Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte sich die vom Diskurs über den „Krieg gegen den Terror“ geprägte internationale Politik sehr ambivalent: Dschihadistische Strukturen wurden sowohl als Bedrohung als auch als strategisches Instrument betrachtet und genutzt. Der Aufstieg des politischen Islam und dschihadistischer Strukturen ermöglichte die Umgestaltung der Kräfteverhältnisse im internationalen System, insbesondere in der Zeit nach dem Kalten Krieg. Die von den USA gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans unterstützten Mudschaheddin-Gruppen spielten eine entscheidende Rolle in der Globalisierung dschihadistischer Bewegungen. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden diese Gruppen jedoch zu einer Bedrohung für den Westen, was die Hegemonialmächte veranlasste, ihre Haltung gegenüber diesen Gruppen neu zu bewerten.
Im syrischen Bürgerkrieg hat sich gezeigt, wie sich dschihadistische Gruppen in strategische Instrumente der globalen Akteure verwandelt haben. Zu ihrer Legitimation erhalten sie ein neues Gesicht, wo sie unter der Federführung der westlichen Länder und ihrer regionalen Verbündeten und somit im Einklang mit externen Interessen agieren. Dass diese Gruppen sowohl als Bedrohung als auch als Verbündete betrachtet werden können, offenbart den widersprüchlichen Charakter der heutigen internationalen Politik. Diese Strategie hat jedoch langfristige Folgen sowohl für die Völker der Region als auch für die globale Sicherheit.
Entstehung und Entwicklung des politischen Islam
Der politische Islam ist eine Denkbewegung, die argumentiert, dass der Islam nicht nur ein individuelles Glaubenssystem ist, sondern dass auch die soziale, wirtschaftliche und politische Ordnung nach den Bestimmungen des Islam gestaltet werden solle. Obwohl diese Ideologie im 19. und 20. Jahrhundert im modernen Sinne Gestalt annahm, gehen ihre Wurzeln auf das Verständnis von Staatsführung der frühen Perioden des Islam zurück. Die Tatsache, dass sich die meisten der heutigen politischen islamischen Bewegungen als „salafistisch“ bezeichnen, beruht auf diesem Verständnis.
Mit der Entstehung des Islam entstand ein Modell der Staatsführung, in dem Religion und Staat miteinander verflochten waren. Dieses Modell, das als Tradition des Kalifats und des islamischen Staates (7. bis 18. Jahrhundert) bezeichnet wird, beginnt mit der Zeit der Herrschaft des Propheten Mohammed (622-632). Es umfasste sowohl die religiöse als auch die politische Führung. In der Zeit der Vier Kalifen (632-661) begannen die ersten Diskussionen über das Regierungsmodell des Islam. Die Periode der Herrschaft der Umayyaden (661-750) und diejenige der Herrschaft der Abbasiden (750-1258) gelten als die Perioden, in denen sich der Islam zu einem Großreich entwickelte. Die lange Periode des Osmanischen Reiches zwischen 1299 und 1924 wird als Höhepunkt des Kalifats betrachtet.
Während dieser Zeit existierte der Islam als eine Religion, die unmittelbar mit der staatlichen Verwaltung verbunden war. Der Prozess der Säkularisierung und Modernisierung im Westen führte jedoch zu radikalen Veränderungen in der islamischen Welt.
Im 19. Jahrhundert führte die westliche Expansions-, Modernisierungs- und Säkularisierungspolitik zu einer schweren Identitätskrise in der islamischen Welt. Als die osmanischen, iranischen und indischen Muslime sich gegenüber dem Westen geschwächt sahen, nahm das moderne islamistische Denken Gestalt an.
