Eine Systemfrage
Die Herrschenden sind sich uneinig, wie sie auf die Corona-Krise reagieren sollen – dies sollten die Beherrschten ausnutzen, um sich einzumischen, fordert Nick Brauns.
Die Herrschenden sind sich uneinig, wie sie auf die Corona-Krise reagieren sollen – dies sollten die Beherrschten ausnutzen, um sich einzumischen, fordert Nick Brauns.
Ein Impfstoff gegen das Coronavirus ist noch nicht gefunden und wird wohl bis zu seiner Zulassung noch Monate auf sich warten lassen. Die Lungenkrankheit Covid-19 kostet so weiterhin täglich weltweit Tausende Menschenleben. Auch in Deutschland verbreitet sich das Virus kräftig weiter – obwohl die rigiden Maßnahmen, die das öffentliche Leben rund zwei Monate lang zu erliegen brachten, die Ausbreitung soweit eindämmen konnte, dass es bislang nicht zur befürchteten Überlastung des Gesundheitssystems gekommen ist. Schulen, Kneipen, Einzelhandel, Sportstätten und Spielplätze waren wochenlang komplett dicht, selbst Gottesdienste in Kirchen und Moscheen waren untersagt. In einigen Bundesländern war es gar verboten, alleine im Park auf einer Bank ein Buch zu lesen.
Allerdings waren diese Maßnahmen vom Standpunkt der Pandemiebekämpfung von Anfang an inkonsequent. Denn in Fabriken, auf Baustellen, in Call-Centern und Lagerhallen wurde weiter dicht an dicht geschuftet und die Lohnabhängigen mussten vielfach in überfüllten U-Bahnen zu ihren Arbeitsplätzen fahren. In den Fertigungs- und Lagerhallen drängen sich hunderte Arbeiterinnen und Arbeiter. Doch sobald sie durch das Werkstor auf die Straße treten, dürfen sie nur noch maximal in Zweiergruppen laufen. Gleichzeitig nutzt die Bundesregierung die Gunst der Stunde zu massiven Angriffen auf die Rechte der Lohnabhängigen, um Arbeitszeitverlängerungen und Sonntagsarbeit zu ermöglichen. Doch Proteste dagegen auf der Straße bleiben wesentlich untersagt, obwohl das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auch unter den Maßgaben des Pandemieschutzes weiter zu gelten habe. Zusammenfassend lässt sich die Lage wie folgt beschreiben: Als Lohnabhängige werden die Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert und unter Ausnutzung der Krise gar einer verschärften Ausbeutung unterworfen, während sie zugleich als Bürger im Namen der Virusbekämpfung ihrer Grundrechte beraubt werden.
Dass in Deutschland anders als im nahen Italien oder in Frankreich bislang kein Massensterben aufgrund von Covid-19 erfolgte, wird von Kritikern des Lockdowns nun als Argument herangezogen, diese Eindämmungsmaßnahmen nun schnell zu lockern. In mehreren Bundesländern findet bereits für einige Jahrgangsstufen wieder Schulunterricht statt, obwohl es in vielen Schultoiletten nicht einmal Seife gibt. Der Einzelhandel darf wieder öffnen. Und eine Wirtschaftslobby, zu deren Sprechern sich insbesondere der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Laschet, FDP-Chef Lindner und die BILD-Zeitung machen, drängt auf noch weitergehende Lockerungsmaßnahmen. Unterstützung erfährt diese Lobby auch von den Faschisten der AfD, unter denen nicht wenige in ihrer irrationalen Wissenschaftsfeindlichkeit die Gefährlichkeit des Coronavirus gänzlich leugnen.
Für diese Lockerungslobby steht nicht die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger, sondern der kurzfristige Profit der durch die Corona-Krise schwer getroffenen Wirtschaft im Vordergrund. Die keineswegs kapitalismuskritische Bundeskanzlerin dagegen, die mit ungewöhnlich scharfen Worten die „Öffnungsdiskussionsorgien“ mancher Landesregierungen gescholten hat, muss als Vertreterin des ideellen Gesamtkapitals gegen die kurzfristigen Partikularinteressen einzelner Unternehmen auch das längerfristige Interesse des kapitalistischen Systems als Ganzem im Blick behalten. Und dessen möglichen Zusammenbruch hatten die Autoren eines nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums für den Fall vorhergesagt, dass sich die Pandemie in Deutschland hemmungslos ausbreiten und hunderttausende Menschen in den Tod reißen würde. Weltweit und auch in Deutschland haben die Pandemie und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen zu massiven wirtschaftlichen Einbrüchen und der seit Jahrzehnten schwersten Krise geführt. In dieser Situation versuchen Bundes- und Landesregierungen mit Milliardenhilfen in nie gekannter Höhe vor allem für das Großkapital, aber auch per Gießkannenprinzip über andere Bevölkerungsschichten verteilte Zuschüsse das System als Ganzes zu erhalten. Die deutschen Konzerne sollen nach dem Ende der Krise eine bessere Startposition als ihre Konkurrenten in ärmeren Ländern haben, so die Absicht. Um langfristig die Macht des Kapitals und seine Verfügungsgewalt über die Lohnarbeit insgesamt zu erhalten, ist die Bundesregierung kurzfristig auch bereit, einschneidende Maßnahmen zu treffen, die nicht in der Logik des Marktes liegen.
