Besê Hozat: „Mittelost-Strategie der USA bleibt dieselbe“

Als Ko-Vorsitzende des KCK hat sich Besê Hozat zu den Hintergründen des US-Truppenrückzugs und die neuen Pläne der USA und der Türkei für Nordsyrien geäußert.

Besê Hozat, die Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), äußerte sich im ANF-Interview über die Hintergründe des US-Truppenrückzugs und die neuen Pläne der USA und der Türkei für Nordsyrien.

Während die Drohungen Erdoğans gegen Nordsyrien und Rojava einen neuen Höhepunkt erreichen, verkündete Donald Trump jüngst den Rückzug der US-Truppen aus Syrien. Kam diese Entscheidung wirklich unerwartet?

Die US-Rückzugsentscheidung kam keineswegs unerwartet. Wenn man sich daran erinnert, warum die USA in Syrien interveniert haben, wird leicht erkennbar, warum nun die Rückzugsentscheidung gefällt wurde. Wir müssen diese Entscheidung als Teil der Mitteloststrategie der USA betrachten. Mit der Entscheidung verwerfen die USA weder ihre Syrien- noch ihre Mittelostpolitik. Ganz im Gegenteil, sie geben ihr nur eine neue Form. Wie bekannt verfolgen die USA seit vielen Jahren eine Politik, die insbesondere den Iran, Nordkorea und Syrien zu Zielen ihrer Angriffe macht. Mit der US-Intervention im Irak Anfang der 90er Jahre begann eine Phase, die wir den `Dritten Weltkrieg` nennen. Ziel des damals begonnenen Krieges im Mittleren Osten war die Umgestaltung der Region entsprechend der Bedürfnisse des Kapitalismus. Eines der wichtigsten Angriffsziele war Syrien. Das Land wurde zu einem zentralen Schauplatz der Auseinandersetzungen, die sich im Zuge des „arabischen Frühlings“ entwickelten. Ein weiteres Ziel der US-Intervention in Syrien bestand darin, das Baath-Regime zu schwächen, um es in die eigene Strategie für die Region integrieren zu können und die von ihm ausgehende Bedrohung für Israel aus dem Weg zu schaffen. Zudem ging es darum, die Entstehung einer revolutionären Bewegung zu verhindern. Aus dieser Perspektive betrachtet, bot der Islamische Staat (IS) den passenden Vorwand für die USA, um in Syrien zu intervenieren. Als der IS Kobanê angriff, nutzten die USA die dadurch entstandene Gelegenheit sehr gut aus. Indem der Widerstand der Kurdinnen und Kurden gegen den IS durch Luftschläge unterstützt wurde, verschafften die USA ihrer Intervention die notwendige Legitimität und sicherten sich einen bedeutenden Prestigegewinn. Auf diesem Weg wurden die Grundlagen dafür geschaffen, dass die US-Intervention in Syrien als legitim und normal betrachtet wurde.

Warum intervenierten die USA nicht schon vor dem Angriff des IS auf Kobanê?

Auch dafür gibt es eindeutige Gründe. Schon vor dem IS-Angriff auf Kobanê war es den YPG und YPJ gelungen, den IS an zahlreichen Fronten zu schlagen. In Kobanê kämpften sie heldenhaft gegen den IS und fügten ihm eine schwere Niederlage zu. Die Weltöffentlichkeit war zutiefst beeindruckt von dem Widerstand der YPG und YPJ, insbesondere der kurdischen Frauen, und unterstützte ihren Kampf zunehmend. Der Einfluss der Rojava-Revolution wurde auf der ganzen Welt spürbar. Es war damals bereits klar, dass der Erfolg des Kobanê-Widerstandes diesen Einfluss noch einmal um ein Vielfaches verstärken würde. In dieser Atmosphäre wollten die USA ihr schlechtes Image im Mittleren Osten und den anderen Teilen der Welt aufbessern. Die kurdischen Frauen und die anderen Kämpfer hatten durch ihren Kampf gegen den IS eine positive Stimmung geschaffen und durch die Revolution war eine große Energie entstanden. Davon wollten die USA profitieren, indem sie öffentlich die kurdischen Kämpfer*innen unterstützten und den Eindruck förderten, sie beteiligten sich am Kampf gegen den IS.

