Der Name Halim Dener ist heute für viele kurdische Aktivist:innen, aber auch für viele deutsche Linke kein unbekannter. Mit dem Schicksal des geflohenen kurdischen Jugendlichen, der in Deutschland Schutz suchte, und stattdessen am 30. Juni 1994 den Tod durch die Kugel aus der Waffe eines deutschen Polizisten fand, verbinden sich verschiedene politische Entwicklungslinien und Konflikte. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und einem faschistisch agierenden türkischen Staatsapparat, der in seinem Krieg gegen Kurdistan und in der Repression gegen kurdische Aktivist:innen seit Jahrzehnten durch die deutschen Behörden und deutsche Waffen unterstützt wird.
Staatliche Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung
„Alle staatliche Herrschaft versucht, bestehende gesellschaftliche Fragen, wie die kurdische Frage, durch Gewalt und Macht zu unterdrücken, soweit sie sich nicht im Sinne ihrer Interessen befrieden lassen. Dieser Aspekt der Kriminalisierung und Repression gesellschaftlicher Bewegungen ist mit ursächlich für den Tod Halim Deners. Die Freiheitsbewegung Kurdistans, die sich um die Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und Abdullah Öcalan seit Anfang der 1970er Jahre herum gebildet hat, hat eine linke Antwort auf die kurdische Frage formuliert. Mit ihrer Suche nach gesellschaftlicher Befreiung war sie den Herrschenden von Anfang an ein Dorn im Auge, in Kurdistan und der Türkei genauso wie international. Die BRD hat aufgrund ihrer antikommunistischen Staatsraison und ihrer historisch engen Beziehungen zur Türkei bei der Politik und Repression gegen die Bewegung eine führende Rolle innerhalb der NATO übernommen und pflegt das besonders innige Verhältnis zur türkischen Regierung trotz immer wieder zur Schau getragener taktischer Uneinigkeit. Daher wurde bereits Jahre vor dem Erlass des PKK-Verbots Druck auf die Bewegung ausgeübt, eigentlich seit den 1980er Jahren, als sich die Bewegung auch in Deutschland zu organisieren begann. 1986, ein Jahr nach der Gründung der Volksbefreiungsfront Kurdistans (ERNK), hatte die Bewegung zu einer großen Newroz-Feier in Duisburg aufgerufen. Die Feier wurde verboten und gewaltsam verhindert, da das Gerücht aufgekommen war, Abdullah Öcalan würde in Duisburg auftreten und reden, was der Staat mit allen Mitteln verhindern wollte. An dieser Repression hält er in verschiedenen politischen Variationen und mit unterschiedlichen rechtlichen Werkzeugen bis heute fest. […]“ (Kampagne HD (2020): Staatlicher Interessensausgleich auf Kosten gesellschaftlicher Befreiung. In: „Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen“)
Flucht aus Nordkurdistan in den 1990er Jahren
Zu Halims Schicksal gehört aber auch die Geschichte von der Flucht nach Deutschland, in diesem Fall eines unbegleiteten Minderjährigen, der sich allein von Kurdistan bis nach Hannover durchschlug, nachdem türkisches Militär seinen Heimatort angegriffen und ihn und ihm Nahestehende gefoltert hatte. Es handelt sich hier um einen Jugendlichen, der sein Zuhause verlassen und in eine ihm fremde Gesellschaft fliehen musste, als Asylsuchender wie viele andere kurdische Jugendliche Anfang der 1990er Jahre. Was treibt aber einen 16-jährigen Jugendlichen zur Flucht?
