„Der Status quo des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht aufrecht erhalten“

Mustafa Karasu (KCK) spricht über die aktuelle Lage in Kurdistan und dem Nahen Osten und beschreibt die Unterstützung der internationalen Mächte für die Türkei als Angriff der kapitalistische Moderne auf Demokratisierungsbestrebungen.

Mustafa Karasu aus dem Exekutivrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) bewertet die aktuelle Lage vor dem Hintergrund der aktuellen Eskalation des Krieges durch den türkischen Staat. Im ANF-Interview geht er auf den regionalen und geopolitischen Kontext der Angriffe ein.

Der türkische Staat nutzt die Schwäche des Irak“

Das Chaos im Irak und das politische Vakuum haben sich ausgeweitet. Wie steht das in Verbindung mit den Angriffen auf Şengal und die Medya-Verteidigungsgebiete?

Das Chaos und das politische Vakuum im Irak haben sich vertieft. Aufgrund der Schwäche des demokratischen Bewusstseins im Irak kann sich keine politische Stabilität, die auf einer demokratischen politischen Denkweise basiert, entwickeln. Die nationalistischen und konfessionalistischen Ansätze vertiefen die politische Fragmentierung. Die Tatsache, dass der Irak zu einem Kampffeld vieler ausländischer Mächte geworden ist, ist ein wichtiger Faktor für die Entstehung dieser Situation. Da keine entschlossene und effektive demokratische politische Kraft entstanden ist, haben die Menschen kein Vertrauen mehr in die Politik. Tatsächlich sind fast 80 Prozent der Menschen nicht zur Wahl gegangen. So verhält es sich nicht nur im Irak, sondern auch in Südkurdistan. Die PDK, die in Südkurdistan die meisten Sitze im Parlament erlangte, erhielt real nur 15 Prozent der Stimmen der Bevölkerung Südkurdistans. Die derzeitige Regierung im Irak repräsentiert nicht den Willen des Volkes, daher ist sie sehr schwach.

Der türkische Staat nutzt diese Schwäche des Irak. Er benutzt die PDK und die PDK benutzt ihn als Druckmittel auf den Irak. Der Irak betreibt seine aktuelle Politik unter den Drohungen und der Erpressung des türkischen Staates und der PDK. Aus diesem Grund erhebt der Irak seine Stimme nicht gegen die türkische Invasion in den Medya-Verteidigungsgebieten und unternimmt Schritte in Şengal, um die Türkei und die PDK zufrieden zu stellen.

Die Türkei und die PDK profitieren auch von der Sorge der USA wegen des Iran und erhalten so Unterstützung für ihre Irak-Politik. Der irakische Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi schweigt unter dem Einfluss der USA zu den türkischen Angriffen und schickt seine Kräfte auf Wunsch der PDK und Türkei nach Şengal, um die Selbstverwaltung auszuschalten. Kurz gesagt, die Situation im Irak bietet ein Umfeld, das der türkischen Besatzung und der Kollaboration der PDK förderlich ist. Die PDK betreibt ihre Politik ohnehin nicht auf der Grundlage der Beziehungen zum Irak, sondern zur Türkei.

PDK sieht ihre Zukunft in der Liquidierung des kurdischen Freiheitskampfes“

Der PDK mögen einige Versprechungen gemacht worden sein, aber die Feindseligkeit der PDK gegenüber der PKK ist so tiefgehend wie die Feindseligkeit des türkischen Staats gegenüber der PKK. Wie die AKP/MHP-Regierung sieht auch die PDK ihre Zukunft in der Liquidierung des kurdischen Freiheitskampfes. Die PDK ist mittlerweile eine Formation, die nur im Interesse einer Familie handelt. Es gibt für sie keine kurdische Sache; sie ist zu einer Kraft geworden, welche die Kurd:innen nur als Mittel für den eigenen Vorteil betrachtet. Für sie ist die kurdische Identität zur politischen Verhandlungsmasse geworden. Die kolonialistische Türkei steht seit den 1960er Jahren in Kontakt mit der PDK, um die Kurden unter Kontrolle zu halten.

