Zum Todestag von Walter Benjamin, der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940, veröffentlichen wir einen Beitrag der „Initiative Geschichte und Widerstand“ zur Auseinandersetzung mit dem Geschichtsverständnis des Philosophen, Kulturkritikers und Übersetzers. Angesicht des nahenden Nationalsozialismus entwickelte Benjamin seine Kritik am „Fortschrittsglauben“ an dem Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee. Die „Initiative Geschichte und Widerstand“ setzte sich mit diesem Bild und Benjamins Text „Angelus Novus“ auseinander und entwickelte aus der Neubetrachtung des Engels in den Trümmern der Geschichte die Perspektive für den Aufbau der Demokratischen Moderne:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“. (Walter Benjamin)
Diese Zeilen schrieb Walter Benjamin 1940 im Pariser Exil in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Vor ihm muss das Bild von Klee gehangen haben, das er seit 1920 immer mit sich führte. Er muss in die Augen des Engels geschaut haben, in denen er seine eigene Ohnmacht erblickte.
Doch die Trümmer, die sich vor dem Engel auftürmen und auf die er schaut, sind nicht zu sehen auf dem Bild von Klee. Sie befinden sich außerhalb des Bildes, in der Realität Benjamins. Und betrachten wir heute das Bild von Neuem, beschreiben die Zeilen Benjamins auch unsere Realität. Wo sonst, als unter unseren eigenen Füßen, sieht der Engel mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen, erstarrt in Ohnmacht, die Trümmer der Geschichte. Die Trümmer zerschlagener Gesellschaften, Heiligtümer und Werte. Diese Trümmer häufen sich, wachsen bis zum Himmel, bis der Engel schon fast nicht mehr über diese Katastrophen hinwegschauen kann, auf den Ursprung dieser Macht, die Zerstörung bringt.
Walter Benjamin 1935, fotografiert von Gisèle Freund
Es ist der Faschismus, auf den Walter Benjamin 1940, durch die Augen des Engels von Klee, schaut. Alles Göttliche und Schöne, das der Engel anpries, ist verdunkelt, überschattet von der nahenden Katastrophe. Doch der Sturm weht vom Paradiese her, vom Zustand des Menschen in Einklang mit der Gemeinschaft und der Natur, nicht vom Faschismus. Mit dem Beginn der Zivilisation, dem System, das den Menschen aus diesem Zustand schleuderte, hat der Sturm seine Kraft entfaltet und immer weiter an Stärke gewonnen. Dieser Sturm ist nicht der Moment einzelner, voneinander losgelöster, banal erscheinender Begebenheiten, sondern die Kontinuität der Katastrophen. Es ist der Sturm der Herrschaft, des Patriarchats und der Entfremdung, vom Aufbau der ersten Staaten bis hin zum Faschismus. Und dieser Sturm hat sich auch in uns verfangen. Reißt uns mit sich, treibt uns unweigerlich vor sich her. Hindert auch uns daran, inne zu halten, zurückzukehren und unsere verloren gegangen Werte zusammenzufügen.
Im entsetzten Blick der weit aufgerissenen Augen des Engels spiegelt sich die Erkenntnis, dass dieser Sturm des Fortschritts nicht in den Sozialismus, sondern in die Barbarei des Faschismus führt. In ihnen spiegelt sich das Entsetzen Vieler, die an die Vernunft der Menschen glaubten und dachten, dass der Fortschritt zum besseren Leben für alle, zur Vollkommenheit der Menschheit führen würde. Sie müssen nun erkennen, dass er stattdessen in das Grauen des Faschismus und der industrialisierten Vernichtung von Millionen von Menschen führt.
Doch auch wenn die Trümmer sich häufen und der aufgewirbelte Staub der zusammenstürzenden Gesellschaften das Bild verdunkelt haben, so ist es hell hinter dem Engel. Verfangen im Sturm, kann er sich nicht umdrehen, das Licht nicht sehen, doch es ist immer da. Hinter ihm tut sich die Zukunft auf, die die Trümmer, nicht der Zivilisation der Macht, sondern der ethisch-demokratischen Gesellschaft wieder zusammensetzen wird. So groß die Trümmer angesichts des Faschismus auch sind, nicht alles konnte zerschlagen werden. Im Blick zurück unter den Trümmern können wir den Widerstand der demokratischen Kräfte finden. So kann das Ursprüngliche der Menschheit wieder zusammengefügt werden, im Aufbau der Demokratischen Moderne.
„Angelus Novus“ von Paul Klee, geschaffen 1920 | gemeinfrei