Insbesondere nachdem Mahmut II. zu Beginn des 19. Jahrhunderts den osmanischen Thron bestiegen hatte, wurden die Verwestlichungsbestrebungen des Osmanischen Reiches und die nachfolgenden Initiativen wie Tanzimat¹, die konstitutionelle Monarchie und Verfassungsreformen von der traditionellen Ulema-Klasse² kritisiert und als Abkehr vom Islam bezeichnet. In den folgenden Jahren verteidigte Cemaleddin Afgani (1838-1897) in Ägypten die Idee der islamischen Einheit (Panislamismus) gegen den Westen. Ebenfalls in Ägypten vertraten Muhammad Abduh (1849-1905) und Rashid Reza (1865-1935) die Auffassung, dass der Islam neu interpretiert werden sollte, und legten die Grundlagen für das moderne islamische Denken.
Der wichtigste Wendepunkt des politischen Islam war die 1928 von Hasan al-Banna in Ägypten gegründete Bewegung der Muslimbruderschaft (Ikhwan-ı Müslimin). Die Muslimbruderschaft war die erste moderne Struktur, die den Islam als politische Bewegung organisierte. Die Bewegung, deren Ziel die Wiederherstellung des islamischen Rechts in der Gesellschaft und im Staat war, basierte zunächst auf der Idee der Organisation der Zivilgesellschaft und der allmählichen Umgestaltung. Nach der Ermordung von Hassan al-Banna im Jahr 1949 schlug sie jedoch einen radikaleren Weg ein.
Sayyid Qutb war in den 1950er Jahren Urheber dieser Radikalisierung, indem er strengere Grundsätze in der Ideologie der Muslimbruderschaft entwickelte. Ihm zufolge bedeuteten alle Regierungen, die nicht dem Islam verbunden waren³, eine Rückkehr in die Zeit der „Jahiliyya“ (vorislamische Finsternis). Qutb vertrat auch die Ansicht, dass ein islamischer Staat nur durch eine Revolution und den Dschihad errichtet werden könne.
In Pakistan trat Abu’l-A’la Mawdudi (1903-1979) als theoretischer Gestalter der Idee eines islamischen Staates in den Vordergrund und gründete 1941 die Jamaat-e-Islami, die den politischen Islam zu einer organisierten politischen Bewegung machte. Mawdudi vertrat die Auffassung, dass der Islam ein soziales und politisches System sein sollte, nicht nur ein individuell gelebtes. Mawdudis Ideen bildeten die ideologische Grundlage für Strukturen wie die Taliban und Al-Qaida.
Während sich der sunnitische Flügel des Islam auf diese Weise entwickelte, stellte die iranische Revolution von 1979 die erste konkrete Errungenschaft des schiitischen politischen Islam dar. Ayatollah Khomeini errichtete ein theokratisches Regime, indem er das Prinzip des Velayat-e Faqih (islamische Rechtsgelehrte regieren den Staat) einführte. Dieser iranische Erfolg belebte die Idee der „islamischen Revolution“ in der gesamten islamischen Welt neu.
Die Popularisierung der Idee des bewaffneten Dschihad durch islamistische Kämpfer (Mudschaheddin) gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans in den 1980er Jahren und das Erstarken solcher Bewegungen durch die Unterstützung der USA und Pakistans führten in den 1990er Jahren zur Entstehung von Al-Qaida und den Taliban. Bin Laden und Al-Qaida, die sich auf Qutbs radikale Ideologie stützten, waren eine der wichtigsten Bewegungen, um die Idee des globalen Dschihad in die heutige Zeit zu tragen.
Die heute in der Türkei regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) steht in der Tradition der Muslimbruderschaft. Auch die Ennahda in Tunesien hat das Ziel verfolgt, ein islamistisches Regierungsmodell zu etablieren.
Al-Qaida und IS haben versucht, als nichtstaatliche bewaffnete Organisationen einen Staat auf der Grundlage der Scharia zu errichten, und die aus diesen Bewegungen hervorgegangenen Bewegungen HTS (Hayat Tahrir al-Sham), Boko Haram und Taliban versuchen weiterhin, in einzelnen Ländern eine islamische Herrschaft als Regierung einzurichten.
