Der Guerillakommandant und Arzt Dr. Bahoz Erdal aus dem zentralen Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel) hat sich in einer Sondersendung beim kurdischen Sender Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus seinen Bewertungen in mehreren Teilen. Im letzten Teil geht Bahoz Erdal auf die Angriffe des türkischen Staates auf die Kurden und ihre Errungenschaften in allen Teilen Kurdistans bedingt durch die ewig alte Kurdophobie und Nationalismus ein. Außerdem warnt er vor den Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT, der in Südkurdistan mit einem Informanten-Netzwerk versuche, sich innerhalb der Bevölkerung zu organisieren.
Rojava-Revolution brachte Kurden auf internationale Agenda
Wenn wir einen Blick auf die Geschehnisse der letzten zwei Monate werfen, können wir sehen, wie sich die Revolution von Rojava auf die anderen Teile Kurdistans ausgewirkt hat und welche Folgen dieser Zustand mit sich brachte. Noch nie hat sich die internationale Öffentlichkeit so sehr mit den Kurden beschäftigt, wie es im Moment der Fall ist. Diese Tatsache führt die Relevanz der Rojava-Revolution vor Augen. Die Solidarität mit der Revolution war nicht nur für alle Kurden nutzbringend, sondern auch für solche, die sich gegen sie aussprachen.
Der Einfluss der Rojava-Revolution hat sowohl in spiritueller als auch emotioneller und politischer Hinsicht die Grenzen Kurdistans überwunden. In den 1980er Jahren war die palästinensische Sache in aller Munde. Die Solidarität für den Kampf Palästinas war groß. Mit Rojava und seiner Revolution sind es heute die Kurden, die einen festen Platz auf der internationalen Tagesordnung eingenommen haben. Der Befreiungskampf des kurdischen Volkes gewinnt rund um den Globus an Legitimität.
Dass dieser Widerstand als legitim anerkannt wird, ist ein wesentlicher Faktor. Denn sobald ein Kampf auf der internationalen Bühne als berechtigt anerkannt wird, gilt er quasi als gewonnen. Natürlich ist dieser Kampf mit Schwierigkeiten, Schmerzen und Blutvergießen verbunden. Das Wichtigste und Schwierigste ist jedoch, die Legitimität des Kampfes zu beweisen.
PKK hat großen Einfluss auf Kurdistan und den Mittleren Osten
Wenn unser Volk heute in allen Teilen für Rojava eintritt, dann deshalb, weil es sich bewusst darüber ist, dass der Sieg in Rojava der Sieg von ganz Kurdistans ist. Demzufolge bedeutet eine Schwächung Rojavas die Schwächung aller Kurden. Das ist nicht nur unsere Meinung. Jeder Kurde sagt, fühlt und sieht das. Sonst würden sie nicht überall auf die Straße gehen, um dies zum Ausdruck zu bringen.
So wie die Besatzungsmächte Kurdistan aufteilten, Angriffe und Völkermorde verübten, sind wir überzeugt davon, dass dieser faschistische Angriff die Kurden zusammenbringen und schließlich zu ihrer nationalen Einheit führen wird. Die PKK ist zweifellos eine Bewegung für die kurdische Sache und findet großen Zuspruch. Sie hat einen philosophischen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Einfluss auf Kurdistan und sogar auf den Mittleren Osten. Das ist eine Tatsache. Aber der türkische Kolonialismus bedient sich dem als Ausrede, um seine völkermörderischen und invasiven Angriffe zu rechtfertigen. Das weiß mittlerweile jeder. Von Rojava aus hat es keinen einzigen Angriff gegen Territorium auf türkischem Staatsgebiet gegeben.
