Analyse: Die Türkei, al-Nusra, IS, FSA und die Muslimbruderschaft
Die Türkei setzt in Nord- und Ostsyrien ein weiteres Mal auf die Muslimbruderschaft.
Die Türkei setzt in Nord- und Ostsyrien ein weiteres Mal auf die Muslimbruderschaft.
Die Türkei hat während des gesamten Syrienkrieges ihr Territorium genutzt, um kontinuierlich salafistische Milizen in die Region einsickern zu lassen. Sie hatte von Anfang an auch auf die Muslimbruderschaft gebaut.
Der IS und Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die vom Al-Qaida-Ableger al-Nusra angeführte Dschihadistenkoalition, wurden vom türkischen Staat mit dem Ziel unterstützt, das syrische Regime zu zerschlagen. Die Türkei plante nach dem Zusammenbruch des Regimes durch diese Kräfte, die „moderaten Islamisten“ der Muslimbruderschaft an die Macht zu bringen und so Syrien an sich zu binden.
Erdoğan band Muslimbruderschaft an die Türkei
Wie bekannt ist, näherte Erdoğan seine Linie mit dem sogenannten arabischen Frühling stark an die Muslimbruderschaft an. Als in Ägypten der Vertreter der Muslimbruderschaft Mohammed Mursi an die Macht kam und er mit ihm eine wichtige Allianz aufbaute, fühlte er sich in seinen Zielen ziemlich sicher. Wenn wir uns erinnern, hatte sich Erdoğan wenige Tage nach dem Beginn des Syrienkriegs zu der Aussage hinreißen lassen „Wir werden in der Umayyaden-Moschee von Damaskus beten“. Als Mursi im Juli 2013 stürzte merkte Erdoğan, dass er in Schwierigkeiten geriet und band die Muslimbruderschaft noch stärker an die Türkei. Er übernahm auch ihre Aufgaben in Ägypten. Er begann ebenfalls bewaffnete Gruppen, in denen sich Mitglieder der Muslimbruderschaft befanden, massiv zu unterstützen. Die Hauptbedingung für diese direkte Unterstützung war ein Angriff der Dschihadisten und „moderaten Islamisten“ auf die kurdischen Regionen. Diese Islamisten waren in die Türkei migriert und erhielten dort in den Flüchtlingslagern alle Möglichkeiten zur Ausbildung und Organisierung. Diese Tatsache ist immer wieder durch investigative Recherchen bekannt geworden. Der Besuch dieser Lager durch Abgeordnete der CHP wurde verhindert, damit die Islamisten nicht aufflogen. Die Generalsekretärin der oppositionellen Abspaltung der faschistischen MHP, der Iyi Partisi Meral Akşener hatte immer wieder gefragt, „was passiert in diesen Lagern?“ und auf die geheimen Strukturen dort hingewiesen. Die Lastwagen des türkischen Geheimdiensts MIT brachten diesen Organisationen Waffen. Als dies aufflog, war dies bereits eine allgemein bekannte Tatsache. Die Dschihadisten wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt, konnten sich dort erholen und dann wieder in den Krieg zurückkehren. Das war genauso wie die Lastwagen des MIT eine allgemein bekannte Tatsache.
Als die Muslimbruderschaft zusammenbrach, vereinte sie sich mit der AKP
Bei den Gruppen, die von Erdoğan unterstützt und organisiert wurden, handelte es sich um ebenso dschihadistische wie nationalistische Gruppen wie Harakat Nour al-Din al-Zenki oder Sultan Murad, die Erdoğan als den neuen Kalifen anerkannten. Diese Milizen verloren aber den Kampf gegen die Selbstverteidigung von Rojava. Als die fundamentalistischen und nationalistischen Gruppen zurückgedrängt wurden, begannen die Kämpfe unter ihnen. Bei diesen Kämpfen wurde ein großer Teil der sogenannten „moderaten Islamisten“ der Muslimbruderschaft zunächst vom IS und dann, so wie es in Idlib gerade geschehen ist, von der Nusra-Front bzw. HTS vernichtet. Als diese Organisationen Stück für Stück vernichtet wurden und die Selbstverteidigungskräfte von Rojava immer stärker wurden, griff die Türkei direkt in den Krieg ein, um das zu schaffen, was diesen Gruppen nicht gelungen war. Da die Operationen nicht so wie geplant abliefen, waren die beiden verschiedenen Flügel des Staates, AKP und MHP, gezwungen, sich zusammenzuschließen. Gegen große Zugeständnisse dem Iran und Russland gegenüber wurde die Türkei in den Astana-Prozess inkludiert. Sie war gezwungen, sich offen zu den Milizen in Idlib zu bekennen und sie zu schützen. Erdoğan griff zu einer immer wieder von den Herrschenden in der Türkei benutzten Methode, seine Erfolglosigkeit, seine politischen und ökonomischen Zugeständnisse, der türkischen Bevölkerung als einen Erfolg zu verkaufen und es ihnen Glauben zu machen. Als diese Methode nicht funktionierte, traten insbesondere die unter der türkischen Bevölkerung verbreiteten antikurdischen Ressentiments in den Vordergrund.