Instrumentalisierung des politischen Islam durch globale Mächte
Der politische Islam ist historisch gesehen eine ideologische Bewegung, die häufig von westlichen Hegemonialmächten für ihre geopolitischen Interessen instrumentalisiert wurde. In den Jahren des Kalten Krieges wirkte sich die geopolitische Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf den Nahen Osten und Nordafrika aus, und die westlichen Mächte beschlossen, diese Region als Pufferzone gegen die Sowjets zu nutzen. Insbesondere die iranische Revolution von 1979 und die Gründung der Islamischen Republik Iran wurden als Bedrohung für die westliche Vorherrschaft im Nahen Osten angesehen, und die sowjetische Intervention in Afghanistan im selben Zeitraum verstärkte diese Bedrohung noch.
Während der sowjetischen Besetzung Afghanistans leisteten die Vereinigten Staaten mit Unterstützung Pakistans und Saudi-Arabiens massive finanzielle und militärische Hilfe für die afghanischen Mudschaheddin. Bei diesen Gruppen handelte es sich um ideologische Bewegungen des politischen Islam, und die USA nutzten sie als ihre Stellvertreter gegen die Sowjets.
In der Zeit nach dem Kalten Krieg traten die westlichen Mächte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einen Prozess geopolitischer Umstrukturierungen ein. In dieser Zeit änderte sich zwar die Haltung des Westens gegenüber dem politischen Islam, doch seine Beziehungen zu islamistischen Bewegungen entsprachen weiterhin seinen Interessen im Nahen Osten. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren unterstützten die USA das Taliban-Regime in Afghanistan aus regionalen strategischen Interessen, insbesondere zur Einflussnahme in Pakistan. Im gleichen Zeitraum erhielt auch die AKP, die in der Türkei an die Macht kam, starke Unterstützung.
In dieser Zeit wurde das Verhältnis des Westens zum politischen Islam immer komplexer. Einerseits wurde ein Krieg gegen dschihadistische Gruppen propagiert, andererseits wurden diese Bewegungen in einigen regionalen Strategien eingesetzt. Während der Westen nach den Anschlägen vom 11. September den „Kampf gegen den Terrorismus“ aufnahm, strukturierte er einige politisch-islamistische Gruppen als alternative Kraft gegen die liberalen Volksbewegungen in lokalen Konflikten. Das zeigte sich vor allem infolge des Arabischen Frühlings.
So wurden während des syrischen Bürgerkriegs Organisationen, die der Ideologie des politischen Islam folgten, von den westlichen Mächten als Werkzeug genutzt. Zu Beginn des Krieges verstärkte der Westen seine Unterstützung für Oppositionsgruppen, um das Regime in Syrien zu stürzen. Unter diesen Gruppen spielten politisch-islamistische Elemente eine wichtige Rolle.
Die erste Oppositionsbewegung in Syrien war die Freie Syrische Armee (FSA), die sich aus vom Westen unterstützten säkularen Gruppen zusammensetzte. Diese Gruppen gerieten jedoch bald unter den Einfluss radikaler islamistischer Gruppen wie dem IS und Jabhat al-Nusra. Die Umwandlung der Reste aus der FSA in die sogenannte Syrische Nationalarmee (SNA) wurde insbesondere unter dem Einfluss der Türkei in Syrien vollzogen. Die Türkei unterstützte dschihadistische Gruppen gegen die kurdische Bewegung in Syrien. Bis zu einem gewissen Grad wurde diese Unterstützung der Türkei von den westlichen Mächten geduldet, da der Westen in der Unterstützung der Türkei eine wirksame Strategie gegen das Regime in Syrien sah.
Der Aufstieg des IS, einer weiteren Bewegung des politischen Islam, veränderte den Verlauf des Krieges in Syrien. Im Jahr 2014 eroberte der IS große Gebiete im Irak und in Syrien, was von den westlichen Mächten als ernsthafte Bedrohung ihrer Sicherheit angesehen wurde.
