Die Angriffe der Türkei gegen die Demokratische Föderation Nordsyrien gehen in die nächste Runde. Mit dem Beschuss von Städten und Dörfern entlang der türkisch-syrischen Grenze in den letzten Tagen bewahrheiten sich Prognosen, die von der kurdischen Freiheitsbewegung schon seit einigen Monaten diskutiert werden: Die Türkei wird eigene Soldaten und islamistische Gruppen gegen das Selbstverwaltungsprojekt in Nordsyrien einsetzen und kann dabei auf die direkte und indirekte Unterstützung der internationalen Mächte hoffen. In diesem Zusammenhang stellt sich sowohl für die demokratischen Kräfte im Mittleren Osten, als auch für uns hier in Deutschland die Frage, wie eine gemeinsame Antwort auf die Bedrohung der Revolution in Nordsyrien aussehen muss.
Vierer-Gipfel in Istanbul, Schüsse in Kobanê
Nicht zufällig begann die türkische Armee mit ihren Angriffen unmittelbar nach dem medial stark begleiteten Gipfel am 27. Oktober diesen Jahres in Istanbul. Merkel, Macron, Putin und Erdoğan hatten dort entgegen offizieller Erklärungen offensichtlich nicht über Frieden und Stabilität in Syrien verhandelt. Die Entwicklungen seit dem Gipfel zeigen, dass die beteiligten Staaten vielmehr darum bemüht waren, den Status-Quo in Idlib vorerst aufrecht zu erhalten und dem türkischen Regime die notwendige Rückendeckung für die Fortsetzung ihrer chauvinistischen und kriegerischen Politik im In- und Ausland zu geben. Die Türkei reagierte prompt, beschoss in den Tagen nach dem Gipfel Städte und Dörfer in den Regionen Kobanê und Girê Spî, drohte mit einer Intervention östlich des Euphrats und untermauerte ihre Drohungen durch die Verlegung von über 1000 Dschihadisten. Diese wurden bezeichnenderweise aus Efrîn an die syrisch-türkische Grenze in der Region Girê Spî (Tall Abyad) verlegt. Efrîn ist seit März diesen Jahres von türkischen Truppen und tausenden islamistischen Söldnern besetzt. Hunderttausende Menschen waren durch den Krieg in Efrîn in die Flucht getrieben worden. Seither gibt es fast täglich Berichte über Erpressungen, Vertreibung, Folter und die Zerstörung von Wäldern und Olivenbaumhainen in dem nordsyrischen Kanton Efrîn.
Türkischer Traum von einer Welt ohne Kurdinnen und Kurden
Für die Drohungen und Angriffe der Türkei gibt es sowohl pragmatische als auch ideologische Gründe. In der Türkei hat der Wahlkampf für die Kommunalwahlen im April 2019 bereits inoffiziell begonnen. Doch mit Wahlkampf sind nicht Kundgebungen, Wahlprogramme und ein demokratischer Wettstreit um die Gunst der Wählerinnen und Wähler gemeint. Das türkische Regime läutete die heiße Phase vor den Kommunalwahlen vor einigen Wochen mit einer massiven Verhaftungswelle ein. Seither wurden in allen Teilen des Landes hunderte Aktivistinnen und Aktivisten der HDP und BDP festgenommen. Auch die Kriegsdrohungen gegen die Demokratische Föderation Nordsyrien müssen als Teil der AKP-Wahlkampfstrategie verstanden werden. Die rassistische und nationalistische Stimmung in der Türkei soll durch die Kriegspropaganda angeheizt werden – ähnlich wie vor den Präsidentschaftswahlen im Juni 2018, als Efrîn angegriffen wurde. Die türkischen Medien sprechen tagtäglich vom Kampf gegen vermeintliche Terroristen in Nordsyrien und einer angeblichen Gefahr für die nationale Sicherheit. Den Machthabern in der Türkei wird natürlich auch daran gelegen sein, mithilfe eines drohenden Krieges von der schwerwiegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise in der Türkei abzulenken: Die Inflation liegt bei 25 Prozent, die Abhängigkeit des Landes von ausländischem Kapital könnte dazu führen, dass die Türkei sich IWF-Auflagen beugen muss und Berichte über knapp 200 tödliche Arbeitsunfälle im Oktober geben einen Einblick in den Druck, der auf den Arbeitnehmenden in der Türkei lastet. Soweit zu den pragmatischen Abwägungen der türkischen Seite. Mindestens ebenso wichtig ist eine ideologische Prämisse, auf der die Republik Türkei seit ihrer Gründung im Jahr 1923 fußt: Die Verleugnung der Kurdinnen und Kurden bzw. die Verweigerung ihrer grundlegendsten politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Rechte. Aufstände und Proteste der kurdischen Bevölkerung in der Türkei beantwortete man in Kocgiri 1925, in Dersim 1938 und in den Städten Diyarbakir (Sur), Nusaybin (Nisêbîn) oder Cizre (Cizîr) 2015 mit Massakern und Zerstörung. Die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entscheidungsträger der Türkei werden von der Überzeugung angetrieben, jegliche Zugeständnisse gegenüber den Kurdinnen und Kurden würden den Erhalt der Türkei gefährden. Dementsprechend werden die Kurdinnen und Kurden als Hauptfeind betrachtet, den es zu zerschlagen gilt. Es ist wichtig, sich diesen Aspekt der türkischen Staatsideologie immer wieder vor Augen zu führen, um die türkische Politik in ihrer historischen Tragweite und aktuellen Brisanz zu verstehen.