Wenn die USA aus all diesen Gründen in Syrien interveniert haben, warum ziehen sie sich dann jetzt zurück?

Seit dem ersten Tag der US-Intervention in Syrien war es die erklärte Absicht der USA, den revolutionären Charakter der Rojava-Revolution zu schwächen, die Revolution unter ihre Kontrolle zu bringen und Syrien gemäß der eigenen Interessen neu zu gestalten. Auch wenn die USA einige ihrer Ziele umsetzen konnten, gelangen ihr die Umsetzung ihres letztendlichen Ziels nicht.

Was waren die genauen Ziele der USA, die sie nicht umsetzen konnten?

Die Antwort auf diese Frage umfasst mehrere Punkte:

– Den USA ist es nicht gelungen, die revolutionären Kräfte in Rojava, die Völker Nordsyriens und die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) dazu zu bringen, auf US-Linie einzuschwenken.

– Den Kampf gegen den IS, den die USA als Vorwand für ihre Syrien-Intervention nutzten, können sie nicht mehr wie früher als Legitimation für ihre Präsenz vor Ort nutzen. Denn die YPG, YPJ und QSD haben den IS zerschlagen. Er verfügt über keine nennenswerte Kraft mehr. Der IS ist in Syrien nicht vollständig zerstört, doch befindet er sich in einer sehr schwachen Position und verfügt nur noch über geringen Einfluss. Das erschwert die Rechtfertigung der US-Militärpräsenz in Syrien.

– Die Kurdinnen und Kurden haben gemeinsam mit den demokratischen Kräften der anderen Völker in der Region deutlich an Kraft gewonnen. Die USA haben deshalb taktische Beziehungen mit ihnen aufgenommen, was zu Problemen mit ihrem strategischen Partner Türkei geführt hat, der zugleich ein NATO-Mitglied ist.

– Wie von den USA beabsichtigt, wurde der syrische Staat geschwächt, doch die Präsenz Russlands und des Irans stellen seit geraumer Zeit ein Hindernis für die USA dar. Russland und der Iran haben bis zuletzt vieles dafür getan, die USA und die Türkei in einen Konflikt miteinander zu verwickeln und die Türkei dadurch von den USA zu entfremden. Die USA haben es nicht dazu kommen lassen. Mit ihrer jüngsten Entscheidung haben sie diese Bestrebungen endgültig unterbunden. Es war von Anfang an klar, dass alle russischen und iranischen Versuche erfolglos bleiben würden, einen Konflikt zwischen der Türkei und den USA heraufzubeschwören und die Türkei aus der NATO zu lösen. Weder die USA noch die Türkei hätten dementsprechende Schritte unternommen. Die Türkei weiß sehr wohl, dass ein Ausstieg aus der NATO ihr Ende bedeuten würde. Die russischen und iranischen Versuche waren also von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Was haben die USA nach ihrer Rückzugsentscheidung vor?

Die USA verändern ihre Strategie in Syrien nicht. Vielmehr nehmen sie Veränderungen ihrer alltäglichen Politik und ihren taktischen Beziehungen vor. Die USA werden von nun an verstärkt versuchen, Syrien mithilfe der Türkei neu zu ordnen. Im Zuge dessen werden die USA gewisse kurdische Kreise instrumentalisieren, die von Anfang an gegen die Revolution in Rojava Position bezogen haben. Die US-Entscheidung, ihre Politik verstärkt über den NATO-Partner Türkei durchzusetzen, wird bedeuten, dass die von der Türkei finanzierten und organisierten islamistischen Gruppen massiv dafür eingesetzt werden, um Syrien neu zu ordnen und durch sie den eigenen Einfluss in Syrien zu schützen bzw. zu erweitern. Die jüngsten Äußerungen Erdoğans, man werde die Araber nicht dem IS und die Kurden nicht den YPG ausliefern, machen deutlich, welche Ausmaße die türkische Besatzungspolitik in Syrien hat und wie versucht wird, sie zu legitimieren. Die türkische Politik stellt eine große Gefahr für die Völker Syriens dar. Sie bedeutet, dass die türkische Besatzung in Syrien legitimiert wird und das Land in einem dauerhaften Kriegszustand verharren soll. So lässt sich die zurzeit erkennbare US-Politik in der Region zusammenfassen.

