"Die Freiheit erkämpfen, spüren und leben können"
Ein Gespräch über den Aufbau der ersten Internationalen Akademie der YPJ, von Andrea Benario.*
Ein Gespräch über den Aufbau der ersten Internationalen Akademie der YPJ, von Andrea Benario.*
Die Frauenverteidigungseinheiten YPJ wurden durch ihren Widerstand in Kobanê international bekannt. Frauen in vielen Ländern des Mittleren Ostens und darüber hinaus – von Afghanistan bis nach Europa, in Nord- und Lateinamerika – fühlten sich vom erfolgreichen Widerstand der YPJ gegen die bislang als »unbesiegbar« geltenden frauenverachtenden faschistischen IS-Mörderbanden inspiriert. Denn der IS ist der offenste Ausdruck des patriarchalen Systems, das tagtäglich in allen Teilen der Welt Frauen ermordet, vergewaltigt und auf brutale oder subtile Weise den Willen von Frauen bricht. Jedoch haben die Frauen der YPJ mit ihrem entschlossen Kampf bewiesen, dass der Freiheitswille von Frauen stärker ist als die Brutalität und Waffen des patriarchalen Systems.
Wie können Frauen zu einer Kraft werden, in der sie sich aus der ihnen auferlegten »Opferposition« befreien? Was bedeuten die Erfahrungen der YPJ für Frauen, die in verschiedenen Ländern der Welt gegen jegliche Form von patriarchaler Gewalt und Militarismus ihre Selbstverteidigung organisieren wollen? Wie können Frauen zu einer organisierten Kraft werden und ihre Kämpfe miteinander verbinden? Für Frauen, die auf der Suche nach Antworten auf diese und ähnliche Fragen sind, hat die YPJ nun mit dem Aufbau einer Internationalen Frauenakademie begonnen. In einem Interview habe ich Rojîn Evrim und Cudî Katalonya vom Komitee zum Aufbau der ersten Internationalen Akademie der YPJ nach ihren Zielen und Vorstellungen gefragt. Hevala Rojîn Evrim ist eine Kurdin, die in den Reihen der YPJ bei der Verteidigung von Kobanê kämpfte und an vielen Operationen zur Befreiung von Gebieten teilnahm, die durch den IS besetzt worden waren. Hevala Cudî kam aus Katalonien nach Rojava, um dort an der Revolution teilzunehmen. Nun arbeiten beide zusammen für den Aufbau der Internationalen Akademie der YPJ.
Was ist der Ausgangspunkt für den Aufbau der Internationalen Akademie der YPJ gewesen?
Rojîn Evrim: Als YPJ haben wir insbesondere nach dem Krieg in Kobanê 2014 und den Angriffen des IS auf Şengal, bei denen tausende Frauen entführt, ermordet, gefoltert, vergewaltigt, verkauft und versklavt wurden, die Notwendigkeit zum Aufbau einer internationalen Akademie der YPJ gesehen. Damals ist in der ganzen Welt bekannt geworden, dass sich der Krieg des IS insbesondere gegen Frauen richtet und die gesamte Menschheit bedroht. Diese Angriffe waren nicht allein gegen kurdische Frauen gerichtet, sondern gegen alle Frauen. Zugleich haben Frauen – wie in Kobanê – eine führende Rolle im Widerstand gegen den IS gespielt. Viele Freundinnen sind in diesem Kampf gefallen. Auch viele Freunde sind gefallen. Aber der Mut und die Entschlossenheit der Freundinnen und die Rolle der YPJ bei der Verteidigung und Befreiung von Kobanê war entscheidend und hat die YPJ international bekannt gemacht. So haben Frauen aus verschiedenen Teilen der Welt von ihr erfahren und wollten sich ihr anschließen. Frauen sind gekommen und haben in den Reihen der YPJ mitgekämpft oder sich in anderen Bereichen am revolutionären Kampf in Rojava beteiligt.