Dass Corona eine Systemfrage ist, zeigt sich auch im internationalen Maßstab. So endet die vielbeschworene europäische Solidarität bei Corona. Während die italienische Regierung verzweifelt angesichts des Massensterbens die europäische Gemeinschaft um Hilfe bittet, blockiert insbesondere die deutsche Kanzlerin Merkel die von Italien geforderten Euro-Bonds, mit denen ärmeren und stärker von der Pandemie betroffenen EU-Ländern durch gemeinsame Schuldenaufnahme geholfen werden soll. Angeheizt von populistischen Politikern kocht in Italien entsprechend die Wut auf „Hitlers Enkel“. Italien, aber auch Frankreich und Spanien haben auch deswegen eine so hohe Todesrate zu verzeichnen, weil die dortigen Gesundheitssysteme in den letzten Jahren auf Druck der EU – und das heißt konkret auf Druck der wirtschaftlich stärksten EU-Führungsmacht Deutschland – kaputtgespart und demontiert wurden. Doch für die Bundesregierung gilt weiterhin: die neoliberalen Grundlagen der EU dürfen nicht in Frage gestellt werden, egal wie viele Opfer dies kostet.
Ausgerechnet die USA als kapitalistische Führungsmacht werden besonders schwer von der Pandemie getroffen. Wobei auch dort die ärmeren Bevölkerungsgruppen, unter denen sich wiederum überdurchschnittlich viele Afroamerikaner befinden, die meisten Opfer bringen. Denn das US-Gesundheitssystem ist rein profitorientiert, Millionen Menschen haben keinerlei Krankenversicherung. Derweil rät US-Präsident Donald Trump in seiner Pressekonferenz dazu, sich zur Corona-Vorsorge Desinfektionsmittel zu spritzen – ein tödlicher Ratschlag. Und Trumps verblendete Anhänger blockieren mit Waffen in der Hand im Namen der „Freiheit“ in mehreren von der Demokratischen Partei regierten Bundesstaaten Krankenhäuser, um gegen einschränkende Maßnahmen der dortigen Gouverneure zur Zurückdrängung der Pandemie zu protestieren. Der ganze Irrsinn und die ganze Irrationalität des Spätkapitalismus – den Lenin zu recht schon vor über 100 Jahren als faulenden Kapitalismus bezeichnete – tritt hier zu Tage.
Dagegen organisiert das arme Kuba, das selbst seit Jahrzehnten schwer unter einer US-Blockade zu leiden hat, nicht nur in mustergültiger Weise den Schutz der eigenen Bevölkerung. Der sozialistische Inselstaat, der über ein flächendeckendes kostenloses Gesundheitssystem für alle seine Bürgerinnen und Bürger verfügt, entsendet auch Tausende Medizinerinnen und Mediziner in alle Welt, um anderen Ländern bei der Bekämpfung von Corona beizustehen. Kubanische Ärzte sind so nicht nur in verbündeten Staaten wie Venezuela im Einsatz, sondern auch im EU-Land Italien, das von seinen reichen Nachbarn im Stich gelassen wurde.
Ungeklärt und weitgehend spekulativ ist es, ob Corona durch den Verzehr von exotischen Wildtieren oder doch, wie einige meinen, durch einen Unfall in einem Labor in die menschliche Welt gelangt ist. Was sich schon jetzt sagen lässt, ist allerdings, dass die schnelle Verbreitung des Virus zur weltweiten Pandemie eine Folge der kapitalistischen Moderne ist. Es ist die Folge von hemmungslosem Industrialismus mit Raubbau an der Natur. Es ist die Folge einer immer schneller und umfassender globalisierten Weltwirtschaft, deren weltweite Fertigungsketten sich nach dem Profitprinzip und der Ausbeutung der billigsten Arbeitskräfte bilden. Auch der rücksichtslose Massentourismus spielt eine große Rolle bei der schnellen Verbreitung von Seuchen. Es ist auch die Folge eines in vielen Ländern der Marktlogik untergeordneten Gesundheitssystems, das Leben und Gesundheit zu Waren gemacht hat.
Wir wissen noch nicht, wann und unter welchen Opfern wir die Corona-Pandemie besiegt haben werden und wie unsere Welt dann aussieht. Die neoliberale Ideologie vom Markt, der alles richtet, dürfte dann in den Augen breiter Massen ebenso als Scharlatanerie entlarvt sein wie die dumpfen Parolen der Rechtspopulisten, die wie Trump, Erdogan oder der brasilianische Präsident Bolsonaro in ihrer Verbohrtheit Zigtausende dem sicheren Tod ausgeliefert haben. Doch die Gefahr ist groß, dass die herrschenden Klassen und die Regierenden viele der autoritären Ausnahmeregelungen, die heute von großen Teilen der besorgten Bevölkerung mitgetragen werden, als Dauerzustand beibehalten wollen. Offen ist damit, ob die linken und demokratischen Kräfte weltweit aus der Corona-Krise und der dadurch ausgelösten Schwäche des Systems die notwendigen antikapitalistischen Schlussfolgerungen zu seiner Überwindung ziehen können oder ob – wofür leider einiges spricht – die jetzige Krise vielmehr nur das Vorspiel für eine wesentlich schwärzere Zukunft sein wird. Die Verhandlungen darüber beginnen hier und jetzt und das bedeutet Klassenkampf. Denn auch unter Corona sind eben nicht alle gleichermaßen betroffen, sondern die Interessen der abhängig Beschäftigten am Schutz ihrer Gesundheit und an einem guten Leben stehen weiterhin gegen die Profitinteressen des großen Kapitals.
Der Artikel erschien zuerst auf Yeni Özgür Politika.