Je mehr der türkische Staat unter Druck gerät, desto mehr beteiligt sich die PDK am Krieg. Sie behindert den Zustrom von Munition und Nahrungsmittel in die Guerillagebiete. Sie schneidet die Wege zwischen den Guerillakräften ab, schränkt die Bewegungsfreiheit ein und verhindert gegenseitige Hilfe. Die PDK geht nun noch weiter und versucht den Belagerungsring enger zu ziehen und einige Guerillagebiete für die Türkei zu erobern.

Fortsetzung des Krieges wäre ohne NATO-Unterstützung nicht möglich“

Die aktuelle Lage ist von einer Neugestaltung der Welt und Energiekriegen geprägt. Worum geht es hier also?

Die USA, Großbritannien und die NATO unterstützen den türkischen Staat auf jede Weise bei der Vernichtung der PKK. Dass auf unsere Freunde Cemil Bayık, Murat Karayılan und Duran Kalkan ein Kopfgeld ausgesetzt wurde, zeigt, dass das internationale Komplott jetzt auch durch den Mord an diesen drei Freunden vollendet werden soll. Diejenigen, die einen Mordbefehl gegen diese drei Freunde erteilt haben, werden den türkischen Staat natürlich in jeder Hinsicht unterstützen. Die türkische Armee nutzt alle Mittel der NATO. In dieser Hinsicht ist unser Krieg in gewisser Weise ein Krieg gegen die NATO. Die von Zeit zu Zeit geäußerte Kritik des türkischen Staates an den USA und der NATO soll entgegen den Tatsachen ausschließlich das Bild vermitteln, dass der Krieg aus eigener Kraft geführt werde. Eigentlich will der türkische Staat, dass sich diese Kräfte genau wie er selbst an dem Krieg gegen das kurdische Volk, die PKK und die Guerilla beteiligen. Andernfalls, wenn der türkische Staat nicht die Unterstützung der NATO und der USA erhielte, würde er nicht in der Lage sein, diesen Krieg fortzusetzen, und in kurzer Zeit besiegt werden. Er behält seinen kolonialistischen, reaktionären und antidemokratischen Charakter durch die Unterstützung dieser Kräfte bei. Andernfalls würde das bestehende reaktionäre System in der Türkei zerfallen. Das Regime könnte sich nicht gegen die demokratischen Kräfte und den Freiheitskampf des kurdischen Volkes halten.

Keine Erwartungen an die kapitalistische Moderne“

Kurz gesagt, die Türkei hat weiterhin, wenn auch nicht wie im Kalten Krieg, eine große Bedeutung für die internationalen Mächte. Obwohl die Interessen der USA, der NATO und Großbritannien im Nahen Osten nicht so stark wie früher sind, werden die Beziehungen zur Türkei immer noch als wichtig betrachtet und der türkische Staat wird unterstützt. Von der kapitalistischen Moderne sollte nicht erwartet werden, dass sie sich in ihrer Politik moralisch, gewissenhaft und gerecht verhält. Wir sollten nicht über dieses Verhalten klagen, stattdessen müssen wir einen starken Kampf führen und diese schmutzigen Allianzen scheitern lassen. Da die Bedingungen des Dritten Weltkriegs nicht der Zeit des Kalten Krieges entsprechen, werden die Kurdinnen und Kurden mit ihrem Kampf erfolgreich sein. Das wird unabhängig von der Unterstützung, die der türkische Staat erhält, geschehen. Die Kurden können ein freies Kurdistan und einen demokratischen Nahen Osten schaffen. Es ist auch klar, dass die Kurdinnen und Kurden bedeutende Fortschritte gemacht und die Unterstützung der Völker Europas und der Welt gewonnen haben. Diese Unterstützung macht es dem türkischen Staat schwer und er hat große Probleme damit, alle seine Wünsche von Europa und der NATO erfüllt zu bekommen.

Die Türkei will eine wechselseitige Verabredung nutzen, um den Freiheitskampf des kurdischen Volkes zu vernichten. Europa macht Zugeständnisse an die Türkei, um seine Forderungen für eine Pipeline durchzusetzen. Ein Zugeständnis würde der Türkei noch mehr Einflussmöglichkeiten bieten. Wir verfolgen auch diesen Prozess; wir müssen diese schmutzigen Deals aufdecken. Jeder sollte wissen, dass es klar ist, dass eine solche Pipeline, die sich gegen den Freiheitskampf des kurdischen Volkes richtet, nicht sicher sein wird.