Das Ziel der Revolution in Rojava ist nicht nur, dass wir Rojava befreien wollen. Unsere Revolution findet auf der Grundlage der Ideologie und Philosophie von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] statt. Sie ist ein Beispiel für den Aufbau der demokratischen Moderne als eine Alternative zum kapitalistischen System. Diese Revolution wird sich weiter ausbreiten und nicht auf Rojava begrenzt bleiben. Es ist eine Revolution der Frauen, die in allen Bereichen der Gesellschaft, in der Politik, in der Ökonomie, im Krieg und an den Fronten des Krieges stattfindet. Frauen sind in allen Bereichen eine treibende Kraft. Das hat das Interesse vieler Frauen aus verschiedenen Ländern geweckt. Denn der Widerstand gegen einen so brutalen Feind wie den IS – der sich durch seine Frauenverachtung auszeichnet – war keine leichte Angelegenheit. Daraufhin kamen InternationalistInnen aus verschiedenen Ländern, um sich am Kampf zu beteiligen. Während des Krieges in Kobanê wurde auch ein internationalistisches Tabur [Einheit] aufgebaut. Einige Frauen kamen auch direkt zur YPJ – es gab und gibt bis heute viele Anfragen von Frauen verschiedener Nationen. Deshalb hielten wir es für notwendig, einen Ort für Internationalistinnen bei der YPJ aufzubauen.
Bereits seit der Gründung der YPJ im Jahr 2013 wurden verschiedene Akademien für Kommandantinnen und Kämpferinnen der YPJ aufgebaut, an deren Bildungsprogrammen auch Frauen aus verschiedenen Ländern teilgenommen haben. Warum wird nun eine eigenständige Akademie für Internationalistinnen aufgebaut? Was sind die Ziele und das Programm der Akademie?
Rojîn Evrim: Die Internationalistinnen, die nach Rojava kommen, brauchen einen Ort, an dem sie die Sprache lernen, mehr über die Revolution in Rojava lernen und die Bevölkerung von Rojava kennenlernen können. Denn in Rojava leben verschiedene Völker und Kulturen wie beispielsweise AraberInnen, SuriyanerInnen, TurkmenInnen und KurdInnen, die diese Revolution initiiert haben. Die meisten Internationalistinnen kommen mit einem großen Interesse und dem Wunsch, sich an dieser Revolution zu beteiligen. Aber viele wissen nicht viel über die Geschichte, die Kultur und die Realität hier. Manchmal kommen Internationalistinnen, die diese Revolution allein als einen bewaffneten Kampf sehen, sich aber über die gesellschaftliche Dimension und die verschiedenen Bereiche der Revolution nicht bewusst sind. Unser Kampf ist nicht nur ein militärischer Kampf. Wir kämpfen gegen das sexistische, frauenverachtende kapitalistische System. Demgegenüber kämpfen wir für die Verwirklichung einer demokratischen, ökologischen Gesellschaft auf der Grundlage der Frauenbefreiung. Ausgehend von der Feststellung, dass es kein richtiges Leben im falschen System geben kann, ist für uns die entscheidende Frage: Wie können wir richtig leben? Das heißt, viele Frauen, die hierherkommen, um die Revolution in Rojava kennenzulernen, merken, dass sie die erste Revolution bei sich selbst beginnen müssen.
Hier werden sie sich auch in ihrer eigenen Sprache mit anderen Freundinnen austauschen, ihre Fragen und Probleme besprechen können. Zugleich wird es Kurdischunterricht geben, damit sie sich mit allen GenossInnen und der Bevölkerung verständigen können. Außerdem wird es Sportunterricht und militärisches Training geben, um den Körper zu stärken und sich physisch auf die Aufgaben in der YPJ vorzubereiten. Es wird theoretische und praktische Ausbildung an verschiedenen Waffen geben; ebenso wird Wissen zum Schutz gegen Waffen vermittelt werden, die der Feind benutzt. Themenschwerpunkte der ideologischen Bildung werden das Paradigma des demokratischen Konföderalismus und der demokratisch-ökologischen Gesellschaft auf der Grundlage der Frauenbefreiung sein: Frauengeschichte, Analysen zu Sexismus und Patriarchat, die Frauenbefreiungsideologie sowie Jineolojî.
Warum hast Du Dich dazu entschlossen, nach Rojava zu kommen und Dich an diesen Arbeiten zu beteiligen?