Das was Erdoğan im Syrienkrieg militärisch nicht hatte erreichen können – die Errungenschaften der Kurd*innen zu vernichten und die arabische Bevölkerung an sich zu binden – versuchte er nun am Verhandlungstisch zu erreichen. Er meinte durch Schaffung und Zuspitzung der Widersprüche zwischen kurdischer und arabischer Bevölkerung einen Bürgerkrieg herbeizuführen und so seine Ziele leichter erreichen zu können. Dabei weiß er sehr genau, dass um das zu erreichen, eine neue soziale Basis und eine entsprechende Organisierung dieser Basis notwendig ist. Während sich die politische Lösung und der Entwurf einer Verfassung für Syrien auf der Tagesordnung befinden, setzt die Türkei ihren Schwerpunkt auf der Reorganisierung und Stärkung der Muslimbruderschaft. Auch unter den Kurd*innen finden diese Arbeiten parallel mit hoher Intensität statt.
Die Türkei verleugnet den Einfluss des Salafismus und der Muslimbruderschaft im Konflikt mit den arabischen Golfstaaten in keiner Weise. Trotz allem was geschehen ist, gibt es im heutigen politischen Islam immer noch zwei starke Strömungen; die Salafisten und die Muslimbrüder. Die von Saudi-Arabien angeführten Golf-Staaten stellen sich in ihren Ländern gegen den Salafismus, unterstützen ihn aber andererseits im Ausland. Die in Ägypten zentrierte Muslimbruderschaft ist eine weitere Kraft. Sie hat Mohammed Mursi an die Macht gebracht, wurde dann wieder als terroristisch definiert und verlor ihre Macht weitgehend und ging in den Untergrund. Organisationen wie die Hamas in Palästina orientieren sich an der Linie der Muslimbruderschaft. Die AKP steht der Linie der Muslimbruderschaft sehr nahe.
Sie versammeln sich in Istanbul
Um ihre Position in Syrien zu stärken, fanden immer wieder von Erdoğan geleitete Treffen, Konferenzen und Seminare mit einem starken Bezug zur Muslimbruderschaft statt. Die aktuell in Ägypten verfolgten Muslimbrüder können in Istanbul ganz offen arbeiten. Sie haben ihre Fernsehkanäle, die von Istanbul aus senden. Diese Politik Erdoğans beunruhigt vor allem Ägypten aber auch Saudi Arabien. Die arabischen Staaten sehen dies zu Recht als eine Intervention der Türkei in ihre inneren Angelegenheiten an. In dem Islamverständnis des türkischen Staates sind die Araber „zurückgeblieben, ursprünglich und in Stämmen organisiert“ die arabischen Regierungen sind „primitiv und barbarisch“. Da Erdoğan sich selbst fortschrittlicher als die Kemalisten betrachtet, sieht er sich selbst berechtigt, in die arabischen Staaten hinein zu intervenieren. Aus diesem Grund versammeln sich der IS, al-Nusra, Harakat Nour al-Din al-Zenki und die FSA im Namen der Muslimbruderschaft in Istanbul und vielen anderen Städten in der Türkei.
Die Annäherung zwischen Ägypten und Saudi Arabien und die Definition der Muslimbruderschaft als „terroristisch“ in Ägypten haben Erdoğan ziemlich beunruhigt und er hat seine Verärgerung darüber mehrfach offen zum Ausdruck gebracht. Bei dem Konflikt zwischen der Türkei und Saudi Arabien geht es im Grunde vor allem auch um die Frage, wer in Syrien größeren Einfluss gewinnen kann. Die Ermordung des Muslimbruders Kashoggi in Istanbul führte zu einer verbalen Kriegserklärung Erdoğans gegenüber Saudi Arabien. Auch dabei ging es unter anderem darum, in der Syrienfrage den Salafismus zurückzudrängen und die Linie der Muslimbruderschaft durchzusetzen. Der saudische Prinz bin Salman, der damit direkt ins Visier geriet, habe zuvor seinen Wahabismus gewissen Modifikationen unterzogen und damit neues Ansehen gewonnen, schrieb die westliche Presse. Diejenigen die sehen wollen, dass die Saudis Erdoğan ebenso begreifen, sollten in dieser bewegten Zeit in die saudischen Medien schauen.