Rojava und der Konflikt zwischen politischen islamistischen Gruppen
Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs hat sich Rojava als ein Gebiet herauskristallisiert, das einen großen Teil Nordsyriens umfasst und neben anderen Bevölkerungsgruppen von Kurd:innen bewohnt wird. Während im übrigen Syrien das herrschende autoritäre Assad-Regime und radikale islamistische Gruppen miteinander um die Vorherrschaft rangen, hat Rojava ein ganz anderes Modell entwickelt. Rojava strebt die Entwicklung eines ideologisch säkularen, demokratischen Systems an, das auf der Gleichheit der Unterschiede beruht und sich auf die Grundsätze der Ökologie und der Freiheit der Frauen stützt. Die Gleichstellung der Geschlechter, die Rechte der Frauen und der Schutz der ethnischen Vielfalt sind die wichtigsten Aspekte dieses Gesellschaftsmodells.
Im Gegensatz zu den klassischen westlichen Demokratien setzt Rojava auf direkte Demokratie und soziale Teilhabe. Anstelle einer zentralisierten Regierung basiert die Verwaltung in Rojava auf dem Konzept des demokratischen Konföderalismus, der die Selbstverwaltung durch lokale Versammlungen in der Region vorsieht. Darüber hinaus wurde eine Struktur gewählt, die sowohl säkulare als auch religiöse Unterschiede berücksichtigt. Dieses Modell erkennt die ethnische und konfessionelle Vielfalt der Region an und wendet sich gegen religiöse Unterdrückung. Diese säkulare Struktur in Rojava ist eine radikale Alternative zum politischen Islam, der von traditionellen islamistischen Werten geprägt ist.
Eine der offensichtlichsten Alternativen, die Rojava bietet, ist seine revolutionäre Haltung zu den Rechten der Frauen. Während Frauen im übrigen Syrien seit jeher gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch an den Rand gedrängt werden, sind sie in Rojava in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aktiv beteiligt. Die Freiheit der Frauen ist eines der wichtigsten Elemente der sozialen und politischen Ordnung in Rojava. Frauen übernahmen aktive Rollen in Strukturen wie der PYD (Partei der demokratischen Einheit) und die YPJ (Frauenverteidigungseinheiten). Sie nahmen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teil.
Diese aktive Rolle der Frauen im Krieg ist ein Faktor, der den Konflikt der ideologischen Struktur von Rojava mit dem politischen Islam verschärft. Denn im traditionellen Verständnis des politischen Islam ist der Platz der Frau im gesellschaftlichen Leben generell eher begrenzt. Die aktive Rolle der Frauen in der Politik, im Krieg und im gesellschaftlichen Leben hat die Feindseligkeit islamistischer Gruppen und der Staaten, die diese Gruppen unterstützen, insbesondere der Türkei, gegenüber Rojava verschärft. Die Frauenrevolution in Rojava steht in direktem Widerspruch zu den sozialen und ideologischen Strukturen, mit denen islamistische Gruppen ihre Existenz sichern.
Politisch-islamistische Gruppen in Syrien, insbesondere die von der Türkei unterstützten, sehen Rojava als Gefahr an. Diese Gruppen betrachten die säkulare Selbstverwaltung in Rojava und den Kampf der Frauen um ihre Rechte als Bedrohung für die bestehende ideologische Ordnung und das traditionelle islamistische Weltbild in Syrien. Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs haben dschihadistische Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden, Rojava kontinuierlich angegriffen, um sein demokratisches Autonomiemodell zu zerstören.
Die Politik der Türkei gegenüber der kurdischen Bevölkerung ist einer der Gründe für ihre Feindseligkeit gegenüber Rojava. Die Türkei sieht in Rojava aber nicht nur eine kurdisch kontrollierte Region, sondern wertet auch das dort praktizierte säkulare, feministische und demokratische Autonomiemodell als Gefahr für ihre nationale Sicherheit. Um die internationale Anerkennung von Rojava zu verhindern, hat die Türkei islamistische Gruppen in Syrien, Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham, in den Mittelpunkt des bewaffneten Kampfes gestellt, um die Strukturen Rojavas zu destabilisieren.