Welche Politik verfolgt Russland derzeit?

Russland versucht die Drohungen der Türkei dafür zu nutzen, Rojava dazu zu zwingen, auf die russische Linie einzuschwenken. Die türkische Besatzung und Bedrohung werden zur Erpressung genutzt. Das ist eine sehr pragmatische und schmutzige Politik, die der Einheit Syriens schadet und bei den Kurden und den anderen nordsyrischen Völkern große Wut hervorruft. Die unmoralische Politik Russlands dient dem Land dazu, den eigenen Einfluss in Syrien zu erhöhen und das Machtgleichgewicht mit der Türkei beizubehalten. Russland setzt damit eine höchst widersprüchliche und pragmatische Politik fort, die dem Land am Ende nur schaden wird. Anstatt die Unterstützung der Völker zu gewinnen, zieht Russland deren Wut und Feindschaft auf sich und verliert jegliche Legitimität. Derzeit wird versucht, in Syrien Chaos und Krieg zu stiften, indem mit der Türkei verbündeten islamistischen Gruppen und einigen kollaborierenden kurdischen Kreise in Nordsyrien zu Einfluss verholfen wird. In dieser Situation stellt die russische Politik nichts anderes als eine plumpe Drohung und Erpressung dar. Russland ist in Syrien zweifellos eine ernstzunehmende Kraft. Das Land kann bei der Herbeiführung einer demokratischen Lösung in Syrien eine aktive und konstruktive Rolle spielen. Es kann auf diesem Weg die Sympathie der Kurden und aller syrischen Völker gewinnen und lang andauernde freundschaftliche Beziehungen mit ihnen aufbauen. Die Kurdinnen und Kurden waren ja von Anfang an darum bemüht, unter Wahrung der Grenzen Syriens eine demokratische Lösung zu finden.

Wie groß war Ihrer Meinung nach der Einfluss der Verhandlungen mit der Türkei auf die Rückzugsentscheidung des US-Präsidenten?

Die Entscheidung zum Rückzug erfolgte nach den Gesprächen mit der Türkei. Es ist eindeutig, dass die Entscheidung Teil eines gemeinsamen Plans der USA und der Türkei ist. Wie ich bereits zuvor sagte, sieht es so aus, als hätten sich die USA entschlossen, in Zukunft die eigene Syrienpolitik wieder stärker über die Türkei laufen zu lassen und in diesem Zuge die Türkei in Syrien zu stärken. Wenn wir uns die Jahre 2011 und 2012 ansehen, können wir die derzeitige Situation besser verstehen. Damals verfolgten die USA und die Türkei einen gemeinsamen Plan, der letztendlich erfolglos blieb. In diesem Zuge gründeten sie den „Syrischen Nationalrat“ und die „Freie Syrische Armee“. Die Beziehungen der beiden Länder wurden zunehmend problematisch, als die beiden neu gegründeten Organisationen nicht den gewünschten Erfolg erzielten, US-Mittel in die Hände des IS fielen und die Türkei ein Bündnis mit dem IS einging. Die USA entschlossen sich darauf hin, nach neuen Optionen zu suchen und gingen ein taktisches Bündnis mit den YPG ein. Die Türkei hingegen finanzierte und organisierte im Rahmen ihrer Beziehungen zum IS und al-Nusra islamistische Gruppen in großem Rahmen. Dahinter stand die Absicht, die Revolution in Rojava in die Knie zu zwingen und zugleich die eigene Verhandlungsposition in Syrien zu stärken. Heute versuchen die USA ähnlich wie damals ihre Syrienpolitik wieder mithilfe der Türkei umzusetzen.