Cudî Katalonya: Als ich erfahren habe, dass eine Internationale Akademie der YPJ aufgebaut werden soll, hielt ich das für eine sehr gute Idee. Denn es gibt bereits Akademien für Internationalisten, jedoch gab es bislang keine eigenständige Akademie für die Internationalistinnen. Wir haben zwar an verschiedenen Bildungseinheiten an unterschiedlichen Orten teilgenommen, aber es ist sehr wichtig, dass wir einen Ort aufbauen, an dem wir ein komplettes Bildungsprogramm absolvieren, unsere Erfahrungen austauschen, gemeinsam leben, lernen und diskutieren können. Die Revolution von Rojava ist eine Revolution der Frauen. Als Frauen, die wir hierhergekommen sind, sind wir sehr unterschiedlich. Aber uns verbindet eine gemeinsame Seele mit der Revolution in Rojava. Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser herauszufinden, ist es sehr wichtig, dass wir diesen Ort für gemeinsame Bildungen haben. Zugleich soll es ein Ort werden, an dem wir diese Ideologie in unserem Leben verwirklichen, die Revolution fühlen können.
Du hast von den Unterschieden unter Frauen gesprochen, die trotzdem ein gemeinsames Ziel der Befreiung verfolgen. Wie kann es gelingen, die Unterschiede in eine gemeinsame Strategie und eine gemeinsame Stärke zu verwandeln? Im patriarchalen System werden Unterschiede als Spaltungslinien betrachtet, die durch die Herrschenden ausgenutzt werden, um zu teilen und zu herrschen. Welche Rolle kann demgegenüber die Internationale Akademie der YPJ spielen?
Cudî Katalonya: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Die Lebensvorstellungen und der Lebensstil sind sehr verschieden, was wiederum unsere Denk- und Handlungsweisen beeinflusst. Wenn wir hierherkommen, dann kommen wir mit dem Geist der Revolution und mit dem Ziel der Frauenbefreiung. Das ist eine wichtige Motivation, die alle Frauen haben, die nach Rojava kommen, um zu kämpfen. Natürlich hat eine jede von uns eine eigene Vorstellung, wie die Frauenbefreiung aussehen kann, und die müssen wir zusammenbringen. Aber der Lebensstil von internationalen Frauen ist völlig anders als der der Frauen hier. Denn wir werden so sozialisiert, dass wir unser Handeln an unseren eigenen Interessen und Vorteilen orientieren. Als ich hier ankam, bemerkte ich, dass die Revolution eine große Gemeinschaft geschaffen hat, in der alle zusammen für den Erfolg der Revolution arbeiten. Das ist eine sehr wichtige Erfahrung. Hier können wir im Alltag der Akademie lernen, wie die kurdischen Menschen leben, wie Schritt für Schritt an der Revolution gearbeitet wird und wie Fortschritte erreicht werden. Das ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten Punkte. Denn wir sind es nicht gewöhnt, für uns selbst und die Gemeinschaft zu arbeiten. Im Kapitalismus orientiert sich alles am Individualismus, der dem Profit der Herrschenden dient. Wir müssen alle neu lernen, wie wir gemeinschaftlich leben und arbeiten und zu einer vereinten Kraft werden können.
Gibt es bestimmte Voraussetzungen für Frauen, die hierherkommen wollen?
Rojîn Evrim: Unsere Akademie richtet sich an Frauen, die für einen Zeitraum von sechs Monaten bis zu einem Jahr zur YPJ kommen wollen, aber auch an Frauen, die ohne zeitliche Begrenzung auf der Suche nach neuen Perspektiven sind und ein Teil der Revolution werden wollen. Als Mindestzeitraum haben wir sechs Monate festgelegt. Denn es braucht eine gewisse Zeit, bis Frauen von außen hier ankommen und sich einleben, die Grundlagen der kurdischen Sprache lernen und eine Grundausbildung absolvieren, um sich dann an der Praxis beteiligen zu können. Auf diese Weise können Frauen an der Akademie und in der Praxis sowohl etwas lernen als auch selbst beitragen und teilen. Wir diskutieren hier an der Akademie gemeinsam mit den Frauen, auf welche Weise und in welchen Bereichen sie sich an der Revolution beteiligen wollen, was ihre Perspektiven sind. Das ist zugleich ein Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, ein Kennenlernen und Austausch mit Frauen aus anderen Realitäten. Das beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit dem Paradigma von Rêber Apo und der Frauenbefreiungsideologie, die die Perspektive für unsere Beteiligung am Leben und am Kampf ist. Unser Ziel ist es, die Revolution über Rojava hinauszutragen. Hierbei geht es uns nicht vorrangig um den bewaffneten Kampf. Wir führen in dieser Region einen Kampf gegen jegliche Form von Ausbeutung und Unterdrückung. Das ist nicht nur der Kampf gegen den IS. Der IS ist vielleicht der extremste Ausdruck der Sklaverei. Doch das kapitalistische System versklavt Frauen auf eine viel subtilere Weise, derer sich viele Frauen noch nicht einmal bewusst sind.
