 2015/16 erfolgte der militärische Angriff auf Städte Nordkurdistans, um den Willen der Bevölkerung zu brechen und jede Loyalität und Identifizierung mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu bestrafen. Dass die psychologische Kriegsführung (wie die Verbrennung von mehr als zweihundert Zivilisten und verletzten Widerständischen in den Kellern von Cizîr/Botan) ihr eigentliches Ziel verfehlte, zeigt die Mobilisierung gegen die Einführung des Präsidialsystems 2017 – das vermutlich nur durch Wahlmanipulation mit knapper Mehrheit als Erfolg der AKP verbucht werden konnte – und der wiederholte Erfolg der HDP bei den Parlamentswahlen 2018, bei der diese trotz Wahlbetrug und massiver Einschüchterung die Zehnprozenthürde überwand. Auf die politischen Erfolge antwortete die AKP-Regierung mit Massenverhaftungen und Unterdrückung im Inneren, die getrost als Praktiken eines politischen Genozids beschrieben werden können – ein systematischer Angriff auf jede demokratische Artikulation der Gesellschaften der Türkei. Die Liste dieser fragwürdigen Praktiken ist lang; deren vorgeschobenen Legitimierungen ähneln nicht nur dem Weg an die Macht historischer Faschismen, sondern sind offen formuliert davon inspiriert, wie Erdoğan selbst wiederholt verlautbaren ließ. Einen mutmaßlich fingierten Putsch des Militärs im Juli 2016 nutzte die AKP für eine grundlegende Säuberung des Staatsapparates. In den auf den Putsch folgenden Monaten wurden die HDP-geführten Stadtverwaltungen vor allem im kurdischen Südosten per Staatsstreich übernommen und durch eigenes, loyales Personal besetzt. Es folgte die Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten – der größte Teil der Fraktion wurde nach und nach durch Verhaftungen dezimiert. Die Verhaftung und der Prozess des damaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş wurden inzwischen selbst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeprangert. Zu den Operationen gegen die politischen Organisierungen (die HDP verfügt vor allem unter der kurdischen Bevölkerung über eine breite und aktive Basis) kommt das fortgesetzte Schikanieren der Bevölkerung im Südosten durch Abschalten von Strom und Wasser sowie periodisch verhängte Ausgangssperren.

Die politischen Entwicklungen der letzten drei Jahre im Inneren der Türkei stellen einen Prozess dar, der sich kaum als politischer Erfolg des Erdoğan-Regimes bezeichnen lässt. Trotz fortgesetzter Massenverhaftungen, einem umfassenden System von Bespitzelung und Zensur ist die demokratische Opposition vor allem um die HDP, Frauenorganisationen und Gewerkschaften nicht verstummt, auch wenn die Reihen außerhalb der überfüllten Gefängnisse sichtlich ausgedünnt sind.

Der Versuch der AKP, die Feinde ihres Projektes nachhaltig auszuschalten, hat den Widerstand vor allem auf zwei Ebenen verlagert: in die Gefängnisse und in den Kampf der Guerilla in den Bergen. Im Winter 2016/17 fand der letzte zweimonatige Massenhungerstreik von Gefangenen mit der Forderung nach Freilassung Abdullah Öcalans statt – dem Schritt, der als gleichbedeutend mit einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage und der Krise der Region bewertet wird und dem ein ähnlicher Bedeutungshintergrund zugeschrieben wird wie einst der Freilassung Nelson Mandelas – dem politischen Akt, der das Ende des Apartheidsregimes in Südafrika einleitete. Seit Mitte November hat eine neue Welle von Hungerstreiks und weltweiten Solidaritätsbekundungen mit den Gefangenen und ihren Forderungen begonnen. Angesichts der fortgesetzten Krise könnte dieser Hungerstreik die Dimensionen von 2016 noch übersteigen.