Die Türkei bedroht die Sicherheit von Rojava und Syrien, nicht umgekehrt“

Erdoğan wiederholte seine Drohung mit einer Invasion von Rojava. Zu welchem Zweck will der AKP/MHP-Faschismus einen neuen Invasionsangriff starten?

Die faschistische AKP/MHP-Regierung sieht in der Freiheit der Kurd:innen in Rojava eine Gefahr für ihr Kolonialsystem. Das Regime befürchtet, dass, wenn die Kurd:innen ein freies und demokratisches Leben in Syrien erreichen, dies ein Beispiel für Nordkurdistan sein könne. Dies ist der einzige Grund für den Angriff. So etwas wie ein Sicherheitsproblem gibt es nicht. Rojava bedroht nicht die Sicherheit der Türkei. Die Türkei bedroht die Sicherheit von Rojava und Syrien, nicht umgekehrt. Sie ist auch die Hauptverantwortliche dafür, dass die Probleme in Syrien immer noch nicht gelöst werden konnten. Das AKP/MHP-Regime bedroht die politische Stabilität nicht nur in Syrien und Rojava, sondern im gesamten Nahen Osten. Rojava bedroht den Faschismus, nicht die Sicherheit der Türkei.

Verständnis für angebliche Sicherheitsbedenken der Türkei ist schamlos“

Es ist schamlos und dreckig, wenn die NATO, die USA und Europa sagen, dass sie die Sicherheitsbedenken der Türkei verstünden. Die ganze Welt sieht, dass die Türkei die Sicherheit und das Leben ganzer Völker zerstört, indem sie Rojava und Syrien angreift. Hunderttausende Menschen haben ihr Land aufgrund der Angriffe der Türkei verlassen. Die Türkei verändert hier die Demografie, sie begeht Völkermord. Anstatt diese Dinge zu sehen und sich gegen die Türkei zu stellen, legitimieren und ermutigen die USA, die NATO, Europa und Russland zur Invasion, indem sie sagen, dass sie das Sicherheitsproblem der Türkei verstünden. Das tun sie nur, weil sie auf ihren eigenen politischen Vorteil bedacht sind. Die Komplizen dieser Angriffe sind vor allem die USA, Europa und die NATO. Bei der Besetzung von Efrîn waren es vor allem die Russen. Die USA und Russland sind sich der türkischen Schwäche in Bezug auf Rojava und Kurdistan bewusst, so versuchen sie ihre Interessenpolitik auf dem Rücken des kurdischen Volkes auszutragen.

Erdoğan will die Vernichtung der kurdischen Errungenschaften innenpolitisch nutzen“

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan wiederholte seine Invasionsdrohung gegen Rojava. Erdoğans Politikstil gilt in der Geschichte der Diplomatie als Stil eines Schakals. Er handelt opportunistisch und kurzfristig. Das mag manchmal funktionieren. Aber solche Politikformen, die nicht auf einer allgemeinen Politik und Strategie basieren, bergen immer die Gefahr ins Gegenteil umzuschlagen, das geschieht sogar meistens.

Das AKP/MHP-Regime versucht sich auf den Beinen zu halten, indem es einen Erfolg im Ausland schaffen will, der die türkische Gesellschaft und Politik in seinem Sinne beeinflusst. Im Jahr 2021 griff der türkische Staat die Medya-Verteidigungsgebiete an, ohne Erfolg. Angesichts der täglichen schweren Schläge der Guerilla wird diese Besatzungsoperation auch in der Türkei mittlerweile hinterfragt. Als Erdoğan klar wurde, dass er dort keinen Erfolg finden könne, entschied er sich, die Ukraine-Krise zu nutzen, um in Rojava einzumarschieren. Er beabsichtigt, die kurdischen Errungenschaften in Rojava zu beseitigen und das innenpolitisch zu nutzen. Die AKP will mit einer Besatzung von Rojava in die neue Wahl gehen. Die Völker von Nordostsyrien werden jedoch bis zum Äußersten auf der Grundlage der Lehren aus den Besetzungen von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî Widerstand leisten. Eine neue Offensive bedeutet einen permanenten, langandauernden Krieg. Die AKP/MHP-Regierung wird in Folge eines solchen Kriegs verlieren und die Völker von Nordostsyrien, aber auch die Völker der Türkei und des Nahen Ostens werden Gewinne zu verzeichnen haben. Die türkische Besatzung wird auch aus den bereits besetzten Gebieten weggefegt werden. Ein neuer Angriff wird sicherlich zu einem solchen Ergebnis führen.