Erdoğan ist gegen Autonomie von Südkurdistan
„Wir haben im Norden Iraks einen Fehler gemacht, den wir in Nordsyrien nicht wiederholen werden.“ Das sind die Worte Erdoğans. Er hat sie in den vergangenen sechs Jahren mehr als einmal geäußert. Bringen wir uns in Erinnerung, was hinsichtlich Nordirak geschah? Die Türkei akzeptierte das dortige förderale System. Was hat es also mit Erdoğans Diskurs auf sich und was haben die Kurden damit zu tun? Rein gar nichts. Erdoğan sagt ganz offen, dass er den politischen Status der Kurden nicht akzeptiert. Diese Worte zeigen deutlich das Wesen Erdoğans und der Politik des türkischen Staates.
Der türkische Staat behauptet, kein Problem mit den Kurden zu haben. Lediglich die PKK sei das Problem. Wenn dem tatsächlich so ist, stünde der Anerkennung der Rechte der Kurden in Nordkurdistan und Rojava ja nichts im Weg. Die Wahrheit ist doch, dass es dem türkischen Staat nicht nur um die PKK geht. Er hat es auf alle Errungenschaften des kurdischen Volkes abgesehen. Die Ausreden dieses Besatzungsstaates werden doch nie enden. Heute ist es die PKK, morgen ein anderer Scheingrund. Sie bringen ihre Absichten in Bezug auf ihre Herangehensweise an die Kurden sehr deutlich zum Ausdruck.
Sätze wie „Für den Fortbestand des türkischen Staates dürfen die Kurden keinen Status erreichen, sondern müssen vernichtet werden“ fallen ganz offen und lautstark. Darum geht es doch im Grunde. Wieso greift der türkische Staat die PKK in solch einem Ausmaß an, wenn er doch keine Probleme mit den Kurden hat? Die Antwort ist einfach: die PKK ist die treibende Kraft im Kampf um die Existenz und Freiheit des kurdischen Volkes. Unser Volk ist sich dessen bewusst und weiß, wo Erdoğan steht. Den Lügen seines Spezialkriegs-Regime fehlt es an Glaubwürdigkeit.
Unsichtbare Guerilla erzürnt türkischen Staat
In Nordkurdistan findet ein totaler Krieg des türkischen Staates statt. Dieser richtet sich nicht lediglich gegen die Guerilla, sondern gegen das gesamte kurdische Volk. Die Guerilla aber hat sich verändert. Sie hat sich zu einer neuzeitlichen Guerilla formiert, ihre Taktiken verbessert und setzt diese in die Praxis um. Der türkische Staat steht in dieser Hinsicht im Abseits. Er ist wütend, sucht überall nach der Guerilla, kann sie aber nicht finden. Sie ist unsichtbar. Das versetzt den Feind in Panik. Er will, dass die Guerilla wie zuvor in den Jahren 2013 bis 2014 wieder sichtbar wird, sich in den Dörfern und auf den Straßen zeigt, um ihr mit den daraus gewonnen geheimdienstlichen Informationen einen Schlag zu versetzen. Aber die kurdische Freiheitsguerilla ist nicht mehr die alte. Der Feind hat Schwierigkeiten, sie zu lokalisieren.
Dieser neue Stil der Guerilla durchkreuzt die Pläne des Feindes. Das ist der Grund, warum er unter Zuhilfenahme der speziellen Kriegsmedien Tag für Tag propagiert, die Guerilla sei von der Bildfläche verschwunden. Sie sind vollkommen übergeschnappt. Im Grunde zeigt es ihre verzweifelte Lage. Die Guerilla kämpft mit neuen Methoden. Sie hat all ihre Spuren verwischt.
Erdoğans Ende wird schlimmer als das von Çiller
Der Feind greift unser Volk mit einer Politik des Völkermords an. Das, was unter Erdoğan und der AKP/MHP derzeit geschieht, hat die Zustände während der Ära Tansu Çiller [von 1993 bis 1996 türkische Ministerpräsidentin] schon längst übertroffen. Ko-Bürgermeister werden verhaftet, die Rathäuser okkupiert, etliche Menschen landen jeden Tag im Gefängnis. Wo soll das enden? Wie lange wollen sie sich mit unmenschlichen Angriffen wie diesen noch an der Macht halten? Was für einen Ausgang wird die Politik dieses Regimes haben?