Halim-Dener-Graffito am AJZ Bielefeld
In den 1980er und 1990er Jahren wurden regelmäßig Razzien des türkischen Militärs in den kurdischen Dörfern durchgeführt. Der Aufstand der kurdischen Bevölkerung wurde von der türkischen Regierung nicht mit politischen Mitteln und Gesprächen mit der damals politisch arbeitenden kurdischen Opposition beantwortet, sondern mit brutalem militärischem Einsatz und Krieg, der keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nimmt. Die Kurd:innenfrage ausschließlich mit militärischen Mitteln lösen zu wollen, gehört auch heute zu den wichtigsten Fluchtgründen der Kurd:innen aus Kurdistan. Neben dem Militäreinsatz und dem über kurdische Gebiete verhängten Kriegsrecht wurde hier vom türkischen Staat eine Politik der Entvölkerung und Vertreibung sowie eine systematische Vernichtung agrarischer Lebensgrundlagen und die Zerstörung kurdischer Siedlungen betrieben. Hunger, die Schließung von Gesundheitszentren sowie eine hohe Kindersterblichkeit in Nordkurdistan taten ihr Übriges, um Kurd:innen zur Flucht zu bewegen. So kam jede:r fünfte in Deutschland anerkannte Asylbewerber:in in den 1990er Jahren aus Kurdistan. Die aggressive Stimmung gegen Kurd:innen Anfang der 1990er Jahre lässt sich mit einem Zitat der türkischen Präsidentin Tansu Çiller anlässlich des Wahlkampfes beschreiben: „Jede Stimme für mich, ist eine Kugel gegen die PKK“. Dem Bericht einer Untersuchungskommission des türkischen Parlaments von 1998 zufolge wurden zu diesem Zeitpunkt insgesamt 3.428 Dörfer zerstört und drei Millionen Kurd:innen zu Flüchtlingen. 5.500 Zivilist:innen wurden in diesem brutalen Krieg getötet, 17.000 verletzt. 2.200 von 5.000 Schulen und 740 von 850 Gesundheitsstationen wurden geschlossen. Hinzu kamen Maßnahmen des Staates wie Weideverbot und Verminung der Almwege. In diesen Jahren haben insgesamt (von 1987 bis 2000) ca. 300.000 Kurd:innen in der BRD Asyl beantragt. An Aktualität hat die Flucht von Kurd:innen auch heute nicht verloren. Laut BAMF waren beispielsweise 2016 etwa 29 Prozent aller Geflüchteten aus Syrien Kurd:innen. (Kampagne HD (2020): Zu den Hintergründen der Flucht von Kurd:innen in den 1990er Jahren. In: „Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen“)
Rassistische Polizeipraxis
Parallel zu der beschriebenen Situation in Kurdistan und der Türkei wurde hier in der BRD nach dem PKK-Verbot gegen Kurd:innen Anfang der 1990er Jahre in der politischen und medialen Öffentlichkeit aggressiv Stimmung gemacht. In den Medien wurde eine umfassende Hetze betrieben und ein Klima der Angst erzeugt. „Neue Dimension des Terrors“ war eine Schlagzeile. Federführend dabei war der damalige Bundesinnenminister Kanther. Er forderte die Abschiebung aller Kurd:innen. Der Polizei wurde freie Hand gegeben. Auf den Polizeiwachen hingen Plakate mit dem Hinweis: „Kurden nur mit gezogener Waffe kontrollieren“. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann erklärte damals die PKK zum „Hauptfeind der inneren Sicherheit“. Die sogenannten verdachtsunabhängigen Kontrollen aller Schwarzköpfe – so der Jargon der Polizei – war an der Tagesordnung. Die Kontrollen wurden nicht selten mit gezogener Waffe durchgeführt. Heute heißt das Vorgehen racial profiling und ist immer noch und immer wieder tödlich für die Betroffenen. Wir erinnern an Oury Jalloh und Christy Schwundeck und etwa 200 weitere Todesfälle seit 1990 von Schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus betroffenen Personen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in Deutschland.
