Karayilan: Dieser Krieg erfordert hohe Opferbereitschaft
Murat Karayilan (PKK) erläutert im ANF-Interview, was mit der von Erdogan geforderten „Sicherheitszone“ südlich der türkischen Grenze bezweckt wird.
Murat Karayilan (PKK) erläutert im ANF-Interview, was mit der von Erdogan geforderten „Sicherheitszone“ südlich der türkischen Grenze bezweckt wird.
Murat Karayilan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der PKK gegenüber ANF zum Krieg in Kurdistan geäußert. Karayilan erklärt in dem ausführlichen Interview, dass der türkische Staat 2016 ein neues Kriegskonzept beschlossen hat und einen Völkermord an den Kurd:innen verübt, um seinen neoosmanischen Expansionismus durchzusetzen. Das Konzept beinhaltet eine dreißig Kilometer breite Besatzungszone entlang der türkischen Grenze von Efrîn in Nordwestsyrien bis Sidekan im Nordirak.
Zur aktuellen Invasion der türkischen Armee in Südkurdistan sagt Karayilan: „In Zap, Avaşîn und Metîna findet ein harter und ungleicher Krieg statt. Die eine Seite setzt Zehntausende Soldaten, Panzer, Raketen, ihre Luftwaffe und Chemiewaffen ein. Die andere Seite ist die Freiheitsguerilla Kurdistans, die mit Handgranaten und Schusswaffen Widerstand leistet. Es besteht also keine Gleichheit, diese wird lediglich durch Willenskraft hergestellt. Die Guerilla verfügt nur über ihren Willen, ihre Überzeugung und ihre Kampfmethoden. Wir kämpfen seit 38 Jahren gegen diesen Feind. Wir kennen ihn und haben Erfahrung. Heute kämpfen wir mit neuen Methoden und konzentrieren uns darauf, die Boden-, Luft- und Chemiewaffenangriffe ins Leere laufen zu lassen. Diese Methoden entwickeln wir weiter. Andernfalls wäre es nicht möglich, dort standzuhalten. Es wird permanent bombardiert, der Feind zieht Schutzanzüge an und setzt chemische Waffen ein.
Der Feind hat zuerst die Zap-Region, also die Gebiete Rêkanî und Nêrwe angegriffen. Dort kam er nicht weiter. Es dauerte ein paar Tage, Soldaten starben und die Guerilla führte Gegenangriffe durch. Am meisten Verluste hat der Feind am Kuro Jahro und Çiyareş erlitten. Dort ist er besiegt worden. Er hat gegen den Willen der Guerilla noch kein einziges Gebiet eingenommen, aber an vielen Stellen befinden sich Guerilla und Armee in unmittelbarer Nähe. Es findet ein harter und schwerer Krieg statt, der große Selbstlosigkeit erfordert. Ohne Opferbereitschaft wäre der seit 44 oder 45 andauernde Widerstand nicht möglich.
Der türkische Staat will Erfolge sehen: Seine Macht basiert auf Blut
Als der Feind nicht weiterkam, hat er den Krieg in westlicher Richtung ausgeweitet. Am Fluss Zap befinden sich die Gipfel Girê Cûdî, Girê FM und Girê Hakkari. Der Girê Hakkari ist der größte Gipfel hinter Amêdî. Der Krieg wurde dorthin verlegt. Der Feind ist auch erneut in Metîna eingedrungen. Die Kämpfe dauern seit Tagen an, aber die türkischen Truppen befinden sich immer noch an den Stellen, an denen sie abgesetzt wurden. Sie wollen vorrücken und kriegen bei jedem Versuch einen Schlag verpasst. Ich weiß, dass auch viele Hubschrauber getroffen wurden. Einige sind vermutlich abgestürzt, aber wir sagen dazu nichts, solange wir es nicht mit eigenen Augen gesehen haben. Am Ufer des Zap befindet sich der Girê Cûdî, dort haben die Freundinnen und Freunde heute zwei Sikorsky-Hubschrauber ins Visier genommen. Sie sagen, dass einer getroffen wurde und Rauch aufgestiegen ist. Er flog weiter in Richtung eines Gipfelstützpunktes nahe Çelê an der Grenze, dann war eine große Explosion zu hören. Möglicherweise ist er also explodiert und samt Besatzung zerstört worden, aber weil das nicht mit eigenen Augen beobachtet wurde, können wir nur sagen, dass er getroffen wurde.