Die Motivation hinter den Angriffen dieser Gruppen auf Rojava ist nicht nur ideologisch, sondern auch regional und strategisch: Der Erfolg des säkularen Modells und der kurdischen Bewegung in Rojava könnte andere kurdische Bewegungen in der Region ermutigen. Dies stellt aus Sicht der Türkei eine Bedrohung dar, sowohl im Hinblick auf die Stärkung der kurdischen Bewegungen als auch auf die Ausbreitung eines säkularen Regierungsmodells.
Angriffe auf Rojava liegen nicht nur im Interesse der Türkei, sondern auch des Iran. Beide Länder sehen in den kurdischen Forderungen nach Selbstbestimmung und einem regionalen politischen Status eine Bedrohung für ihre nationale Sicherheit. Um das Erstarken der kurdischen Bewegung in Rojava zu verhindern, nutzen die Türkei und der Iran die politisch-islamistischen Gruppen in dieser Region als Stellvertreter für ihre Interessen.
Der Iran hat direkt oder indirekt mit der syrischen Regierung zusammengearbeitet, um den regionalen Einfluss der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zu brechen. Während sich der Iran mit dem Assad-Regime in Syrien verbündet hat, um eine regionale Hegemonie zu errichten, hat er zugleich auch seine Beziehungen zur Hisbollah im Libanon und zu schiitischen Milizen im Irak ausgebaut. Der Iran hat seinen Einfluss in Syrien bis zum Sturz von Assad genutzt, um den Kampf der Kurd:innen um Selbstbestimmung einzudämmen.
All diesen Unternehmungen zum Trotz entwickeln sich die Werte einer demokratischen, egalitären und geschlechtergerechten Struktur, die Rojava ideologisch vertritt, zu einem alternativen Modell für verschiedene Völker in anderen Teilen des Nahen Ostens. Für viele Völker in der Region ist es ein vielversprechendes Gesellschaftssystem. Da dieses ideologische Modell jedoch in diametralem Gegensatz zu den vom politischen Islam geförderten Scharia-basierten Strukturen steht, wird das von Rojava angebotene alternative Modell als große Bedrohung sowohl für die traditionell dominierenden Mächte im Nahen Osten als auch für die politisch-islamistischen Bewegungen wahrgenommen.
Mögliche Zukunftsperspektiven
Der politische Islam wird weiterhin als Stellvertreter im Interesse der globalen Hegemonialmächte eingesetzt werden. Die langfristigen Folgen dieser Strategie werden jedoch häufig zu einer den eigentlichen Zielen entgegengesetzten Entwicklung führen und können darin enden, dass der Westen die Kontrolle über diese Bewegungen verliert. Die während des Kalten Krieges vom Westen unterstützten dschihadistischen Gruppen begannen im Laufe der Zeit sich zunehmend zu verselbständigen und eine Bedrohung für die Sicherheit des Westens darzustellen.
Vor allem die Bürgerkriege im Nahen Osten und die zunehmenden dschihadistischen Aktivitäten in der Region machen den politischen Islam auch heute noch zu einem Instrument für globale Hegemonialmächte. An diesem Punkt ist die Zukunft des politischen Islam direkt mit den strategischen Entscheidungen des Westens verbunden. Das zeigt jedoch die Gefahren einer Strategie auf, die sich ausschließlich auf kurzfristige Interessen stützt.
Rojava leistet großen Widerstand, indem es ein säkulares und demokratisches Regierungsmodell in einer Zeit umsetzt, in der der politische Islam auf dem Vormarsch ist. Die im Norden Syriens eingerichtete Selbstverwaltung will ein friedliches und gleichberechtigtes Leben zwischen den Gesellschaften bieten und sich gegen die mit Unterstützung des Westens geformten politisch-islamistischen Gruppen behaupten. Die säkulare, frauenbefreiende und multiethnische Struktur von Rojava steht im Gegensatz zu den grundlegenden Ideologien des politischen Islam und gerät gleichzeitig in Konflikt mit den Interessen der regionalen Akteure.
