Der Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayık, hat sich in einem Jahresrückblick-Interview mit ANF über die Entwicklungen in der Nahostregion geäußert und dabei die Bedeutung des Modells einer demokratischen Nation und des demokratischen Konföderalismus für die Lösung bestehender Konflikte hervorgehoben. „Weder globale kapitalistische Kräfte noch das bestehende Nationalstaatensystem können die aktuellen Krisen lösen. Der Schlüssel liegt im freiheitlichen Kampf der Völker, Frauen und revolutionären demokratischen Kräfte“, sagte er.
Neue Machtverhältnisse im Nahen Osten
Cemil Bayık analysierte die tiefgreifenden Verschiebungen der Machtverhältnisse im Nahen Osten und die damit verbundene geopolitischen Neuordnung in der Region. Laut Bayık hat Israel in diesem Prozess eine zentrale Führungsrolle eingenommen, die durch gezielte Strategien globaler Akteure unterstützt wird. Diese Entwicklungen dienen nicht nur der Stärkung der israelischen Sicherheit, sondern auch der Sicherung der Interessen des internationalen Kapitals.
Bayık unterstrich, dass die Schwächung regionaler Akteure wie der Hamas, der Hisbollah und vor allem des Iran ein zentraler Bestandteil dieser Neuordnung sei. „Der Iran wird systematisch durch externe Eingriffe destabilisiert, um seine regionale Machtposition zu schwächen. Dies ist eine grundlegende Voraussetzung für die Umsetzung der neuen geopolitischen Ordnung“, erklärte er.
Israel, das seit langem als strategischer Verbündeter des Westens im Nahen Osten fungiert, hat in dieser neuen Ära der Umgestaltung seine Position als führender Akteur weiter gefestigt. Die Schwächung des Iran, so Bayık, sei nicht nur eine Frage der Sicherheit Israels, sondern auch ein Schritt zur Etablierung neuer Energie- und Handelsrouten, die den Interessen globaler Mächte entsprechen.
Energie als Haupttriebkraft der Konflikte
Cemil Bayık betonte, dass die Kontrolle über Energiequellen und -routen seit jeher eine zentrale Triebkraft für Konflikte im Nahen Osten darstellt. „In der Geschichte der kapitalistischen Moderne waren die größten Kriege immer eng mit der Sicherung von Ressourcen und Handelswegen verbunden“, erklärte Bayık. Der Nahen Osten mit seinen reichhaltigen Energiequellen und seiner strategischen Lage als Transitregion für globale Energienetze sei ein unverzichtbarer Bestandteil geopolitischer Machtkämpfe.
Laut Bayık ist der Zugang zu Energie nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Frage. „Die kapitalistische Moderne betrachtet die Energieversorgung als Kern ihrer globalen Dominanz. Deshalb zielen viele der Konflikte darauf ab, diese Ressourcen zu kontrollieren oder den Zugang für rivalisierende Mächte zu blockieren.“ Aktuelle Projekte wie die IMEC-Handelsroute, die Indien, den Golf und Europa verbindet, seien nicht nur wirtschaftliche Initiativen, sondern auch Teil einer größeren Strategie, um den Einfluss der aufstrebenden Mächte wie China und Russland einzuschränken.
Bayık hob hervor, dass diese geopolitischen Kämpfe oft zu großflächigen Zerstörungen und Instabilitäten in der Region führen. „Die Kriege und Interventionen, die wir heute im Nahen Osten sehen, sind direkte Folgen dieser energiebasierten Machtkämpfe.“ Dennoch, so Bayık, könnten diese Konflikte von den unterdrückten Völkern genutzt werden, um alternative, demokratische Strukturen zu schaffen, die nicht auf Ausbeutung und Ressourcenkontrolle basieren.
Die Position der Türkei und des Iran im neuen Nahen Osten
Cemil Bayık analysierte die aktuellen Herausforderungen, vor denen die Türkei und der Iran im Kontext der Neuordnung des Nahen Ostens stehen. Beide Länder, die historisch als dominante Kräfte in der Region galten, sehen sich zunehmendem Druck und sich verändernden geopolitischen Realitäten ausgesetzt. Laut Bayık sind die Positionen Ankaras und Teherans durch interne Widersprüche und externe Interventionen geschwächt, was beide zu Anpassungen und Kompromissen zwingt.