Der Türkei geht es mit ihrer Erpressung der NATO vor allem um Waffen“

Wir bewerten Sie die Entwicklungen in der NATO nach Beginn der Ukraine-Krise und die Erpressungsversuche der Türkei gegenüber Finnland und Schweden?

Der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland in dieser Zeit dient dazu, Russland unter Druck zu setzen. Russland stellt keine Bedrohung für Schweden und Finnland dar. Dazu wäre [Russland] aktuell auch gar nicht in der Lage. Auch wenn Russland derzeit unter Druck steht, wurde der Beitritt dieser beiden Länder zur NATO als Ergebnis der Politik, ganz Europa unter das Dach der NATO zu bringen, auf die Tagesordnung gesetzt. In gewisser Weise wird die NATO in einen europäischen Sicherheitspakt verwandelt. Es scheint, dass diese Fragen bereits im Vorfeld diskutiert worden sind. Als Russlands Intervention in der Ukraine stattfand, beschleunigte man den Beitritt dieser beiden Länder zur NATO. Da die Aufnahme eines Mitglieds in die NATO im Konsens aller Länder erfolgen muss, versucht Erdoğan als politischer Schakal, die Situation ausnutzen. Obwohl es Regeln wie den Konsens aller Mitglieder gibt, gibt es keine Tradition, die Zustimmung der Mehrheit abzulehnen und zu blockieren. Im Falle einer solchen Situation wäre es nur natürlich, wenn dieses Mitglied aus dem Pakt ausgeschlossen wird. Kein Pakt kann dem Gutdünken eines Landes überlassen werden. Aber die Türkei kann im Glauben an ihre eigene Unverzichtbarkeit auf solche Erpressungen zurückgreifen. Sie will hier einige Dinge durchsetzen. Hauptsächlich geht es aber um das Waffenembargo mancher europäischer Staaten, Schweden eingeschlossen. Manche Militärgüter werden nicht an die Türkei verkauft. Auf der anderen Seite will der türkische Staat bessere Kameras und andere empfindliche Geräte für seine Drohnen, mit denen er so sehr prahlt, bekommen. Das ist der wichtigste Grund, warum die türkische Regierung Schweden und Finnland zum Gegenstand eines Deals machen will. Sie will damit nicht Schweden und Finnland, sondern auch die europäischen Staaten, die USA und Kanada dazu zwingen, das Waffenembargo aufzuheben. Dabei geht es auch um die F-16. Es stellt sich heraus, dass man bereit ist, in diesem Zusammenhang Kompromisse zu machen. Es finden tatsächliche schmutzige Deals statt. Diese Tatsache muss aufgedeckt und die demokratischen Kräfte in Europa, den USA und anderen Ländern müssen mobilisiert werden. Europäische Länder und andere Staaten sollten den Angriff des AKP/MHP-Regimes auf die Demokratie und den Völkermord am kurdischen Volk nicht durch Waffenlieferungen an die Türkei unterstützen.

Am Grund der Krise liegt der Krieg gegen den kurdischen Freiheitskampf“

Die türkische Kriegspolitik führt im Inland zu einer ökonomischen, politischen und sozialen Krise. Wie betrachten sie die Haltung der Opposition in der Türkei dagegen?

Die Türkei erlebt in allen Bereichen eine Krise. Der Grund dafür ist der Krieg gegen den Freiheitskampf des kurdischen Volkes. Egal welche Krise und welches Problem untersucht wird, die kurdische Frage und der schmutzige Spezialkrieg gegen das kurdische Volk werden als Ursache erscheinen. Ohne diese Realität anzuerkennen, kann es keine richtige Opposition geben. Als die Verteuerung und die Wirtschaftskrise aufkamen fragte der Faschistenboss Erdoğan, ob die Menschen denn den Preis einer Kugel kennen würden. Kann es eine klarere Definition der Ursachen der Wirtschaftskrise geben als diese? Wenn die Ursache der Krise und diese Frage nicht aufgedeckt werdem, wird die Opposition nicht voll wirksam sein. Die Opposition muss sich fragen lassen, welche Politik sie in der kurdischen Frage verfolgen wird, wenn sie an der Macht ist. Wenn es keine Haltung für eine demokratische Lösung und eine solche Herangehensweise an die kurdische Frage gibt, werden die neuen Herrschenden eine ähnliche Politik verfolgen wie heute. Wenn die AKP/MHP-Regierung zusammenbricht, wird es aber zweifellos schwierig für die neuen Machthaber, die alte Politik vollständig weiter zu verfolgen. Denn diejenigen, die diese Regierung stürzen, sind nicht die offizielle Opposition. Es wird nicht der Sechsertisch1 sein. Diese Regierung wird durch den Kampf des Volkes und der revolutionären demokratischen Kräfte zerstört; die größte Rolle dabei spielen die kurdische Freiheitsbewegung und die radikaldemokratischen politischen Strukturen.

