Im Libanon leben nach Schätzungen etwa 100.000 Kurdinnen und Kurden. Manche sagen, es seien 70.000, andere sprechen von etwa 120.000. Offizielle Zahlen oder professionelle Untersuchungen liegen nicht vor. Bei den Informationen handelt es sich insgesamt um Schätzungen, die als realitätsnah akzeptiert werden können.
Nach Angaben der Vorsitzenden des Newroz-Vereins, Hennan Osman, gibt es keine Bücher über die Geschichte der kurdischen Bevölkerung im Libanon. Es gibt auch keine Dokumente in den staatlichen Archiven, aber es liegen Doktorarbeiten zu dem Thema vor. Wer zur kurdischen Geschichte im Libanon forscht, stützt sich zumeist auf diese Doktorarbeiten.
Die Geschichte der kurdischen Bevölkerung des Libanon
Die kurdische Bevölkerung im Libanon besteht aus zwei Generationen. Die erste sind Kurden, die zur Zeit von Saladin im 12. Jahrhundert in die Region gekommen sind. Sie betrachten sich als Libanesen und sprechen kein Kurdisch. In der offiziellen Geschichte des Libanon wird auf die Rolle dieser Kurden bei der Verteidigung des Landes Bezug genommen. Einige dieser einflussreichen und starken Familien sind die al-Merabi, al-Hamieh, al-Miseik, al-Hamodu und al-Kurdiye.
Die zweite Generation kam zwischen den Jahren 1900 und 1925. Insbesondere während des Genozids an den Armeniern und den darauffolgenden kurdischen Aufständen flohen tausende Kurden in den Libanon. Die Mehrheit kommt aus Nordkurdistan, aus den Regionen Mêrdîn und Botan. Einige der Familien aus Nordkurdistan, die in den 1920er Jahren vor der Repression des türkischen Staates geflohen sind, zogen nach Syrien, andere bis in den Libanon. Manche Familien sind auf beide Länder verstreut. Sie haben ihre eigene Sprache weiter gesprochen und sich ihre Identität bewahrt, aber sie lebten unter schweren Bedingungen. Meist kämpften sie ums Überleben. Sie erhielten keine Ausweise. Ohne Ausweis konnte man nicht zur Schule gehen, keinen Laden eröffnen und keine Wohnung finden.
Die Unterschiede zwischen den beiden Generationen
Die zur Zeit Saladins in den Libanon gekommenen Kurden stiegen in die obersten gesellschaftlichen Schichten auf. Diejenigen, die im letzten Jahrhundert gekommen sind, bilden die unterste Schicht. Sie integrierten sich nicht in das System. Viele von ihnen lebten Jahrzehnte in dem Gedanken an eine Rückkehr nach Kurdistan, aus den Jahrzehnten ist mittlerweile ein Jahrhundert geworden.
Die Kurden aus Mêrdîn und Botan
Die Mehrheit der Kurden, die im vergangenen Jahrhundert in den Libanon gekommen sind, stammt aus Mêrdîn. Ein Teil der Stämme Mixajni, Rajini und Kurmanç sind in den Libanon emigriert. Das ist allgemein bekannt. Das Besta-Viertel in Beirut soll von Kurden aus Besta in der nordkurdischen Provinz Şirnex (Şırnak) errichtet worden sein. In diesem Viertel leben tatsächlich vor allem Kurden aus Besta.
Hennan Osman vom Newroz-Verein erklärt: „Als die Kurden hierhergekommen sind, führten sie die schwierigsten und billigsten Arbeiten aus. Sie arbeiteten als Träger, die Frauen als Reinigungskräfte. Früher assoziierte man den Begriff ‚Kurde‘ direkt mit Reinigungskräften und Lastenträgern. Sie machten diese Arbeiten aus reiner Notwendigkeit. Jetzt hat sich dieses Bild geändert. Im libanesischen Bürgerkrieg sind viel Kurden nach Europa geflohen. Sie konnten dann von dort einen ökonomischen Beitrag für ihre zurückgebliebenen Familien leisten. Deswegen hat sich die ökonomische Situation etwas entspannt.“
Kurden leben in Beirut, Trablus und Sidon
Es stellte einen Nachteil dar, dass die kurdische Bevölkerung im Libanon über verschiedene Orte verstreut lebt. Die Mehrheit wohnt zwar in Beirut, aber auch in Trablus, Bekaa und Sidon lebt eine nicht zu vernachlässigende Anzahl. In Beirut leben sie vor allem in den „Armenvierteln“.