Unsere Revolution findet auf der Grundlage der Philosophie von Rêber Apo statt und die beinhaltet nicht nur die Befreiung der kurdischen Frauen. Unser Ziel ist es, alle Frauen zu organisieren; wir möchten Frauen an allen Orten der Welt erreichen und sie zur Organisierung motivieren. Sie sollen die Gelegenheit haben, die Revolution kennenzulernen.
Aus welchen Ländern haben sich bislang Frauen am Kampf und den Arbeiten der YPJ beteiligt?
Rojîn Evrim: Neben Frauen der verschiedenen Nationalitäten des Mittleren Ostens haben bislang Frauen aus England, Deutschland, Kanada, Spanien, Katalonien und Schweden über einen längeren Zeitraum am Kampf der YPJ teilgenommen. Sie haben die kurdische Sprache gelernt und haben an verschiedenen Akademien an politischen, ideologischen und militärischen Bildungsprogrammen teilgenommen. Viele von ihnen haben sich an den Arbeiten unserer Einrichtungen oder der kämpfenden Einheiten beteiligt. Einige sind dann wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, von denen wiederum manche nach kurzer Zeit wieder nach Rojava zurückgekommen sind. Andere haben sich entschlossen, hierzubleiben. Der Kontakt ist nie abgebrochen. Auch heute sind internationalistische Freundinnen hier in verschiedenen Bereichen der YPJ aktiv. Als Internationale Akademie der YPJ sind wir an die Kommandantur der YPJ angeschlossen, die die Arbeiten, die Bildung und Betreuung unserer internationalistischen Freundinnen koordiniert.
Internationalistinnen werden bei der Anreise und Ankunft unterstützt, haben Bildungsmöglichkeiten und werden bei ihrem Aufenthalt hier und bis hin zu ihrer Beteiligung an den kämpfenden Einheiten betreut. So haben sie immer eine Ansprechpartnerin für ihre Bedürfnisse. Auch bei der Rückkehr sind wir behilflich. Denn Frauen erleben und sehen hier viele Dinge, die sie besser verstehen und diskutieren wollen. Sie sind mit einer anderen gesellschaftlichen Realität konfrontiert als in ihren Herkunftsländern: Sie sehen Frauen, die in der Gesellschaft für demokratische Veränderung kämpfen, und erleben die Realität von Frauen im Krieg. Sie erkennen die Kraft der Frauen.
Mit welchen Zielen und Vorstellungen kommen Internationalistinnen zur YPJ?
Rojîn Evrim: Viele kommen mit einer großen Begeisterung für die Revolution in Rojava zu uns. Sie fühlen sich durch den Widerstand der YPJ ermutigt, selbst einen neuen Schritt zu wagen. Manche haben allein durch Bilder und Medienberichte von der YPJ erfahren und einen Funken der Hoffnung verspürt. Sie wollen die YPJ kennenlernen, kommen mit vielen Fragen und wissen selbst noch nicht genau, was sie selbst machen können und wie sie sich an der Revolution beteiligen können. Anfangs sind sich viele unsicher, sie wissen nicht, wie sie kämpfen können, haben noch nie Umgang mit Waffen gehabt oder sich mit Taktiken des Krieges auseinandergesetzt. Mit dem genaueren Kennenlernen und dem Kennenlernen der eigenen Kraft im Laufe des Bildungsprozesses entsteht bei vielen internationalistischen Freundinnen der Wunsch, sich aktiv am Kampf gegen den IS zu beteiligen. Sie identifizieren und verbinden sich mit dem Kampf der YPJ. In den meisten Fällen verlaufen der Prozess des gegenseitigen Kennenlernens, das gemeinsame Leben und der gemeinsame Kampf sehr positiv. Es gab auch ein paar Freundinnen, die Schwierigkeiten hatten. Nicht alle schaffen es, sich aus den Strukturen und der Mentalität des Liberalismus zu lösen. Der Liberalismus hat bei den Menschen einen großen Egoismus und Individualismus erzeugt, deshalb dauert es insbesondere bei Menschen, die aus den westlichen Metropolen kommen, häufig länger, bis sie sich in unseren kollektiven Strukturen eingelebt haben. Viele nehmen sich große Projekte vor, haben großen Mut, aber trotzdem benötigen sie etwas Zeit, uns, unsere Gesellschaft und unser kollektives Leben richtig zu begreifen und ein Teil davon zu werden. Einige kommen mit der Vorstellung: »Ich gehe nach Rojava, um den Menschen dort zu helfen.« Aber wenn sie dann die Revolution kennenlernen und sich selbst betrachten, sehen viele, dass sie eigentlich selbst mehr Hilfe benötigen, um sich selbst zu verstehen und weiterentwickeln zu können, als dass sie anderen zunächst helfen können.