Wenn wir die aktuelle Lage vor diesem Hintergrund betrachten, wird deutlich, dass die Besatzungs- und Kriegspolitik der Türkei in Nordsyrien nicht losgelöst ist von der US-Politik. Die türkische Besatzung in den Regionen Dscharablus, Bab und Efrîn gelang aufgrund der Zurückhaltung der USA. Russland unterstützte die damaligen Angriffe offen. Die US-Unterstützung erfolgte eher in Form von Schweigen. Es wäre falsch, die türkischen Angriffe auf die Gebiete östlich des Euphrats nur mit der Politik Russlands und des Irans zu begründen. Zweifellos hat Russland viel dafür getan, um die USA und die Türkei in einen Konflikt miteinander zu verwickeln. Zudem nutzte Russland die Besatzungsdrohungen der Türkei, um die Kurden und die anderen Völker Nordsyriens in die Arme des syrischen Regimes zu treiben. Doch der ausschlaggebende Faktor hinter den aktuellen türkischen Angriffen sind die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei. Die USA verfolgen damit mehrere Ziele: Zum einen soll die US-Zustimmung zu den türkischen Angriffen das syrische Regime und Russland in die Enge treiben. Zum anderen sollen die Völker Nordsyriens in die Abhängigkeit von den USA gezwungen werden. Die USA versuchen den Einfluss der Türkei in Syrien zu stärken und dadurch Syrien entsprechend der eigenen Interessen neu zu ordnen.

Wie werden die Folgen der US-Rückzugsentscheidung aussehen? Welche Auswirkungen wird der Rückzug auf das Kräftegleichgewicht in Syrien haben?

Die Entscheidung wird sehr ernstzunehmende Folgen mit sich bringen. Das Kräftegleichgewicht in Syrien wird sich neu gestalten. Die Entscheidung der USA, gemeinsame Pläne mit der Türkei zu verfolgen und mithilfe dieses Partners den eigenen Einfluss in Syrien auszubauen, wird zwangsläufig dazu führen, dass Russland, der Iran und das Baath-Regime ihre Politik überdenken und anpassen müssen. Die Schlüsselposition der Kurden und der QSD ist ein wichtiges Element für das Kräftegleichgewicht im Land. Sich den Kurden und den demokratischen Kräften feindlich gegenüber zu verhalten, wird für alle Beteiligten nur schädliche Folgen haben. Die Kurdinnen und Kurden sind die treibende Kraft hinter der demokratischen Dynamik in der Region und stellen zugleich die Garanten für eine Einheit der Länder der Region dar. Es kann nicht länger bestritten werden, dass die Kurden das zentrale Element für die Demokratie und Einheit der Länder sind. Diejenigen Kräfte, die freundschaftliche Beziehungen mit den Kurden eingehen, werden davon profitieren können. Doch diejenigen, die von den Kurden nur profitieren und sie ausnutzen möchten, werden sich dadurch selbst schaden und am Ende zu den Verlierern gehören.

Die Kurdinnen und Kurden haben stets eine Politik verfolgt, mit der ein demokratisches und freies Leben innerhalb der Grenzen Syrien ermöglicht werden sollte. Stets waren sie offen für Verhandlungen mit dem syrischen Staat. Deshalb akzeptierten sie, dass in Städten wie Qamişlo und Hesekê einige Gebiete unter Kontrolle des Regimes blieben. Sie setzten sich entschlossen für die Befreiung Aleppos ein. Es ist daher im Interesse Syriens, eine Einigung mit den Kurden und den demokratischen Kräften Syriens zu erzielen. Ein zunehmender türkischer Einfluss würde eine Katastrophe für das Land bedeuten. Die Türkei ist eine Besatzungsmacht, die plündert, neo-osmanische Ambitionen verfolgt und in diesem Rahmen Syrien türkischem Einfluss unterwerfen möchte. Erdoğan und Bahçeli träumen noch immer von einem Staat im alten osmanischen Format. Sie betrachten die einhundertjährige Geschichte der türkischen Republik nur als Zwischenepisode und die Völker der Region als Untergebene. Natürlich sind all das Tagträumereien, die wenig erfolgversprechend erscheinen. Doch genau diese Träume sind die Inspiration für die türkischen Besatzungsbestrebungen.

