Halim-Dener-Graffito: OLG Hamm rügt Gesinnungsjustiz

Das AJZ Bielefeld hat eine Stellungnahme zum Urteil auf die Revision gegen einen Freispruch im Fall des Halim-Dener-Graffito veröffentlicht. Das OLG äußert sich ungewöhnlich scharf zu dem Ansatz von Gesinnungsjustiz bei den örtlichen Verfolgungsbehörden.

Vergangene Woche hat das Oberlandesgericht (OLG) Hamm entschieden, dass die Weigerung, ein Wandbild von Halim Dener von der Hauswand des autonomen Arbeiterjugendzentrums (AJZ) Bielefeld zu entfernen, strafrechtlich nicht zu verfolgen ist. In seinem Urteil auf die Revision gegen einen Freispruch der Staatsanwaltschaft Bielefeld stellt das OLG in erstaunlich deutlicher Art und Weise klar, dass eine strafrechtliche Verfolgung des Vereinsvorsitzenden auch nicht mit der von der Staatsanwaltschaft angenommenen (linken) Gesinnung des Vereins, des Vorstandes oder seiner Mitglieder begründet werden kann. An mehreren Stellen des Urteils äußert sich das OLG Hamm äußerst scharf zu den rechtlichen Ausführungen der Staatsanwaltschaft Bielefeld und der Generalstaatsanwaltschaft beim OLG Hamm und dem darin verfolgten Ansatz von Gesinnungsjustiz. Nachfolgend veröffentlichen wir eine Stellungnahme des AJZ Bielefeld:

Was zuvor geschah

Am 30. Juni 1994 wurde der 16-jährige Kurde Halim Dener in Hannover beim Plakatieren von der Polizei in den Rücken geschossen. Der tödliche Schuss traf ihn, während er Plakate mit dem Symbol der ERNK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans) aufhängte. Schockiert und wütend über diesen Mord malte ein junger Sprayer ein Gedenk-Graffito auf den Rollladen des Infoladen Anschlag im Gebäude des AJZ an der Heeper Straße 132 in Bielefeld.

23 Jahre später, im Februar 2018, forderte die Polizei Bielefeld, aufgrund eines anonymen Hinweises, den Vereinsvorsitzenden des AJZ-Vereins auf, das Graffito zu beseitigen, weil es das Symbol einer verbotenen kurdischen Organisation zeigen würde. Die Hausversammlung des AJZ lehnte dies ab und veröffentlichte eine Erklärung dazu. Daraufhin wurde das nunmehr beendete Strafverfahren in Gang gesetzt. Vor dem Amtsgericht Bielefeld wurde der angeklagte Vereinsvorsitzende wegen des Verwendens (in Form des Nichtentfernens) eines Kennzeichens eines verbotenen Vereins am 23. September 2019 zu einer Geldstrafe verurteilt. Vom Landgericht Bielefeld wurde der Vorsitzende am 17. Juni 2020 wiederum freigesprochen, mit der Begründung, dass diesen keine strafbewehrte Garantenpflicht zur Beseitigung der Abbildung treffen würde. Das Nichtentfernen sei daher nicht strafbar. Der Freispruch wurde – auf die Revision der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch hin – jetzt nach einer mündlichen Verhandlung vor dem OLG Hamm am 23. November 2020 bestätigt.

Unzulässige Gesinnungsstrafbarkeit – Freispruch!

Die Staatsanwaltschaft Bielefeld hatte in ihrer Revisionsbegründung (der sich die Generalstaatsanwaltschaft angeschlossen hatte) darauf abgestellt, dass die politische Entscheidung des AJZ, „die Öffentlichkeitswirkung des verfahrensgegenständlichen Graffiti zur Demonstration der eigenen Kritik an den in der Türkei herrschenden politischen Verhältnissen zu instrumentalisieren,“ besonders zu berücksichtigen sei. Deshalb sei der AJZ-Verein, im Gegensatz zu anderen „normalen“ Gebäudeeigentümern, die unstreitig nicht verantwortlich für die Entfernung eines Graffitos seien, von diesen zu unterscheiden. Die Generalstaatsanwaltschaft steigerte diese Argumentation noch und führte zu der Entscheidung des Landgerichts Bielefeld weiter Folgendes aus: „Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass der von dem Angeklagten geleitete Verein zu keinem Zeitpunkt bereit war und nach wie vor nicht ist, das verfahrensgegenständliche Bild von seinem Haus zu entfernen. Es war ersichtlich in hohem Maße naheliegend, dass der Grund für diese Weigerung in der eigenen politischen Ausrichtung des Arbeiterjugendzentrums begründet ist.“ Die Generalstaatsanwaltschaft fand, dass das Landgericht bei seinem Freispruch den Aspekt der politischen Ausrichtung des AJZ verkannt habe.