Können wir sagen, dass viele InternationalistInnen sich hier in Rojava über ihre eigene Unfreiheit und Unterdrückung bewusst werden, dass sie ihre eigene Realität im Spiegel der Realität des Mittleren Ostens klarer erkennen können?
Rojîn Evrim: Ja, genau. Im Laufe des ideologischen Bildungsprozesses und mit den Diskussionen über die Analysen von Rêber Apo lernen diese FreundInnen das kapitalistische System, aus dem sie gekommen sind, besser kennen. Sie bemerken dann, dass sie bislang kaum ihr eigenes Leben selbst bestimmen konnten. Wir haben sehr intensive Diskussionen mit internationalistischen Freundinnen gehabt, in denen wir gemeinsam versucht haben, den Einfluss des kapitalistischen Systems auf Frauen und die Gesellschaft zu entschlüsseln. Das führte u. a. auch dazu, dass wir den Aufbau der internationalen YPJ-Akademie notwendig fanden, um diese Diskussionen zu vertiefen.
In welchen Sprachen wird der Unterricht an der Akademie stattfinden?
Rojîn Evrim: Zunächst wird es jeweils einen halben Tag Kurdischunterricht geben. Denn an den Orten, an die die Freundinnen später gehen werden, wird hauptsächlich Kurdisch gesprochen werden. Wenn sie dann die Sprache nicht können, wird es für sie länger dauern, sich einzuleben und verständigen zu können. Der weitere Unterricht wird dann in der Sprache sein, die die meisten verstehen. Das heißt, zumeist auf Englisch, denn das ist die Sprache, die die meisten InternationalistInnen können, die nicht aus dem Mittleren Osten sind. Wenn es jedoch Freundinnen gibt, die kein Englisch können, werden wir uns darum bemühen, Übersetzerinnen zu finden oder auch in anderen Sprachen zusätzliche Bildungsmöglichkeiten zu schaffen.
Viele Frauen, die nach Rojava kommen, sind daran interessiert zu erfahren: »Was bedeutet eine Frauenrevolution? Wie leben und arbeiten Frauen in Rojava? Was konnten die Frauen hier erkämpfen und was sind ihre Schwierigkeiten?« Welche Möglichkeiten wird es für Teilnehmerinnen der Internationalen Akademie der YPJ geben, einen tieferen Einblick in das gesellschaftliche Leben und den Alltag der Frauen zu bekommen?
Rojîn Evrim: Um die gesamte Revolution kennenzulernen, reicht es nicht aus, allein an einer Bildung an unserer Akademie teilzunehmen. An der Akademie können wir uns mit allen Fragen in den Bereichen Bildung, Theorie und Ideologie auseinandersetzen, aber die Revolution in Rojava ist noch viel weiter gefächert: Es gibt Frauenkommunen, die Frauenzentren Mala Jinê, den Aufbau eines Frauendorfes, Frauenkooperativen, die Jineolojî-Forschungszentren usw. Natürlich sollten die Freundinnen aus anderen Ländern auch alle diese unterschiedlichen Fraueneinrichtungen und die Frauen, die in den verschiedenen Bereichen arbeiten, kennenlernen. Sie sollten die Realität unterschiedlicher Frauen bis hin zu Frauen, die aus der Gefangenschaft des IS befreit wurden, kennenlernen und mit ihnen diskutieren, um sich ein ganzheitliches Bild von der Situation der Revolution in Rojava zu verschaffen. Zugleich können sie über ihre Erfahrungen und Eindrücke schreiben, die Menschen in anderen Teilen der Welt darüber informieren, was hier passiert. Oder sie können einen Film oder eine Dokumentation über die Revolution der Frauen in Rojava drehen. Auch solche Projekte, die eine Brücke zu Frauen in verschiedenen Ländern aufbauen, möchten wir unterstützen.