Internationale Konkurrenz um die Neuaufteilung des Mittleren Ostens
Die internationalen Mächte, allen voran die USA, Russland, die EU und China, befinden sich seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus in einem immer intensiveren Wettstreit um die Hegemonie im Mittleren Osten. Insbesondere die NATO-Staaten und Russland versuchen sich der Türkei zu bedienen, um eigene Interessen in der Region durchzusetzen. Die Türkei fungiert wirtschaftlich als wichtiger Absatzmarkt, günstiger Produktionsstandort und Rohstofflieferant, militärisch unter anderem als Standort für Militärstützpunkte und als Waffenkäufer und politisch mit ihren Erfahrungen aus osmanischer Herrschaftszeit als Türöffner in den Mittleren Osten. Den internationalen Mächten ist daran gelegen, die Türkei auf der einen Seite als Partner zu gewinnen und das Land auf der anderen Seite nicht zu stark werden zu lassen. Der türkisch-kurdische Konflikt kommt Mächten wie den USA oder der EU also äußerst gelegen und wurde von ihnen historisch stets befeuert. Heute versuchen die imperialistischen Mächte jeglicher Couleur die Türkei als eine Art Schlagstock gegen die Kurdinnen und Kurden einzusetzen, während sie die kurdische Seite nutzen möchten, um Zugeständnisse von der Türkei zu erringen. Entgegen all der anti-imperialistischen Rhetorik Erdoğans lässt sich die Türkei auf dieses Spiel ein und verkauft ihre militärische Stärke und ihren wirtschaftlichen Reichtum seit mittlerweile knapp 100 Jahren an den Meistbietenden. Den Kurdinnen und Kurden ist es in den vergangenen Jahren mithilfe der kurdischen Freiheitsbewegung gelungen, zu einem immer selbstbewussteren Akteur zu werden, der mit der Demokratischen Föderation Nordsyrien eigene praktische Vorschläge für die Lösung der Krise im Mittleren Osten machen konnte. Dass es sich dabei um eine Alternative zu imperialistischen Kriegen und Ausbeutung handelt, ist auch Mächten wie Russland, den USA und der EU nicht entgangen. Eben diese Mächte nutzen die Türkei, um Druck auf die kurdische Freiheitsbewegung auszuüben. Dahinter steht der Versuch, die Kurdinnen und Kurden mit der Anerkennung einiger weniger kultureller Rechte abzuspeisen und sie von ihrem anti-kapitalistischen, multi-ethnischen und anti-patriarchalen Gesellschaftsmodell abzubringen. Der Krieg in Efrîn und die seither andauernde Besatzung machen deutlich, dass die internationalen Mächte und regionale Akteure wie die Türkei sich trotz all ihrer Widersprüche auf die Zerschlagung der Revolution in Nordsyrien einigen können. Umso gefährlicher sind daher die aktuellen Angriffe und die zunehmenden Drohungen gegen die nordsyrischen Gebiete östlich des Euphrats.
Selbstverteidigung und gemeinsame Kämpfe als internationalistische Antwort
Auch wir sind Akteurinnen und Akteure. Nicht ohne Grund spricht die kurdische Freiheitsbewegung von drei grundlegenden Akteuren im Mittleren Osten: die internationalen Mächte, regionale Staaten wie die Türkei und der Iran und die demokratischen, gesellschaftlichen Kräfte. Vertreterinnen und Vertreter der Demokratischen Föderation Nordsyrien betonen seit Jahren, dass die Stärke der Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien in der Organisierung der Gesellschaft vor Ort begründet liegt. Zugleich unterstreichen sie stets, dass eine Verteidigung der Revolution in Nordsyrien und der Aufbau basisdemokratischer Strukturen nur gelingen kann, wenn Verbindungen zu Kämpfen in den anderen Teilen der Welt geknüpft werden. Natürlich sind es zu einem entscheidenden Teil die Selbstverteidigungskräfte der QSD/SDF (Demokratische Kräfte Syriens/Syrian Democratic Forces), YPG (Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Frauenverteidigungseinheiten), die die Revolution vor Ort verteidigen. Aber ebenso wichtig ist es für uns in Europa, unsere Kämpfe hier mit dem Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen noch enger und organischer zu verbinden. Wir alle haben ja bereits verinnerlicht, dass ein Angriff auf die Revolution in Nordsyrien auch ein Angriff auf uns Demokratinnen und Demokraten in Europa ist. Daher heißt es jetzt dort weiter zu machen, womit wir während der Angriffe auf Efrîn begonnen haben: Im Rahmen von gemeinsamen Plattformen lokal gemeinsame Kämpfe der kurdischen Freiheitsbewegung und linker Kräfte in Deutschland strategisch anzugehen. Mietkämpfe, Streiks, anti-militaristische Aktionen, ökologische Proteste wie im Hambacher Fort und Antifa-Arbeit kombiniert mit einer Auseinandersetzung mit den ideologischen Überlegungen der kurdischen Freiheitsbewegung, ihren organisatorischen Erfahrungen der letzten vierzig Jahre und der praktischen Unterstützung der Revolution vor Ort – das muss unsere gemeinsame Antwort sein, mit der wir jeden noch so starken Angriff auf die demokratischen Kräfte weltweit ins Leere laufen lassen werden. Die kurdischen Vereine in knapp 80 deutschen Städten können ein Ort dafür sein.
Im Original erschien der Artikel am 14.11.2018 auf der Homepage des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad e.V.