Man kann keine echte Opposition sein, wenn man sich nur darauf stützt, ökonomische Probleme zum Ausdruck zu bringen. Natürlich ist die Wirtschaftskrise tief, und die Menschen sind davon betroffen. Unter diesem Gesichtspunkt können wirtschaftliche Probleme thematisiert werden, um das Regime zu entlarven. Es sollte jedoch klar gestellt werden, dass die wirtschaftliche Probleme bis zu dem Zeitpunkt nicht gelöst werden können, an dem die Türkei demokratisiert und die kurdische und die alevitische Frage sowie viele andere Probleme demokratisch gelöst werden. Mit anderen Worten, es ist wichtig, ein Programm der Demokratisierung vorzulegen. Eine demokratische Regierung bedeutet im eigentlichen Sinne, dass die Entscheidungen und die Initiative beim Volk liegt. Sie sollte darauf abzielen, eine demokratisch-gesellschaftliche Selbstverwaltung aufzubauen.

Die PKK kennt den Feind“

Welche Verbindung besteht zwischen der Besatzungspolitik der internationalen Mächte im Nahen Osten und den Angriffen auf die PKK?

Zuallererst müssen wir folgendes betonen. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Liquidierung der PKK und dem Völkermord am kurdischen Volk. Wer die Wahrheit über den Feind, Kurdistan und die PKK nicht versteht, mag dies als unsere subjektive Meinung und Übertreibung betrachten. Aber der Charakter des gegenwärtigen Feindes, die Angriffe, die er ausführt, und unser Widerstand dagegen sind der größte Beweis für diese Tatsache. Das Niveau der Feindschaft des türkischen Staates gegenüber der PKK; die Ausrichtung sämtlicher Politik danach, Zugeständnisse gegenüber jeder Macht, um die PKK zu vernichten, und der Ausverkauf der Türkei liegen darin begründet. Deshalb wird selbst das Wort Kurde und die kurdische Existenz nicht toleriert. Die einzige Beziehung zu den Kurden besteht auf der Ebene der Kollaboration. Wenn es nicht Führungspersönlichkeiten wie Rêber Apo gegeben hätte, die sowohl die Realität des Feindes, die kurdische Realität als auch die Realität des Nahen Ostens begriffen haben, hätte kein Kampf entstehen können, der das kurdische Volk vor dem Genozid gerettet hätte. Der stärkste Aspekt von Rêber Apo und der PKK ist, dass sie den Feind sehr gut kennen. Auf diese Weise unterscheidet sich die PKK von allen kurdischen Organisationen. Vom ersten Tag an will der türkische Staat Kurdistan in das expandierenden Gebiet der türkischen Nation assimilieren. Zu dieser Feststellung zu kommen, hängt damit zusammen, dass man die Realität des Feindes tiefgreifend kennt.

Das Regime stützt sich auf Genozidtradition des türkischen Staates“

Die Tatsache, dass die AKP/MHP-Koalition die PKK so massiv angreift, um sich selbst über Wasser zu halten, hängt damit zusammen, dass Genozid die Grundlage der türkischen Politik darstellt. Sonst wäre das Regime nicht in der Lage gewesen, alle Mittel des Landes in diesen Krieg zu stecken, nur um sich selbst an der Macht zu halten. Es wäre eine starke Opposition entstanden. Aber das Regime stützt sich auf die Genozidtradition des türkischen Staates, indem es diese Angriffe durchführt. Obwohl die Opposition weiß, dass diese Angriffe dazu dienen, die AKP/MHP-Regierung an der Macht zu halten, beantworten sie Erdoğans Frage nach der Unterstützung der grenzüberschreitenden Angriffe mit Ja.