Çiller hatte es Erdoğan vorgemacht und ganz nach der Devise „Nur durch Gewalt lassen sich die Kurden unterwerfen“ gehandelt. Das Resultat dieser Mentalität waren 4.000 niedergebrannte kurdische Dörfer und Tausende Verschwundene infolge von sogenannten Morden „unbekannter Täter“. Unser Volk musste Folter, Unterdrückung und Massaker erdulden. Çiller dachte, mit Methoden wie diesen die Kurden in die Knie zwingen zu können und sie ihres Willens zu berauben.
Zu was führte diese brutale und rassenfanatische Politik? Dazu, dass das kurdische Volk seinen Willen stärkte und aktiver für die Revolution der Freiheit eintrat. Wenn wir die gegenwärtige Situation im Lichte dieser historischen Ereignisse betrachten, wird klar, dass das Ende dieser faschistischen und genozidalen Politik des AKP/MHP-Regimes dem von Çiller ähneln wird. Das Schicksal wird es nicht gut mit ihnen meinen.
Kurden werden sich nicht ergeben
Die kolonialistische Leugnungspolitik, die gegenüber unserem Volk und unserer Bewegung verfolgt wird, hat uns noch nie geschwächt, vielmehr gestärkt. Immer, wenn der türkische Staat einen Kurden verhaftet und foltert, nimmt der Hass und die Wut unseres Volkes zu. Die Verbundenheit mit der Revolution und Guerilla wird stärker. Deshalb wird es dem türkischen Staat nicht gelingen, mit seiner Politik Ergebnisse zu erzielen.
Unser Volk hat sehr schwere Phasen durchlebt, die vorhin genannten Gräueltaten am eigenen Leib erfahren und das wahre Gesicht dieser Regierung erkannt. Die Machthabenden glauben, mit Verhaftungen und Folter das kurdische Volk seinem Willen berauben zu können. Sie irren sich. Es mag einige Verräter geben, aber ihren Willen können sie den Kurden nicht entreißen.
Niemand sollte Revolution verraten
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch auf etwas hinweisen: Möglicherweise gibt es einige Stammesführer, Dorfschützer und andere Kreise in Nordkurdistan, die sich aufgrund der Repression und Unterdrückung gezwungen fühlen, sich der AKP zu nähern. Unsere Botschaft an sie lautet aber: Seid nicht Verräter der Revolution, werdet nicht zu Agenten oder Kontras, liefert die Guerilla und das Volk nicht aus. Dieser Terrorstaat mit seiner Kriegsregierung hat keinen Funken Respekt für euch übrig. Er benutzt euch nur für seine eigenen Interessen. Sobald sie erreicht sind, wird er sich euch entledigen. Die vergangenen 36 Jahre des Krieges sind ein konkreter Beweis dafür.
Das Volk in Südkurdistan sollte wissen, dass es einer großen Gewahr ausgesetzt ist. Der türkische Geheimdienst ist bestrebt, sich innerhalb der Bevölkerung zu organisieren. Die Angriffe, die er bisher gegen die PKK unternommen hat, sind eigentlich eine Botschaft an die Kräfte in Südkurdistan.
Aus diesem Grund sollte das südkurdische Volk achtsam sein und nicht als Mittel für Spionageaktivitäten dienen. Denn dieser Staat betrachtet alle Kurden als seinen Feind. Wo auch immer ein Kurde ist, wird er vom türkischen Staat angegriffen. Deshalb sollte unser Volk sensibler und wachsamer als je zuvor sein, die Guerilla über die Aktivitäten des Informanten-Netzwerks beachrichtigen und ihr auf diese Weise behilflich sein.