Der Widerstand in Rojava ist zu einem starken Symbol für den Aufbau einer alternativen Gesellschaftsform gegen die hegemoniale Struktur des politischen Islam einerseits und zu einer großen strategischen Bedrohung für die regionalen und globalen Mächte des Status quo andererseits geworden. Die ständigen Angriffe der Türkei auf Rojava, mit Hilfe islamistischer Gruppen als Stellvertreter, werden als Versuch gesehen, diesen Widerstand zu brechen. Der Verteidigungskampf in Rojava ist Teil eines großen regionalen und globalen ideologischen Konflikts.
Die Bedeutung der Haltung des Westens gegenüber Rojava
An diesem Punkt ist auch die Haltung des Westens gegenüber Rojava von großer Bedeutung. Der Westen hat gegen-über der kurdischen Bewegung eine pragmatische Haltung eingenommen, indem er sie manchmal unterstützt und manchmal, im Zuge seiner strategischen Interessen, mit anderen Mächten in der Region kooperiert. Die wechselnde Haltung des Westens in seiner Syrienpolitik hat einen entscheidenden Einfluss auf die Zukunft von Rojava und die Rolle des politischen Islam in der Region.
Der Widerstand von Rojava kann auch als alternatives Modell auf globaler Ebene betrachtet werden. Denn der demokratische Konföderalismus als egalitäre, freiheitliche und multikulturelle Regierungsform steht nicht nur im Gegensatz zur Scharia-basierten Regierungsform des politischen Islam. Dieses Modell kann das Entstehen ähnlicher ideologischer Widerstände nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in anderen Teilen der Welt inspirieren. Dieser ideologische Kampf von Rojava kann ein wichtiger Schritt sein, um die ideologische Hegemonie des politischen Islam zu brechen.
Die Zukunft des politischen Islam wird nicht nur von den Entwicklungen im Nahen Osten, sondern auch von einer breiteren Perspektive auf das globale Gleichgewicht geprägt sein. Während sie den politischen Islam im Einklang mit ihren strategischen Zielen fördern, sind die globalen Mächte gleichzeitig besorgt, die Kontrolle über diese Bewegungen zu verlieren. Die Unabhängigkeit des politischen Islam könnte jedoch eine größere Bedrohung für den Westen darstellen. Dies könnte zu einer Neuordnung des globalen geopolitischen Gleichgewichts führen.
Rojava wird in diesem globalen und regionalen geopolitischen Spiel weiterhin als Ort des Widerstands existieren. Obwohl das freiheitliche und säkulare Regierungsmodell von Rojava durch die Hegemonialmächte in der Region bedroht ist, hat es das Potenzial, als alternatives Modell auf globaler Ebene weiter zu bestehen. In diesem Zusammenhang kann der Widerstand von Rojava zu einem Symbol nicht nur für das kurdische Volk in der Region, sondern auch für die unterdrückten Völker auf der ganzen Welt werden.
(¹) Als Tanzimat wird die Periode tiefgreifender Reformen im Osmanischen Reich bezeichnet, die 1839 begann und 1876 mit der Annahme der Osmanischen Verfassung endete.
(²) Die Ulema-Klasse bezeichnet die Gelehrtenschicht im Islam, die sich mit religiösem Wissen, islamischem Recht (Fiqh) und Theologie befasst. Historisch spielte sie eine zentrale Rolle als religiöse Autorität und juristische Instanz, insbesondere im Osmanischen Reich, aber auch in an-deren islamischen Gesellschaften.
(³) Qutb zufolge waren islamische Gesellschaften ausschließlich solche, die die Scharia konsequent umsetzten.
Der Text des in Rojava lebenden Journalisten Sinan Cûdî erschien zuerst im Kurdistan-Report