Die Strategie des revolutionären Volkskrieges in Kurdistan

In Kurdistan könne nur mithilfe des revolutionären Volkskrieges eine langlebige Alternative zur kapitalistischen Moderne geschaffen werden, meint Dirok Hevî. Dies setze aber eine stark organisierte Gesellschaft voraus.

In den letzten Wochen und Monaten wurde in Bezug auf den Krieg in Kurdistan immer wieder von der Strategie des revolutionären Volkskrieges gesprochen. Nicht zuletzt beim vierten Kongress der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM) Anfang Februar 2022 in Rojava/Nord- und Ostsyrien, bei dem ein Schwerpunkt auf der Organisierung des revolutionären Volkskrieges lag. Als Strategie wurde er 2010 von Abdullah Öcalan vorgeschlagen, um damit die stockenden Verhandlungen mit dem faschistischen türkischen Staat voranzubringen. Seitdem wird beständig an der Umsetzung dieser Strategie gearbeitet, die wir hier genauer betrachten wollen, um die Entwicklung seitdem besser verstehen zu können. Auch, weil sich heute in allen Teilen Kurdistans revolutionäre Kräfte an ihr orientieren.

Historische Einordnung

Als am 15. August 1984 der bewaffnete Kampf der PKK gegen den türkischen Kolonialismus für die Wiederbelebung der kurdischen Existenz begann, war das erklärte Ziel – wie bei allen nationalen Befreiungsbewegungen dieser Zeit – die Errichtung eines eigenen Staates. Dabei wurde in Kurdistan von Abdullah Öcalan der bewaffnete Kampf vornehmlich als ein Mittel der Selbsterhaltung und Selbstverteidigung verstanden, um damit den faschistischen türkischen Staat an den Verhandlungstisch zu zwingen. Die »kurdische Frage«, das war stets bewusst, würde nur durch Verhandlungen lösbar sein, der bewaffnete Kampf war daher nur ein Mittel, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen. In ähnlicher Weise beschrieb es Abdullah Öcalan dann auch in der Pressekonferenz mit Celal Talabanî, die am 19. März 1993 zur Verkündung des ersten einseitigen Waffenstillstandes der PKK abgehalten wurde. Die ständige Bereitschaft zum Dialog ist eine grundlegende Haltung Öcalans. Vielleicht wird das besonders deutlich am Beispiel des internationalen Komplotts gegen ihn, durch das er am 9. Oktober 1998 zum Verlassen Syriens gezwungen wurde. Öcalan sah zwei Möglichkeiten: Den Weg in die Berge zur Guerilla, der das Blutvergießen intensiviert hätte, oder den Weg nach Europa, um die „kurdische Frage“ auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Er entschied sich bekanntlich für Letzteres. Als auch nach vielen weiteren Versuchen von Seiten Öcalans der türkische Staat immer nur mit Hinhaltetaktiken und falschen Versprechungen antwortete und das Desinteresse der Türkei an einer Lösung offensichtlich wurde, entwickelte Öcalan, nachdem der türkische Staat auch bei den so genannten Osloer Verhandlungen keine Veränderung seiner Haltung zeigte, eine neue Strategie.

Eine neue Strategie ist notwendig

Statt auf einen „guten Willen“ der Türkei beziehungsweise der Besatzungs- und Ausbeutungsmacht zu setzten und eine abwartende Haltung einzunehmen, wird im Rahmen dieser neuen Strategie das Hauptaugenmerk stärker auf die Entwicklung einer eigenen Lösung gesetzt. Es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft zu Verhandlungen mit dem Feind, wenn er denn Willens ist, einen konstruktiven Prozess einzugehen; ist er es aber nicht, beginnen wir mit der Umsetzung unserer eigenen Vorstellung einer Lösung. Abdullah Öcalan sagte daher: Entweder eine einvernehmliche fundamentale Lösung oder revolutionärer Volkskrieg.