Der Kampf zwischen den Saudis und der AKP
Wenn Erdoğan in der letzten Zeit verkündet, „wir werden gegen den IS kämpfen“, dann drückt das den Konflikt zwischen seiner Linie und der Linie des Islam, hinter der Saudi Arabien steht, aus. Denn der IS hat seine Kraft durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) eingebüßt. Immer wieder tauchen in den westlichen Medien Analysen auf, in denen es heißt, „der IS ist nicht am Ende, er kann von neuem auftauchen“. Eine solche Analyse erschien vor wenigen Wochen bei CNN international. Solche Analysen und Nachrichten erschienen vor allem nach der Entscheidung Trumps sich aus Syrien zurückzuziehen in den US-Medien und sie zeigen, dass das Ende oder Weiterbestehen des IS und die damit verbundenen militärischen und sicherheitsbezogenen Bedenken im Rahmen von politischen Interessen vorgebracht werden. Die Türkei führt den Salafismus immer wieder ins Feld, da sie ihn als Bedrohung für ihre Linie des Islam sieht. Dies wird vor allem auch im sich am meisten vor den Flüchtlingen „fürchtenden“ Deutschland über DITIB auf die Tagesordnung gesetzt. So wird dies dem Westen verkauft, um Unterstützung für die eigenen Interessen in Syrien zu gewinnen.
Ändert sich DITIB?
Es heißt, in Deutschland gibt es 900 Moscheen, die vom Ableger der türkischen Religionsministeriums DITIB betrieben werden. Vor kurzem hat der DITIB-Verband Hessen seine Satzung geändert und in eine allgemein akzeptablere Form gebracht. Das kann ein Versuch sein, das Image als angebunden an den türkischen Geheimdienst MIT und als Rekrutierungsstelle von IS-Dschihadisten zu ändern. Es wird erwartet, dass auch die anderen Moscheen ähnlich vorgehen werden. Es ist bekannt, dass der Verfassungsschutz Ermittlungen eingeleitet hat, weil DITIB mit dem MIT zusammenarbeitet und manche Moscheen praktisch Büros des MIT darstellen. Außerdem wurden einige Imame ausgewiesen. Dies alles kann als Manöver betrachtet werden, damit Deutschland eine gemeinsame Arbeit mit Erdoğan führen kann und gleichzeitig Aktivität vortäuscht. Denn die Bundesbehörden, die vor kurzem noch über die Verbindungen zwischen DITIB und dem MIT beunruhigt waren haben geschwiegen, als der Chef der dechiffrierten MIT-Agenten und Attaché für religiöse Angelegenheiten Ahmet Dilek zum stellvertretenden Generalvorsitzenden von DITIB ernannt wurde. Ein ähnlich interessantes Ereignis war eine DITIB-Konferenz in den ersten Tagen des Jahres in Köln. An der Konferenz nahmen etwa einhundert Teilnehmer aus siebzehn Ländern teil. In der deutschen Presse war die Rede davon, dass mindestens zwei Vertreter der Muslimbruderschaft ebenfalls an der Konferenz teilnahmen. Diese Erklärungen griff der ehemalige Ko-Vorsitzende der Grünen Partei und Abgeordnete Cem Özdemir auf, doch von den öffentlichen Stellen erfolgte keinerlei Stellungnahme.
Erdoğan möchte die Muslimbrüder in Europa reinwaschen
Erdoğan möchte so die Muslimbrüder in Europa reinwaschen. Er hofft, auf diese Weise für seine Linie des Islam Unterstützung erhalten zu können. In einer solchen Zeit fällt es auf, dass in europäischen Medien Berichte erscheinen, das sich die Gesellschaft unter der AKP-Regierung in der Türkei sich vom Islam entfernt und viele Menschen, insbesondere Jugendliche, sich als Atheist*innen definieren. Auch wenn solche Nachrichten der Realität entsprechen mögen, kann ihr eigentliches Ziel sein, die AKP als religiös-liberal darzustellen.