Seit Lausanne hat sich das Wesen der Türkeipolitik nicht geändert“

Die Unterstützung der internationalen Mächte für den türkischen Staat hängt mit den im 20. Jahrhunderts gebildeten Machtbalancen und dem darauf basierenden Status quo zusammen. Dieser Status quo steht in Verbindung mit dem antikurdischen Genozid. Die internationalen Mächte haben immer noch keinen grundlegenden politischen Wandel in Bezug auf diesen antikurdischen Status quo des 20. Jahrhunderts vollzogen. Unter der Führung von Großbritannien haben die internationalen Mächte ihre Zustimmung zum Völkermord der Türkei an den Kurd:innen innerhalb der Landesgrenzen im Austausch für die Abtretung von Mossul und Kerkûk an den Irak gegeben. Das Wesen des Lausanner Abkommens besteht darin. Bis heute hat sich diese Politik nicht geändert. Die Unterstützung des Genozids in Nordkurdistan ist eine lokale Ausformung dieser Politik. Sie wird praktisch dadurch umgesetzt, dass die PDK, um ihre eigene Existenz zu bewahren, den Genozid in Nordkurdistan unterstützt. Im Gegenzug dafür, dass sie eine oder zwei Städte beherrscht, wird die PDK zur größten Unterstützerin und Verteidigerin der auf einen Völkermord abzielenden Politik des türkischen Staates.

Die Genozidunterstützung hat die internationale Politik tief geprägt“

Die Unterstützung für die Genozidpolitik des türkischen Staates hat die internationale Türkei- und Nahostpolitik seit dem 20. Jahrhundert tiefgreifend geprägt. Diese Politik wurde nicht geändert. Aber der Kampf der PKK stellt diesen Kräften und ihrer Politik Hindernisse und Probleme in den Weg. Aus diesem Grund sind die internationalen Mächte durch unseren Kampf beunruhigt. Denn solange wir den Kampf fortsetzen, können sie ihre Regionalpolitik, insbesondere in der Türkei, nicht so durchführen, wie sie es wünschen. Sie haben Probleme mit der Türkei. Aus diesem Grund stellen sie Forderungen (an die kurdische Freiheitsbewegung) nach Waffenstillständen ohne irgendeine Gegenleistung und versuchen diese auf verschiedene Weise zu erzwingen. Sie versuchen uns mit ihrer Unterstützung für die Türkei unter Druck zu setzen und uns so dazu zu bringen, den Kampf aufzugeben.

Zweifellos sind die internationalen Mächte davon überzeugt, dass die von Rêber Apo entwickelte Ideologie ein Hindernis für ihre Regionalpolitik darstellt. Sie wollen nicht, dass der Nahe Osten wirklich demokratisiert wird. Denn in einer echten Demokratie können sie nicht im gewünschten Ausmaß Kollaborateure finden. Ein sich demokratisierender Naher Osten erfordert egalitärere politische Beziehungen. Sie können demokratischen Ländern und Gesellschaften nicht so einfach das aufzwingen, was sie wollen. Aus diesem Grund bekämpfen sie auch das apoistische Paradigma einer freiheitlichen, ökologisch-demokratischen und frauenbefreiten Gesellschaft. Der demokratische Konföderalismus, der auf einer egalitär-organisierten demokratischen Gesellschaft basiert, ist ein System, das die internationalen politischen und sozialen Systeme erschüttert und eine Alternative darstellt. Daher unterstützen die internationalen Mächte die Türkei gegen Rêber Apo und die PKK; sie stellen sich auf die Seite von undemokratischen Kräften wie der PDK, um zu verhindern, dass sich das apoistische Denken bei den Kurdinnen und Kurden durchsetzt.

Aber sie können heute weder den Status quo des 20. Jahrhunderts, noch das aktuelle Regime in der Türkei, noch die PDK auf diese Weise aufrecht erhalten. Wenn wir große Opfer bringen, wird unser Kampf die Angriffe und Pläne dieser Kräfte stören und ein freies Kurdistan und einen demokratischen Nahen Osten schaffen.


1 Koalition der staatstragenden, kemalistisch-nationalistischen „Opposition“ aus CHP und der Abspaltung der rechtsextremen MHP „IYI Partisi“