Das sind zunächst einmal unsere Ziele und Ideen, mit denen wir den Aufbau der Akademie begonnen haben. Aber im Laufe der Zeit kann sich das noch alles weiterentwickeln. Jede Frau, die hierherkommt, kann mit ihren Vorschlägen und ihrem Engagement die Arbeiten der Akademie bereichern.
Die YPJ wurde als eine Selbstverteidigungskraft der Frauen aufgebaut. Was bedeutet Selbstverteidigung für Frauen aus Ländern, in denen es keinen offiziell erklärten Krieg gibt?
Cudî Katalonya: Das ist eine spannende Frage. Ich denke, dass alle Frauen sich in ihrem Leben auf irgendeine Weise im Krieg befinden. Der Unterschied hier ist, dass es einen offenen Krieg gibt, gegen den wir uns verteidigen müssen. Aber in unseren eigenen Ländern müssen wir uns auch in allen Lebensbereichen verteidigen und befreien: bei unserer Arbeit, in den Jobs, in unseren Familien, in unserer Gesellschaft ... Obwohl wir bereits viele Kämpfe zur Veränderung unserer Gesellschaften geführt haben und Fortschritte erkämpfen konnten, sind Frauen immer noch nicht frei. Ich kann sagen, dass wir in Katalonien viel zum Thema Frauenbefreiung gearbeitet haben und uns für gleiche Teilhabe in allen Bereichen der Gesellschaft eingesetzt haben. Wir benutzen keine Waffen, aber wir brauchen mehr Mittel und Methoden, um uns befreien zu können. Wir müssen erkennen, welche Werte wir schützen und welche Regeln wir für gesellschaftliche Veränderung benötigen. Wir müssen an die Wurzeln gehen, um die verinnerlichte Unterdrückung überwinden zu können. Wir müssen uns bewusst werden, was es heißt, frei zu denken und frei zu handeln und als Frauen für die Veränderung der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Jede Frau führt an diesen Punkten einen Krieg für ihre eigene Befreiung. Es sind andere Formen des Krieges, aber hier in Rojava gibt es für uns viele Inspirationen.
Siehst Du Deinen Weg nach Rojava auch in Verbindung mit der Geschichte Spaniens? Hat Dich beispielsweise der Widerstand von Mujeres Libres1dazu motiviert hierherzukommen?
Cudî Katalonya: Ja, natürlich.
Was, denkst Du, hätte es bewirken können, wenn Mujeres Libres in ihrer Zeit eine solche Akademie für Internationalistinnen im Kampf gegen den Faschismus in Europa hätten errichten können?
Cudî Katalonya: Es hätte eine Frauenrevolution bedeuten können. Die Geschichte zeigt uns, dass wir als Frauen gemeinsam handeln müssen. Wir sind schwach, weil der Einfluss des Kapitalismus verhindert, dass wir gemeinsam handeln. Es gibt ein katalanisches Sprichwort, das übersetzt so viel heißt wie: »Gemeinsam sind wir stark!« Das ist die Kraft der Revolution in Rojava und das ist zugleich eine Kraft, die uns als Frauen fehlt. Wir müssen uns stärker miteinander verbinden. Es reicht nicht zu sagen, »ich habe meine eigenen Kämpfe an meiner Arbeitsstelle, bei mir zu Hause, in meinem Dorf oder in meiner Stadt«. Wenn wir einen größeren Schritt in der Gesellschaft machen wollen, dann müssen wir zusammenkommen und gemeinsam kämpfen. Das ist es, was die kurdischen Frauen machen.
Ihr seid gerade mit den Bauarbeiten der Akademie und den praktischen Vorbereitungen beschäftigt. Ihr arbeitet als ein kleines, aber internationales Komitee. Was habt Ihr jetzt schon in diesem ersten Prozess der Zusammenarbeit voneinander gelernt?