Die gefährliche türkisch-deutsche Allianz
Deutschland führte seit dem frühen 20. Jahrhundert eine gefährliche Interessenpolitik im Mittleren Osten durch und war bereit, sich an jedem Verbrechen zu beteiligen oder es durch sein Schweigen zu unterstützen. Deutschland ist der entscheidende Staat, der das Erdoğan-Regime, seit den Wahlen am 1. November 2015 auf den Beinen hält. Erdoğan möchte mit seiner Politik die Islamisten, die er für Syrien vorbereitet hat, in Europa beliebt machen und Unterstützung für diese aufbauen. Es ist bekannt, dass Erdoğan die Organisierung von „religiösen Dienstleistungen und Bildung“ in allen islamischen Ländern der Welt von der Gülen-Stiftung übernommen oder besser gesagt, er auf dem von Gülen geöffneten Weg weitergeht. In diesem Sinne wird auch versucht, die Beziehung zu Muslimen in Indien immer weiter auszubauen. So hat die türkische Zeitung Yeni Şafak, die als Sprachrohr der AKP bekannt ist, den indischen Scheich en-Nedvi folgende Botschaft an die Türkei richten lassen: „Wir vertreten die muslimischen Völker und 300 Millionen indische Muslime. Wir wollen, dass das türkische Volk an der Seite von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei steht.“
Es reicht Erdoğan, der durch den Missbrauch des Islam an die Macht kam, für seine imperialen Ambitionen nicht aus, nur die Türkei zu islamisieren und den Nationalismus anzufachen. Er versucht seine Macht über die ganze islamische Welt auszudehnen. Am dringendsten und sichtbarsten will er Nord- und Ostsyrien mit Hilfe der Muslimbruderschaft seiner Herrschaft einverleiben, und Deutschland unterstützt ihn dabei.
Den Arabern die Muslimbruderschaft, den Kurden der kollaborierende Islam
Am 15. Januar 2019 erklärte der Mitarbeiter und Sprecher Erdoğans Ibrahim Kalın, dass die Türkei auch mit „sanften Kräften“ in Syrien präsent sein werde. Die Fernsehserien sind vielleicht die „sanfteste“ Kraft des türkischen Staates. Aber es ist ihm vollkommen klar, dass es in Syrien, einem Land, das eine einzige Ruine darstellt, auf dessen Boden der Dritte Weltkrieg ausgetragen wird, es nicht möglich ist, etwas mit visuellen Phantasien zu erreichen. Das wirksamste „weiche“ Mittel, das man unter den Kurden und Arabern in Syrien benutzen könne ist der Herrschaftsislam. Unter den Arabern werden sehr harte antiamerikanische Diskurse vorangetrieben. Erdoğan stellt es bei seinen arabischen Anhängern so dar, als hätte der die Entscheidung getroffen, dass die USA sich zurückzögen. Erdoğan nahestehende Stiftungen treffen sich immer wieder mit Arabern in Syrien. Fast in jedem Lager finden Versammlungen statt, in denen der Glaube bestärkt wird, „der islamische Führer Erdoğan hat die christlichen Ungläubigen aus unserem Land vertrieben“. Unter den Kurden klagt er die PKK und PYD-YPG an und behauptet, die PKK sei gegen den Islam und würde mit den USA kollaborieren. Den kurdisch-nationalistischen Kreisen wird erklärt, dass die PKK und die angeblich von ihr abhängigen Organisationen den Kurden schadeten und dass die eigentlichen Beschützer der Kurden Erdoğan und die Türkei seien. Unter den Kurden aus Rojava macht seit einiger Zeit vor allem ein Arm des Haznevi-Ordens um den in Adana lebenden Mehmet Muta und seine Schüler Propaganda für Erdoğan und die Türkei. Unter den Anhängern dieses Ordens gibt es auch Araber. Diese Personen arbeiten unter den Kurd*innen aus Rojava eng mit dem MIT zusammen. Seit einiger Zeit schickt die Türkei Hunderte solcher ausgebildeter Imame nach Nord- und Ostsyrien.
All diese Aktivitäten sind Folge aus der Sorge der Türkei, dass sie und ihre Milizen in der Region über keine eigene Basis verfügen. Bei einer möglichen Besetzungsoperation soll so die Gesellschaft an die Besatzungsmacht gebunden und Protest und Widerstand verringert werden. Außerdem führen solche Personen provokative Demonstrationen durch, diese werden dann von ihren eigenen Agenten mit Bomben angegriffen und dann heißt es, „die PYD und YPG töten Kurden und alle anderen, die nicht so denken wie sie selbst“. Diese intensiven Bemühungen über die Religion etwas zu erreichen sind Konsequenz aus dem Scheitern des kollaborierenden sogenannten Kurdischen Nationalrat (ENKS). An die Stelle des ENKS sollen jetzt „islamische Kurden“ treten – diese stammen vor allem aus dem Nakşibendi-Orden. Die PDK Barzanîs ist ebenfalls vom Nakşibendi-Orden durchdrungen. Die Linie Erdoğans und der AKP soll umgesetzt werden, indem man nationalistische und religiöse Gefühle unter den Kurd*innen missbraucht. Eine Praxis, die den Kurdinnen und Kurden schon seit Jahrhunderten nur allzu gut bekannt ist.
So soll mit Hilfe der Muslimbruder unter der arabischen Bevölkerung und mit Hilfe des kurdischen Islamismus unter den Kurd*innen die Basis für eine Invasion und Besetzung geschaffen werden.