Die Türkei: Zwischen Widerstand und Anpassung
Die Türkei, so Bayık, sieht sich in einer äußerst prekären Lage. Einerseits versucht sie, ihre hegemonialen Ambitionen in der Region zu behaupten, insbesondere durch eine aggressive Politik gegenüber den Kurd:innen sowie militärischen Interventionen in Syrien und im Irak. Andererseits wird ihr traditionell dominanter Einfluss durch die verstärkte Rolle Israels und die Neupriorisierung anderer regionaler Akteure, wie Saudi-Arabien, erheblich eingeschränkt. „Die Türkei zeigt starken Widerstand gegen jede Veränderung, die den kurdischen Faktor in der Region stärken könnte. Gleichzeitig versucht sie, durch taktische Anpassungen ihre eigene Position zu sichern“, erläuterte Bayık.
Insbesondere die Abhängigkeit von den Interessen globaler Mächte mache die Türkei zu einem „nützlichen, aber austauschbaren Akteur“. Laut Bayık hat die Türkei eine Strategie entwickelt, die auf kurzfristige Gewinne abzielt, selbst wenn dies langfristig ihre Position in der Region schwächt. „Die türkische Außenpolitik basiert auf einem reaktiven Ansatz, der versucht, jede Entwicklung in der Region entweder zu blockieren oder zu ihren eigenen Gunsten umzugestalten“, so Bayık weiter.
Der Iran: Zwischen Isolation und Anpassung
Im Gegensatz zur Türkei steht der Iran vor einer massiven internationalen Isolation, die durch Sanktionen, regionale Konflikte und eine gezielte Destabilisierung durch westliche Mächte und Israel verstärkt wird. „Der Iran befindet sich in einer schwierigen Lage, da er sowohl interne Reformen vermeiden möchte als auch unter enormen externen Druck steht, seine Rolle in der Region zu reduzieren“, erklärte Bayık.
Der Iran hat sich laut Bayık strategische Verbündete geschaffen, darunter die Hisbollah, aber auch seine Position in Syrien und im Irak ausgebaut. Diese Einflusszonen seien jedoch zunehmend bedroht. Die Umgestaltung des Nahen Ostens, die auf die Schwächung solcher Akteure abzielt, zwingt den Iran zu schwierigen Entscheidungen: „Entweder wird der Iran erhebliche Zugeständnisse machen müssen, oder er wird weiterhin versuchen, seine regionale Rolle zu verteidigen, was ihn jedoch langfristig weiter isolieren könnte“, sagte Bayık.
Kurdistan als Katalysator für Wandel
Abschließend betonte Bayık, dass sowohl die Türkei als auch der Iran sich ihrer gemeinsamen Feindseligkeit gegenüber der kurdischen Bewegung verschrieben haben. Dies habe sie in der Vergangenheit geeint, aber die veränderten Machtverhältnisse im Nahen Osten könnten diese Dynamik aufbrechen. „Die kurdische Frage ist der Schlüssel zur Demokratisierung der gesamten Region. Solange die Türkei und der Iran ihre repressiven Strategien gegenüber den Kurden fortsetzen, werden sie keine nachhaltige Stabilität erreichen können“, schloss Bayık.
Demokratische Nation und Konföderalismus: Ein alternativer Lösungsansatz
Cemil Bayık benannte in seiner Analyse das Paradigma des demokratischen Konföderalismus – der eine neue Gesellschaftsordnung in der Region jenseits des kapitalistischen Nationalstaatensystems anstrebt; die demokratische Nation – als die einzige nachhaltige Lösung für die komplexen Probleme des Nahen Ostens. Er kritisierte sowohl die bestehenden Machtstrukturen der Nationalstaaten als auch die Modelle des globalen Kapitalismus, die seiner Meinung nach nicht in der Lage sind, die vielschichtigen Konflikte der Region zu lösen. „Die bestehenden Strukturen schaffen die Probleme, die sie zu lösen vorgeben“, betonte Bayık.
Die Krise des Nationalstaats
Der Nationalstaat, ein Überbleibsel kolonialer und imperialer Interessen, habe seine Legitimation und Funktionalität im Nahen Osten weitgehend verloren, so Bayık. „Der Nationalstaat basiert auf Exklusion, Monokultur und der Unterdrückung von Vielfalt“, erklärte er. Besonders im Nahen Osten, einer Region mit einer einzigartigen kulturellen, religiösen und ethnischen Vielfalt, sei der Nationalstaat ein Hindernis für Frieden und Stabilität. „Anstatt Einheit und Harmonie zu fördern, hat er Spaltungen, Konflikte und Diskriminierung vertieft“, fügte er hinzu.