Diese Ausführungen hält das OLG Hamm laut der Urteilsbegründung nicht nur für „rechtlich unzutreffend, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für verfassungswidrig“.

Und weiter: „Die hierzu gemachten Ausführungen der Staatsanwaltschaft sowie der Generalstaatsanwaltschaft lassen indes befürchten, dass hier in höchst bedenklicher Weise eine ‚Gesinnungsstrafbarkeit‘ erstrebt wird, die seit Geltung des Grundgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig ist.“

Und auch wenn es für die Entscheidung des OLG Hamm darauf rechtlich gar nicht ankam, machte dieses trotzdem auch Ausführungen zu der grundlegenden Bewertung des Graffito. Denn das OLG Hamm führt aus, dass einiges dafür spricht, „dass die streitgegenständliche Abbildung unter die Sozialadäquanzklausel der §§ 20 Abs. 1 Satz 2, 9 Abs. 1 Satz 2 VereinsG fällt.“

Das bedeutet, dass hinsichtlich der Verwendung von sogenannten verbotenen Symbolen immer auch der Kontext, in dem dies geschieht, zu beachten ist und auch die Verwendung von eigentlich verbotenen Symbolen „sozialadäquat“ sein kann. Das OLG Hamm ist der Ansicht, dass es sich in dem Fall unseres Bildes mindestens ähnlich verhält. Denn der Fokus des Graffito sei „ohne Zweifel zumindest in erster Linie darauf gerichtet“ gewesen, auf die Tötung von Halim Dener hinzuweisen.

In der mündlichen Urteilsbegründung des OLG Hamm wurde von dem Vorsitzenden Richter darüber hinaus angemerkt, dass seitens des Senats bezweifelt wird, dass ein ordnungsrechtliches Verfahren hinsichtlich der Beseitigung des Bildes Erfolg haben würde. 

Dass sich Polizei und Staatsanwaltschaft in Bielefeld in den Kriminalisierungsversuch verbissen haben, wurde auch daran deutlich, dass gegen den Anmelder einer Solidaritätskundgebung, die anlässlich des erstinstanzlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht Bielefeld stattfand, ein Strafbefehl erlassen wurde, weil er sich geweigert hatte, ein Transparent zu entfernen, das ein Abbild des kriminalisierten Graffito zeigte. Ein Einspruch gegen den Strafbefehl wurde bereits eingelegt. Es bleibt zu hoffen, dass die Staatsanwaltschaft nicht vor hat, auch deswegen in mehrere Runden zu gehen.

Leider zeigt uns aber auch die Reaktion einer der Lokalzeitungen, dass unser Graffito und die Erinnerung an Halim Dener einigen – nachdem sie erst 2018 auf das nun seit 26 Jahren unübersehbare Bild aufmerksam wurden – weiterhin ein Dorn im Auge bleiben wird. So schreibt die Neue Westfälische, die anscheinend zu einer anderen juristischen Bewertung der Sozialadäquanz des Bildes kommt als das OLG Hamm, in ihrem Bericht vom 27. November 2020, dass das Symbol verboten sei und eigentlich entfernt werden müsste. Die anschließende Frage des Autors, „mit welchen Mitteln“ dies durchsetzbar sei, wirkt wie ein Aufruf, weiterhin gegen das Bild vorzugehen. Welche Mittel ihm dafür recht sind, lässt sich nur erahnen.

Für uns bleibt es dabei: Hände weg von unserem Graffito!

Das Halim-Dener-Graffito an unserem Haus ist uns wichtig. Es erinnert nicht nur an den Mord im Jahr 1994 und hat daher auch historischen Wert und eine Bedeutung als Gedenkzeichen. Es erinnert auch an den Sprayer, der das Bild damals gemacht hat und der nicht mehr lebt. Darüber hinaus ist das Graffito mittlerweile auch Symbol für die Kriminalisierung von Seiten des deutschen Staates und die Versuche, jedes Zeichen des kurdischen Widerstandes aus der öffentlichen Wahrnehmung zu beseitigen. Und für die Gegenwehr dagegen!

Auch wenn wir denken, dass die Feststellung des OLG Hamm zu dem Punkt der „Gesinnungsstrafbarkeit“ eher einem Ideal als der Realität entspricht – denn sicherlich gab es seit Geltung des Grundgesetzes einige Urteile, bei denen die „linke“ Gesinnung maßgeblicher Teil der Bewertung waren (und in diesen Zusammenhang möchten wir nur an die Berufsverbote erinnern) –, freuen wir uns natürlich sehr über das Ergebnis und über die uns während der Auseinandersetzung entgegengebrachte Solidarität von so vielen Seiten.