Auf anderer Ebene gelingt es der türkischen Armee und Konterguerillakräften (einem System von kasernierten Spezialeinheiten, Geheimdienstnetz, paramilitärischen Kräften und einem dichten Netzwerk von Armeestützpunkten im gesamten kurdischen Südosten und angrenzenden Territorien) nach wie vor nicht, die Kontrolle über die kurdischen Gebiete zu etablieren. Die Guerillakräfte der PKK und deren Bündniskräfte aus der marxistischen türkischen Linken, der HBDH (Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker) sind im gesamten kurdischen und in großen Teilen des Gebietes der Türkei präsent. Trotz aller technologischen und absoluter materieller Überlegenheit verzeichnen die türkischen Kräfte immer wieder schwere Verluste, die von Staatsseite prinzipiell vertuscht und beschönigt werden. Die Kontrolle durch das Militär beschränkt sich auf die Städte und die unmittelbare Umgebung der Stützpunkte. Die Militärstrategie kombiniert strukturelle Besetzung (Stützpunkte, Staudamm- und Straßenbauprojekte, Ausgangssperren) und großangelegte kurzfristige Operationen in Gebieten, in denen Guerilla-Kräfte vermutet werden – die zumeist ohne Resultate enden. Die Kampffähigkeit der türkischen Armee befindet sich auf einem Tiefpunkt, wie der Krieg im Norden und der Widerstand von Efrîn vor Augen führen, welches letztendlich nur durch Massenbombardierung und gezielte Massakrierung der Bevölkerung eingenommen werden konnte. Entsprechend ergebnislos verlief bisher die angepriesene Zerschlagung der PKK, die am 27. November den 40. Jahrestag ihrer Gründung beging.

Staatskrise und Chance auf Demokratie und Erneuerung

Der türkische Staat ist von einer tiefen Krise gezeichnet. Zu den inneren Erschütterungen und Konfliktlinien kommen sich verstärkende Widersprüche auf regionaler und internationaler Ebene: Fortgesetzte Unstimmigkeiten mit den USA, ein EU-Beitrittsprozess, dessen offizielle Beendigung wohl nur noch eine Formalie darstellt; dazu kommt eine Wirtschaftskrise und der Absturz der türkischen Lira. All das sind Folge- und Nebenerscheinungen einer Staatskrise, die sich zuallererst auf die Grundlage türkischer Nationalstaatlichkeit bezieht. Der türkische Staat beruht seit seiner Gründung 1923 auf der Idee einer homogenen Staatsnation – die Türkei als Staat aller Türken. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jede abweichende Identität und Behauptung von kultureller und nationaler Vielfalt mit Staatszersetzung und Separatismus gleichgesetzt wird. Der kulturelle Widerstand und die Behauptung einer kurdischen Identität, der durch den Kampf der PKK seit den siebziger Jahren geführt wurde, könnten sich tatsächlich zur Bedrohung des Fortbestandes für den türkischen Staates erweisen. Die türkische Regierung hat bereits klargemacht, was sie von der Idee einer demokratischen Türkei und einer Erneuerung der ideellen Grundlage des Staates hält. Ihr Beharren auf „einem Volk, einer Sprache, einem Land, einer Fahne“, auf Kriegspolitik und systematischer Unterdrückung jeglicher Opposition und ihr kompromissloser Wille, die PKK und die kurdische Bewegung endgültig zu vernichten, könnten die AKP-Regierung und ihr Projekt einer erneuerten, starken Zentralmacht Türkei, die über regionale Hegemonie verfügt, schon bald ihrem historischen Ende zuführen. Wie lange eine solche Entwicklung dauern wird und wie groß die Verwüstungen ihres Untergangs sein werden, hängt vor allem von der Einheit, Stärke und Beharrlichkeit der demokratischen Opposition in der Türkei ab, die Vision einer demokratischen Türkei der Vielfalt und des Zusammenlebens gegen alle Angriffe zu verteidigen.