Rojîn Evrim: Wir haben erlebt, dass Frauen sich vereinen und zu einer gemeinsamen Kraft werden können. Unsere verschiedenen Nationalitäten, Sprachen und Kulturen sind dabei kein Hindernis. Beispielsweise haben ich und Hevala Cudî alle Arbeiten – schwere und leichte – hier gemeinsam gemacht. Zugleich diskutieren wir über unsere Pläne und Konzepte für die Akademie, darüber, welche Inhalte und Methoden wir wählen sollten. Zugleich haben wir einen offenen Umgang miteinander gelernt, können einander kritisieren und voneinander lernen. Für mich war das eine sehr wertvolle Erfahrung: Es gibt kein ernstes Hindernis für die Einheit von Frauen! Die gemeinsame Arbeit macht uns Spaß, bringt uns weiter und schafft Vertrauen zueinander. Wir teilen Freude und Enthusiasmus über den Aufbau der Internationalen Akademie.
Hevala Cudî, was waren Deine Erfahrungen in der praktischen Zusammenarbeit? Was hast Du dabei gelernt?
Cudî Katalonya: [lachend] Sehr, sehr viel!!! Vieles von dem, was ich bislang gesagt habe, sind Dinge, die ich aus meinen praktischen Erfahrungen gelernt habe. Das ist natürlich noch nicht alles. Ich wünsche mir, dass die Frauen, die hierherkommen, die besten Bildungsmöglichkeiten haben, um dann einen gemeinsamen Weg hier in Rojava beginnen zu können.
Ich habe gelernt, wie wichtig Hoffnung ist – die Hoffnung und Zuversicht der Frauen, die in dieser Revolution leben. Ich habe die Frauen hier in Rojava und ihr Leben kennengelernt, wie sie fühlen, wie sie denken und was ihnen die Kraft gibt, all diese Dinge zu tun. Und natürlich habe ich auch in praktischer Hinsicht viele neue Dinge von den Frauen hier gelernt und lerne immer noch.
Habt Ihr einen Aufruf an Frauen weltweit?
Cudî Katalonya: Natürlich, ich möchte allen Frauen der Welt empfehlen, hierher nach Rojava zu kommen. Denn Dinge, die wir bei uns – in unseren Heimatländern – sagen, machen die Frauen hier. Und das ist etwas völlig anderes, ob du etwas sagst oder ob du es machst. Für mich ist das Wichtigste, nicht nur zu reden, sondern zu handeln. Wenn du handelst und etwas lebst, dann ist das eine Erfahrung und ein Wissen, das für dein ganzes Leben eine Bedeutung hat. Das gibt dir die Möglichkeit, dich selbst zu verändern und weiterzuentwickeln. Ich glaube, dass alle Frauen weltweit in Freiheit leben wollen. Hier sprechen wir nicht nur über Freiheit, hier ist die Befreiung eine Realität, die du fühlen und erleben kannst, mit deinem Körper und deiner Seele. Du lernst etwas für dich selbst und zugleich lernst du etwas für die Welt. Denn je mehr Frauen sich befreien, desto mehr werden wir auch Frauen in anderen Teilen der Welt befreien können. Das ist etwas, was wir mit allen Frauen teilen möchten. Diese Verantwortung tragen wir für uns selbst und für die Zukunft der Welt.
Rojîn Evrim: Wir denken, dass Frauen sich selbst und ihre Kraft am besten unter den Bedingungen einer Revolution kennenlernen können. Insbesondere für Frauen aus westlichen Ländern ist es wichtig, sich ihrer eigenen Unterdrückung bewusst zu werden und sich daraus zu befreien. Die Teilnahme an der Revolution in Rojava ist für Frauen aus allen Ländern ein Schritt hin zu ihrer eigenen Befreiung.
Wie können interessierte Frauen zu Euch Kontakt aufnehmen?
Rojîn Evrim: Mit der Akademie ist auch das Büro der YPJ für internationale Beziehungen verbunden. Hierüber können interessierte Frauen beispielsweise per E-Mail ([email protected]) oder facebook (ypjinternational) mit uns Kontakt aufnehmen.
1 Die Mujeres Libres (Freie Frauen) war eine feministisch-anarchistische Frauenorganisation im spanischen Freiheitskampf. Sie entstanden Anfang der 1930er Jahre. In der basisdemokratischen Frauenorganisation waren über 20.000 kämpfende Frauen vereinigt.
*Der Originalartikel ist abrufbar über: http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2017/55-kr-194-november-dezember-2017/642-die-freiheit-erkaempfen-spueren-und-leben-koennen