In diesem Zusammenhang spielt die mit dem neuen Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung in den Fokus tretende Idee des demokratischen Konföderalismus eine wichtige Rolle: Eine Konföderation von Räten und Kommunen, also eine Konföderation von Selbstverwaltungen. Die Kommune stellt sozusagen das Herz dieses Systems dar, weil dort die Menschen ihre Probleme besprechen und Entscheidungen treffen. Durch die Räte, die auf jeder Ebene – vom Dorf über die Stadt bis zur Region – existieren, sind alle in Entscheidungsprozesse mit eingebunden, wobei der Schwerpunkt, anders als beim zentralisierten Staat, auf der lokalen Ebene liegt. Anders gesagt: das Volk organisiert und leitet sich selbst. Dies betrifft alle Bereiche des Lebens. Öcalan hat neun zentrale Felder der Organisierung der demokratischen Autonomie vorgeschlagen. Von Frauenbefreiung, Selbstverteidigung, über Recht, Politik, Diplomatie, Soziales, Ökologie, Ökonomie bis hin zu Kultur. Alles zentrale Aspekte des Lebens einer Gesellschaft, ohne die sie nicht vernünftig fortbestehen kann. Es gibt also den Staat einerseits und die selbstverwaltete Gesellschaft andererseits; das wird zur zunächst verwirrend erscheinenden Formel Staat plus Demokratie zusammengefasst. Während der Staat also weiterhin auf seiner Politik der Verleugnung und Vernichtung beharrt, beginnt die Gesellschaft in jedem Bereich des Lebens sich selbst zu organisieren und ihre eigene Alternative aufzubauen. Das kann von Kooperativen im ökonomischen Bereich, über Kulturzentren bis hin zu einer alternativen, nicht staatlichen Gerichtsbarkeit reichen in Form von Versöhnungskomitees etc. Der Staat und die demokratische Autonomie existieren dann sozusagen nebeneinander. Dies führt dazu, dass entweder der Staat sich doch noch auf eine Lösung einlässt oder aber die Lösung trotzdem entsteht, weil der Staat im klassischen Sinne nicht mehr als Ansprechpartner gesehen wird. Er wird für die Menschen sozusagen überflüssig. In beiden Fällen erreicht die Gesellschaft ihr angestrebtes Ziel, die Einflusssphäre des kolonialistischen Staates zurückzudrängen und dagegen eine alternative Form von Gesellschaftlichkeit zu kreieren. Das „+“ in der Formel spiegelt sozusagen die Autonomie der Demokratie gegenüber dem Staat wider.

Eine zentrale Rolle in der Strategie des revolutionären Volkskrieges hat dabei ganz deutlich die Organisierung der Gesellschaft. Nur in einer organisierten Gesellschaft kann diese auf lange Sicht angelegte Strategie zum Erfolg führen, da nur sie Widerstandsfähigkeit besitzt. Wie bei einer Kette, deren Glieder, statt lose herumzuliegen ineinander verschlungen sind. Eine Alternative zum Staat zu schaffen bedeutet, ein Umdenken vor allem in Hinsicht auf die Mentalität zu erreichen, was ein sehr langwieriger Prozess ist, bei dem Bildung eine entscheidende Rolle spielt.

Ist die Gesellschaft organisiert, kann sie sich, jeder Teil auf seine Art und Weise, gegen Angriffe zur Wehr setzen – bewaffnet oder unbewaffnet, jedenfalls durch Teilnahme aller Lebensbereiche. Ganz klar jedenfalls aber ist, dass sich dieses System eben auch verteidigt.

Die Bedeutung von Selbstverteidigung für die Gesellschaft

Bekanntlich hat jedes Lebewesen auf die eine oder andere Weise einen Selbstverteidigungsmechanismus – ob eine Rose mit ihren Dornen oder ein Tiger mit seinen Krallen. Gleiches gilt natürlich auch für die Gesellschaft, deren vielleicht ursprünglichster Selbstverteidigungsmechanismus die Gesellschaftlichkeit als solche ist. Der Mensch verstand schon früh, dass er allein als Individuum nicht überlebensfähig ist. Über Jahrtausende nutzte die Gesellschaft sowohl Werkzeuge und später Waffen zur Verteidigung gegen z. B. wilde Tiere, aber sie entwickelte auch Moral und Ethik als Formen der Selbstverteidigung. Die Selbstverteidigung gehört mit dem Fortpflanzungs- und dem Überlebenstrieb zu den drei fundamentalen Trieben jedes Lebewesens. Weiterhin müssen wir auch die Notwendigkeit dieser Selbstverteidigung sehen, z. B. bei Angriffen auf die Werte einer Gesellschaft, gegen die Ausbeutung eines Landes etc. Wir sehen auch, wie in Kurdistan die Selbstverteidigung gegen die umfassenden Angriffe der Besatzerstaaten von zentraler Bedeutung ist. Sie stellt sozusagen die Grundvoraussetzung der Existenz dar. Nur dadurch, dass das Vernichtungs- und Verleugnungssystem gebremst werden konnte, konnten Freiräume zur gesellschaftlichen Organisierung geschaffen werden. Das selbstverwaltete System der Gesellschaft kann noch so stark und vital sein, solange es sich nicht verteidigen kann, wird es nicht lange überleben können. In Rojava ist das sehr deutlich zu erkennen; ohne die bestehende Selbstverteidigung wäre es nicht möglich, so ein selbstverwaltetes System über solch einen langen Zeitraum von fast zehn Jahren am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln. Auf der anderen Seite können wir auch sehen, wie beispielsweise in Nordkurdistan (Bakur) die Versuche des Aufbaus einer Selbstverwaltung (2011 und später) teilweise wegen des Mangels an Selbstverteidigung nicht in dem gewollten Maße überdauern konnten.