Bayık argumentierte, dass der Nationalstaat nicht nur die Probleme der Region vertieft, sondern auch eine untrennbare Verbindung zum globalen Kapitalismus hat. „Der Nationalstaat ist nicht neutral. Er dient als Werkzeug, um die Interessen kapitalistischer Mächte zu schützen und durchzusetzen“, sagte Bayık. Daher sei es notwendig, den Nationalstaat als zentrales Konzept zu überwinden, um eine echte demokratische Ordnung zu schaffen.
Demokratische Nation: Ein integrativer Ansatz
Als Alternative schlug Bayık die demokratische Nation vor, ein Modell, das auf Inklusion, Vielfalt und Selbstverwaltung basiert. Dieses Konzept zielt darauf ab, die kulturelle und soziale Vielfalt des Nahen Ostens nicht nur zu akzeptieren, sondern als Stärke zu betrachten. „Die demokratische Nation erkennt die Identität und Rechte aller Gemeinschaften an und schafft einen Rahmen, in dem sie friedlich koexistieren können“, erklärte Bayık.
Die demokratische Nation basiert auf der Idee, dass Gesellschaften nicht durch zentrale Kontrolle, sondern durch lokale Selbstverwaltung organisiert werden sollten. In diesem Modell würden politische Entscheidungen auf der Grundlage der Bedürfnisse und Interessen der lokalen Gemeinschaften getroffen, anstatt von einem zentralen Nationalstaat diktiert zu werden. „Dies ist ein Modell, das Macht von unten nach oben verteilt und den Menschen ihre Stimme zurückgibt“, so Bayık.
Demokratischer Konföderalismus: Struktur für Frieden und Gerechtigkeit
Das Konzept des demokratischen Konföderalismus ergänzt die Idee der demokratischen Nation und bietet eine organisatorische Struktur, die auf Netzwerken von autonomen Gemeinschaften basiert. „Der demokratische Konföderalismus ist ein Modell, das auf Kooperation, gegenseitigem Respekt und Solidarität aufbaut. Es zielt darauf ab, Hierarchien und Dominanzstrukturen abzubauen“, erklärte Bayık.
Dieses Modell ist nicht nur eine Lösung für die politischen und sozialen Probleme des Nahen Ostens, sondern auch ein Gegenentwurf zum globalen Kapitalismus. „Der demokratische Konföderalismus bietet eine wirtschaftliche Alternative, die auf Kooperation und ökologischer Nachhaltigkeit basiert, anstatt auf Ausbeutung und Wettbewerb“, sagte Bayık.
Die Rolle der kurdischen Bewegung
Bayık hob hervor, dass die kurdische Freiheitsbewegung eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieser alternativen Vision spielt. Mit ihrem Fokus auf Frauenbefreiung, ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit sei die kurdische Bewegung ein lebendiges Beispiel für die Prinzipien der demokratischen Nation und des Konföderalismus. „Die kurdische Bewegung hat gezeigt, dass es möglich ist, ein alternatives Modell aufzubauen, selbst unter den schwierigsten Bedingungen“, erklärte er.
Fazit: Ein Weg zu Frieden und Stabilität
Abschließend betonte Bayık, dass die Idee einer demokratischen Nation und der demokratische Konföderalismus nicht nur für die Kurd:innen, sondern für die gesamte Region eine Chance darstellt. „Dies ist kein Modell für eine einzelne Ethnie oder Nation. Es ist ein universelles Modell, das allen Gemeinschaften Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit bringen kann“, schloss Bayık.
Die Rolle der kurdischen Bewegung in der Neuordnung des Nahen Ostens
Bayık hob die Errungenschaften des kurdischen Volkes hervor, das sich durch seinen Befreiungskampf grundlegende Rechte und eine demokratische Identität erarbeitet habe. „Die kurdische Freiheitsbewegung hat das Bewusstsein und die Fähigkeit, im Rahmen des demokratischen Konföderalismus eine zentrale Rolle in der Region zu spielen. Doch der Kampf ist noch nicht vorbei. Die Türkei bleibt eine Hauptbedrohung, und nur durch eine umfassende Widerstandsstrategie wird es möglich sein, die geplanten Angriffe zu vereiteln.“