Stationierung der PKK im Libanon leitete neuen Prozess ein
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre kamen Kader der PKK nach Beirut. Das eröffnete für die dortigen Kurden eine neue Phase. Sie unterstützten die PKK bei ihren Aktivitäten vor Ort und begannen, aus der PKK Kraft für eine eigene Organisierung zu beziehen. Die Familien, bei denen Abdullah Öcalan in Beirut zu Besuch war, führten diesen Prozess an.
Mit den 1990er Jahren nahmen die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Aktivitäten der Kurden im Libanon an Fahrt auf. Zu dieser Zeit, und auch davor, traten viele libanesisch-kurdische Frauen und Männer der PKK bei. In den Reihen der Gefallenen der PKK gibt es acht libanesische Kurdinnen und Kurden. Die Schwestern Roza und Binevş werden als die ersten libanesisch-kurdischen Gefallenen der PKK betrachtet. Sie hatten sich in den 80er Jahren der PKK angeschlossen und sind in den 90ern in der Region Garzan gefallen.
Die Verschleppung des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan 1999 in die Türkei stellte auch für die libanesischen Kurden einen tiefen Bruch dar. Tausende protestierten gegen die internationale Geheimdienstoperation. An diesen Aktionen nahmen auch viele solidarische Aktivistinnen und Aktivisten aus anderen Bevölkerungsgruppen des Libanon teil.
Die Repression des syrischen Staates gegen die Kurden nach dem Ankara-Abkommen fand auch ihren Widerhall im Libanon. Kurdische Einrichtungen wurden geschlossen und die Türkeilobby verstärkte ihre Aktivitäten. Nach der Ermordung von Rafik Hariri kam es zu einem Rückzug der syrischen Truppen aus der Region und die Repression gegen die Kurden und andere Minderheiten nahm etwas ab.
Unter den Flüchtlingen, die im Syrienkrieg in den Libanon gekommen sind, gibt es nicht viele Kurden. Erst mit der türkischen Invasion in Efrîn änderte sich dies, hunderte Familien kamen als Flüchtlinge im Libanon an.
Der Newroz-Verein
Offiziell nahm der bereits lange zuvor de facto existierende Newroz-Verein 2014 seine Arbeit auf. Er wird als Zentrum der Kurden im Libanon akzeptiert. Die Vorsitzende des Vereins, Hennan Osman, kandidierte letztes Jahr bei den Parlamentswahlen. Sie wurde nicht ins Parlament gewählt, konnte aber dennoch viele Stimmen erringen.
Erste kurdische Kandidatin im Libanon
Sie berichtet über ihre Arbeit: „Der Newroz-Verein arbeitet auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene. Es gibt bei uns Kurdischkurse und kulturelle Arbeit. Wir führen aber auch diplomatische Gespräche und spielen so die Rolle einer Brücke für die Kurdinnen und Kurden zu den anderen Völkern des Libanon. Außerdem machen wir Frauenarbeit. Wir sind Mitglied im Frauenrat des Libanon und im Internationalen Verein für Frauenrechte. Wir haben Beziehungen zu verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen und arbeiten mit ihnen zusammen. Gleichzeitig versuchen wir, die Probleme unserer Bevölkerung hier zu lösen. Wir sind so etwas wie ein Treffpunkt für die Kurdinnen und Kurden. Wir organisieren Kundgebungen und Versammlungen.“
Zu ihrer Kandidatur erklärt Osman: „Es gab zum ersten Mal bei den Parlamentswahlen 2018 eine kurdische Kandidatin. Das war gut für die Kurden. Sie gaben zum ersten Mal einer kurdischen Kandidatin ihre Stimme. Die Kurden haben einen ersten Schritt gemacht, um zu einem einflussreichen Faktor in der libanesischen Politik zu werden. Diese Arbeit muss weitergehen. Dabei geht es nicht nur um die Wahlen. Um erfolgreich zu sein, ist ein intensives Engagement notwendig. Dass wir eine Kandidatin hatten, hat die Kurden zusammengebracht. Viele Personen, denen ihre kurdische Herkunft vorher nicht bewusst war, kamen zu uns und erklärten, dass sie Kurden seien und entsprechend wählen würden. Unser Ziel ist es, bei den kommenden Wahlen noch stärker abzuschneiden.“