Können Syrien und die Verbündeten des Landes eine Politik entwickeln, die sich gegen diese Politik richtet?

Die türkische Besatzung kann verhindert und Syrien vor den Gefahren beschützt werden, wenn der syrische Staat und seine Verbündeten die tatsächliche Lage anerkennen, die Interessen der syrischen Völker bedenken und auf dieser Grundlage eine neue Politik entwickeln. Der einzige Weg, um den Beginn eines neuen Chaos` in Syrien zu verhindern, ist eine demokratische Einigung mit den Kurden. Nur auf diesem Weg kann Syrien zu Frieden und Stabilität zurückkehren und wieder zu Kraft gelangen. Geschieht dies nicht, ist jetzt schon abzusehen, dass Syrien ein jahrelanger Krieg bevorsteht. Genau das bezweckt die Türkei mit ihrer derzeitigen Politik.

Was genau sind die Ziele der Türkei?

Die Türkei möchte Syrien in einen endlosen Bürgerkrieg verwickeln. Die von der Türkei organisierten islamistischen Gruppen und die Besatzungsbestrebungen des Landes zielen genau darauf ab. Dafür sollen die arabischen Kräfte genutzt werden, die sich unter Kontrolle der Türkei befinden. Teil dieses Planes ist es auch, die kollaborierenden kurdischen Kreise stärker an sich zu binden, um Araber und Kurden gegeneinander auszuspielen. Die internationalen Mächte bestärken die Türkei in ihren Plänen. Man kann also davon sprechen, dass versucht wird, einen umfassenden Verrat an Syrien in die Praxis umzusetzen.

Sie sprachen zuvor von der Aussage Erdoğans, man werde die Araber nicht dem IS und dem syrischen Regime und die Kurden nicht der PYD und der PKK überlassen. Was bezweckt er mit diesen Worten?

Erdoğan bringt damit die türkische Besatzungspolitik auf den Punkt. Mit dem Beginn des Kriegs in Syrien begann die AKP systematisch insbesondere westlich des Euphrats sunnitische Araber an die Seite der Türkei zu ziehen. Erdoğan verfolgte mit seiner „Flüchtlingspolitik“ einen ganz bewussten Plan. Er wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und verfolgte eine dementsprechend unmoralische Politik, die voll und ganz seinem eigenen Charakter entspricht. Erdoğan verfolgte die Absicht, die in die Türkei geflohene arabische Bevölkerung zu organisieren, tausende Menschen in türkischen Flüchtlingscamps zu versammeln und die Schwäche der EU in Bezug auf die „Flüchtlingspolitik“ auszunutzen, indem er die Geflüchteten aus Syrien als Erpressungsmittel einsetzte. Damit gelang es ihm, die notwendige Unterstützung für seine Völkermordpolitik gegenüber den Kurden zu erhalten. Zur gleichen Zeit öffnete Erdoğan Tür und Tür für alle islamistischen Gruppen in Syrien, zum Beispiel den IS und al-Nusra, und machte die Türkei zur Hauptbasis der Islamisten. Daraus gingen die zahlreichen islamistischen Gruppen hervor, die heute unter türkischer Kontrolle stehen. Erdoğan möchte nun gemeinsam mit diesem islamistischen Gruppen ganz Nordsyrien besetzen und Syrien entsprechend seiner Vorstellungen neu gestalten.

Das ist die Realität, die hinter den oben erwähnten Worten Erdoğans steckt. Er benutzt den IS ganz bewusst als Vorwand, um seine Besatzungspolitik zu rechtfertigen. Denn eigentlich hat Erdoğan keinerlei Probleme mit dem IS. All die islamistischen Gruppen, die mit der Türkei zusammenarbeiten, sind sowieso ähnlich wie der IS bzw. seine Reste. Erdoğan selbst hat die gleiche Mentalität und dasselbe Weltbild wie der IS. Mithilfe dieser arabischen, islamistischen Gruppen möchte Erdoğan Gebiete besetzen und auf Dauer zu seinem eigenen Einflussgebiet machen. Wenn Erdoğan wirklich am Kampf gegen den IS gelegen wäre, müsste er dann nicht zuallererst die Überbleibsel des IS zerschlagen, die er in den Jahren zuvor selbst organisiert hat? Warum stellt niemand Erdoğan diese Frage und verlangt von ihm, dass er die IS-Mitglieder, die unter dem Label der „Freien Syrischen Armee“ neu organisiert wurden, außer Gefecht gesetzt werden? Es gibt keine gemäßigte Opposition in Syrien, auch wenn das immer wieder behauptet wird. All die islamistischen Gruppen an der Seite Erdoğans sind Überbleibsel des IS. Wozu diese Gruppen in der Lage sind, hat die ganze Welt in Efrîn gesehen.