Der türkische Staat erleidet großen Schaden in diesem Krieg, aber er macht es nicht öffentlich. Er hat viele Verluste und es ist ihm gleichgültig, ob Menschen sterben, er will Erfolge sehen. Erdoğan und Bahçeli lassen die Kinder des türkischen und kurdischen Volkes für den eigenen Machterhalt sterben. Ihre Macht basiert auf Blut.
Sieben Varianten chemischer Kampfmittel
Momentan setzt die Armee den Schwerpunkt auf Chemiewaffen. Unsere Freundinnen und Freunde im Feld haben bisher sieben chemische Varianten festgestellt: Pechschwarz, gelb, silberfarben, grün und geruchlos, braun, rot mit Seifengeruch und weiß. Wir können diese Mittel nur mit ihren Farben beschreiben. Es werden verschiedene chemische Gase gegen uns benutzt. Es gibt Zehntausende Soldaten, eine Luftwaffe, Bodentruppen, aber keinen Willen. Resultate sollen mit Chemiewaffen erzielt werden. So ist dieser Krieg.
Wir glauben an uns und sind von unseren Methoden überzeugt. Wir werden alle Waffen abwehren und siegen. Dazu sind wir fest entschlossen. Wir nehmen Risiken und Gefahren ins Auge, aber wir werden bis zum Äußersten standhalten gegen den Feind.
Was bedeutet die Dreißig-Kilometer-Zone?
Der türkische Staat hat 2016 ein neues Kriegskonzept beschlossen: Die Erweiterung der Türkei bis zu den Grenzen des Nationalpakts Misak-i Milli. Die Türkei soll wie die Osmanen ein großer Staat in der Region werden, Irak, Syrien und sogar Libyen sollen türkisches Protektorat werden. Dafür muss ein Genozid am kurdischen Volk verübt werden, denn seine Existenz wird als Gefahr betrachtet. Es muss türkisiert oder getötet werden. Das ist kein Kemalismus, es ist die Ittihat-Terakki-Linie [,Komitee für Einheit und Fortschritt’], es geht um Turanismus [Ideologische Strömung des türkischen Nationalismus, die einen großtürkischen Staat bis nach Westchina zum Ziel hat und auch weite Teile Russlands mit einbezieht], um die Vormachtstellung des Türkentums.
Im Moment ist dieses Konzept noch nicht vollständig etabliert. Beispielsweise sagen der Präsident und seine Minister: Wir wollen eine Pufferzone an unserer Südgrenze, lasst sie uns dreißig Kilometer breit machen. Sie sprechen dabei nicht von Rojava, sondern von der Südgrenze. Gemeint ist also auch Südkurdistan. Es geht um eine Dreißig-Kilometer-Zone, die von Efrîn und Aleppo bis nach Sidekan reicht und auch Diyana einschließt. Inoffiziell wird jeden Tag im Fernsehen erklärt, dass die Gebiete innerhalb der Grenzen des Misak-i Milli besetzt werden müssen und es keinen anderen Weg gibt. Das ist inzwischen nicht mehr geheim oder eine Behauptung von uns, es ist das Konzept des türkischen Staats.
Die eigentliche Gefahr für den Nahen Osten
Was in den besetzten Gebieten geschieht, ist bekannt. In Efrîn wurde ein Völkermord begangen. Die kurdische Bevölkerung wurde vertrieben, es wurden Dschihadisten angesiedelt. Der Besitz unseres Volkes wurde aufgeteilt. Das gleiche solle jetzt in Başûr [Südkurdistan] und in den anderen Gebieten in Rojava passieren. Sie werden nicht davor zurückschrecken, mit jungtürkischen Methoden Genozide an den Völkern zu verüben, um die Türkei zu erneuern und zu vergrößern. Darin liegt die eigentliche Gefahr für den gesamten Nahen Osten.