Revolutionärer Volkskrieg in Rojava

Am praktischsten und deutlichsten können wir die Strategie des revolutionären Volkskrieges sicherlich in Rojava beobachten, wo sich nun seit geraumer Zeit die Gesellschaft selbst verwaltet. Während seit Jahren fast täglich Angriffe des faschistischen türkischen Staates gegen Rojava stattfinden, ist eine klare und organisierte Strategie für den Erfolg der Revolution unabdingbar. Es ist vollkommen klar, dass weder die Angriffe der Türkei noch die vielen anderen Angriffe und Vernichtungsversuche durch z. B. das syrische Regime, den IS, die NATO etc. in den nächsten Jahren einfach aufhören werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es weiterhin Angriffe auf die Revolution geben wird und diese noch intensiviert werden und alles versucht werden wird, sie zu ersticken. In diesem Sinne sind die oben erwähnten Punkte von vitaler Bedeutung für das Fortbestehen der Rojava-Revolution: die Organisierung der gesamten Gesellschaft, der Aufbau von Alternativen in allen Bereichen des Lebens und auch die Stärkung der Fähigkeit zur Selbstverteidigung – über die militärischen Kräfte hinaus. Nachhaltiger Erfolg stellt sich dann ein, wenn erreicht wird, dass alle Teile der Gesellschaft am Aufbau und der Verteidigung der Revolution teilnehmen.

In den im Januar in Hesekê stattgefundenen Kämpfen mit dem IS, die aus dem versuchten Gefängnisausbruch resultierten, spielte die Gesellschaft eine gewichtige Rolle. Nicht wenige der IS-Kämpfer, die sich in Stadtvierteln von Hesekê zu verstecken versuchten (teilweise in Frauenkleidern, in Hausruinen etc.), wurden durch die aufmerksamen Menschen in diesen Vierteln entdeckt. Weiterhin nahmen nicht nur die designierten militärischen Selbstverteidigungskräfte an den Kämpfen mit dem IS teil, sondern auch viele Zivilist:innen, die Tag und Nacht für die Sicherheit ihrer Viertel sorgten und damit letztendlich einen entscheidenden Teil zum Erfolg gegen diesen IS-Angriff beitrugen. Auch im Widerstand gegen die Besetzung Efrîns 2018 blieb neben den Selbstverteidigungseinheiten ein großer Teil der Bevölkerung bis zuletzt in der Stadt und versuchte, sie nach Kräften zu verteidigen. Während Menschen in weniger chaotischen Zeiten z. B. in einer Kooperative arbeiten, greifen sie im Falle solch eines riesigen Angriffes zur Verteidigung ihres selbst erstrittenen Systems zu den Waffen. Wir können sagen, dass die militärischen Selbstverteidigungskräfte mit denen der Gesellschaft eine gemeinsame Front bilden.

Die zuvor erwähnten nicht militärischen Selbstverteidigungskräfte in Rojava sind z.B. HPC und HPC-Jin (Gesellschaftliche Frauenverteidigungskräfte), die in allen Teilen Rojavas organisiert sind und wesentliche Aufgaben in der Verteidigung der Gesellschaft gegen verschiedenste Formen von Angriffen übernehmen.

Schlussfolgerung

Es ist also mehr als deutlich, dass in Kurdistan nur mithilfe des revolutionären Volkskrieges eine langlebige Alternative zur kapitalistischen Moderne geschaffen werden kann. Dies setzt – wie erwähnt – eine stark organisierte Gesellschaft voraus, die heute schon mit der Erschaffung ihrer Alternative eines freien, selbstverwalteten Lebens beginnt und diese unbedingt gegen alle Angriffe verteidigen wird. In diesem Sinne ist der revolutionäre Volkskrieg also der organisierte Kampf eines ganzen Volkes!

Der Text ist der aktuellen Ausgabe des Kurdistan-Report entnommen