Gedenkdemonstration zum 24. Todestag, 14. Juli 2018, Hannover
Diese rassistische Polizeipraxis wurde Halim zum Verhängnis. Halim Dener ist als Jugendlicher vor dem türkischen Folterstaat in die BRD geflohen. Seinem Widerstand gegen die türkische Aggression gegenüber Kurd:innen hat er hier in Hannover mit Plakaten Ausdruck verliehen. Dabei wurde er von zwei Polizisten gestellt und floh. Während dieser Flucht traf ihn der Schuss aus der Waffe eines der Beamten. In dieser Nacht vom 30. Juni 1994 starb der sechzehnjährige Halim durch einen Schuss aus der Waffe eines deutschen Polizisten. Er wurde so zu einem von vielen Opfern rassistischer Polizeigewalt – zu einem von vielen Todesfällen, die von der deutschen Justiz nie befriedigend aufgeklärt wurden. Was ihm hier zum Verhängnis wurde, ist neben der von Rassismus durchzogenen Polizei letztlich auch eine Außenpolitik, die die Bundesregierung bis heute konsequent verfolgt: Ganz im Sinne des AKP-Regimes geht die BRD rigoros gegen all jene vor, die sich mit der kurdischen Freiheitsbewegung solidarisieren. Anstatt die Bemühungen um eine progressive Gesellschaft, die auf Geschlechterbefreiung, Ökologie und Basisdemokratie aufbaut, zu unterstützen, kriminalisiert die BRD all jene, die das tun, und versorgt den türkischen Staat mit Waffen für die Zerstörung dieser gelebten Utopie. Die deutschen Sicherheitsbehörden verwischen dabei die Grenzen von Innen- und Außenpolitik und nutzen jeden Vorwand, um gegen die kurdische Freiheitsbewegung in Deutschland vorzugehen.
Erinnerung jenseits offizieller Politik
Der Fall Halim Dener ist also ohne den zeitgeschichtlichen Kontext der frühen 1990er Jahre, ohne die Berücksichtigung der Migrationsgeschichte, dem Verhältnis Türkei-BRD-Kurdische Diaspora sowie dem System rassistischer Polizeigewalt nicht zu verstehen. Zudem ist dieser Fall ein fester Teil der Geschichte der Stadt Hannover und bedarf der Aufarbeitung im Sinne einer würdevollen Erinnerungskultur. Auch wenn die offizielle Politik keinen Raum für einen Gedenkort zulässt, ist es unser aller Pflicht, gemeinsam zu gedenken und Widerstand zu leisten. Was die Gesellschaft aufrechterhält und existieren lässt, ist nicht die Stadt, die Polizei oder die staatliche Rechtsordnung, sondern das moralische Element und das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft. Wir brauchen von den Nationalstaaten der kapitalistischen Moderne nichts zu erwarten. Wir kennen ihre Prinzipien und Werte. Wir wissen, was für Menschen sie hervorbringen: Menschenmassen, die nicht einmal für die schwersten ökologischen Katastrophen Verantwortung empfinden. Lasst uns den kollektiven Verstand und die Arbeitsfähigkeit der gesellschaftlichen Praxis stärken, um erfolgreich in Richtung einer lebenswerteren Realität zu wirken. Am Beispiel eines Gedenkortes für Halim lässt sich das Phänomen gut beschreiben: Aktivist:innen aus Hannover haben gemeinsam mit der Kampagne Halim Dener auf eine Platzbenennung bestanden. Die Stadt hat sich entschieden dagegen gestellt und jegliche Forderungen nach einem Gedenkort, einer Ausstellung oder einer Dokumentation bisher abgelehnt. Nichtsdestotrotz wird der von den Aktivist:innen geforderte Gedenkort von Hannoveraner:innen „Halim Dener Platz“ genannt. Selbst die Suchmaschine „Google“ erkennt den Ort als „Halim Dener Platz“ an. Auch an einer Dokumentation in Form eines Buches „Halim Dener. Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen“, erschienen im Sommer 2020, haben demokratische Kräfte der Gesellschaft mitgewirkt und eine Veröffentlichung auch ohne die Unterstützung der Stadt Hannover realisiert. Ein Ergebnis gesellschaftlicher Praxis, eine Erinnerung und Würdigung jenseits offizieller Politik.
Auch dieses Jahr wird es Gedenkkundgebungen, Demonstrationen und Aktionen rund um den Jahrestag von Halims Tod in Hannover geben.
Dieser Artikel erschien zuerst im Kurdistan-Report