Und was meint er mit den Worten, er werde die Kurden nicht der PYD und PKK überlassen?

Hinter diesen Worten steckt die Absicht eines Völkermords an den Kurden. Unter dem Faschisten Erdoğan versucht die Türkei in Syrien einen Völkermord an der dortigen kurdischen Bevölkerung zu begehen. In Efrîn wird ein Kreis kollaborierender kurdischer Verräter dafür benutzt, um die Genozidpolitik der Türkei zu verschleiern, mit der die freien Kurdinnen und Kurden vernichtet werden sollen. Es ist allen bekannt, dass diese Verräter mit der Türkei zusammen arbeiten. Einige von ihnen versuchen im Rahmen der türkischen Besatzung Rache an den demokratischen Kräften zu nehmen. Die Türkei möchte diese Verräter benutzen und verspricht ihnen einige wenige Städte im Gegenzug dafür, dass gemeinsam Rojava besetzt wird und alle Erfolge der dortigen Völker zunichte gemacht werden. Genau das haben sie bereits in Efrîn gemacht. Die schreckliche Situation im heutigen Efrîn ist allen bekannt.

Erdoğan versucht seine Angriffspläne gegen Nordsyrien mit dem Kampf gegen den IS zu rechtfertigen. Wird ihm das gelingen?

Es wird ihm nicht gelingen den Eindruck zu erwecken, die türkische Besatzung in Nordsyrien richte sich gegen den IS. Denn der IS wurde von den YPG, YPJ und QSD besiegt. Der IS verfügt heute über keine ernstzunehmende Kraft mehr. In Syrien wurde er besiegt. Natürlich wäre es falsch zu sagen, dass er komplett zerschlagen ist. Er wird vorerst nicht ganz zu zerschlagen sein. Doch in Syrien stellt er keine große Bedrohung mehr dar. Die Aussagen Trumps und Erdoğans sind daher auch nicht mehr als plumpe Vorwände. Sie versuchen ihre eigentlichen Absichten in Nordsyrien und dem gesamten Land zu verschleiern. Doch niemand wird sich von ihnen täuschen lassen. Sie werden die Besatzung Nordsyriens damit nicht legitimieren können. Das Gewissen der Völker, der demokratischen Öffentlichkeit und der Menschheit wird das nicht zulassen.

Insbesondere die PDK, aber auch zahlreiche andere südkurdische Parteien bleiben angesichts der drohenden Besatzung Nordsyriens und der Angriffe auf die südkurdischen Regionen Şengal und Mexmûr auffällig still. Besteht da ein Zusammenhang mit den Entwicklungen, die sie zuvor erwähnten?

Von Anfang an hat die südkurdische Regierung, insbesondere die PDK, zur türkischen Besatzungspolitik in Nordsyrien und Südkurdistan (Nordirak) geschwiegen bzw. sie in gewisser Hinsicht unterstützt. Das ist wirklich beschämend. Dafür kann es keine berechtigten Gründe geben. Stellen Sie sich einmal vor: Die Türkei verfolgt eine feindliche Politik gegenüber den Kurden, verübt einen Genozid an ihnen und versucht all die Errungenschaften zu zerstören, die die Kurdinnen und Kurden unter dem Einsatz großer Opfer erkämpft haben. Doch die südkurdische Regierung und die PDK unterstützen diese Politik der Türkei. Bis heute haben sie die türkische Politik kein einziges Mal öffentlich verurteilt und keine klare Haltung dagegen eingenommen.