Schon 1997 wurde eine von Medico International organisierte europaweite Menschenrechtsdelegation (350 Personen) mit Parlamentarier:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen der Kurdistan-Solidarität und weiteren Interessierten kriminalisiert und die Durchreise des nach dem kurdischen Schriftsteller Musa Anter benannten „Barış Treni” (Friedenszugs) vom damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther wenige Tage vor der Abfahrt verboten. Der lange Arm Ankaras, federführend der damalige Ministerpräsident Mesut Yilmaz, sollte einschüchtern und europäische Kritiker:innen aus dem Land halten.
Dieser ungeheuerliche Umgang mit den Delegierten gipfelte in der Kanther'schen Begründung, getroffen in Absprache mit Yilmaz, es seien „Friedensterrorist:innen” an Bord. Ziel der Zugreise sollte Amed (tr. Diyarbakir) am 1. September, dem Internationalen Antikriegstag, sein.
Angesichts des Verbots und der Kürze der Zeit hat es Medico International auf fast unglaubliche Weise und organisatorischer Intensität geschafft, alle Delegierten auf Flüge umzubuchen. Noch heute sei ihnen für diese inhaltliche und logistische Leistung ausdrücklich gedankt. Von Brüssel und aus anderen europäischen Städten abfliegend landeten die Maschinen auf dem Flughafen Atatürk in Istanbul.
Nach Passkontrollen mit Fragen nach dem Verbleib und den Hintergründen der Einreise wurde deutlich, dass der gesamte Ankunftsbereich durch „Herren des Morgengrauens” (politische Polizei, Geheimdienste) mit schwarzen Sonnenbrillen und Zeitungen unter dem Arm, aus denen die Antennen ihrer Walkie-Talkies hervorschauten, besetzt war. Die Fahrt zu den Hotels wurde ebenso von ihnen begleitet.
Während der zwei Tage Aufenthalt in Istanbul lungerten selbige Figuren vor den Hotels herum und stellten Fragen („Was macht ihr hier?”). Ein zwanghaftes Überwachungsszenario nahm seinen Lauf. Als die Reisebusse von vielen tausend Menschen von einem zentralen Platz in Istanbul verabschiedet wurden, begann eine Reise, die die Teilnehmenden nicht vergessen werden. Vorweg: am Ankunftsort Amed sind die Delegationsreisenden am besagten 1. September 1997 nie angekommen.
In der kurdischen Kleinstadt Sêwreg (Siverek) wurde unter massiver Bedrohung eine Panzerblockade auf der Straße initiiert, bewaffnete Soldaten umzingelten die Busse. Angesichts dieser militärischen Demonstration der Stärke konnten Einblicke auf Rüstungslieferungen der damaligen Bundesregierung (CDU) aus Beständen der „abgewirtschaften” DDR nun für den Nato-Partner Türkei gewonnen werden. NVA-Helme für die türkischen Mehmetçiks (Soldaten), Schusswaffen und Panzer, Hubschrauber zur Luftüberwachung.
Im Anschluss an die Blockade wurden alle Busse in eine nahe gelegene Kaserne umgeleitet und die Verhandlungen und Befragungen begannen. Mit dem Ergebnis, dass das ca. 120 Kilometer entfernte Amed unerreichbar blieb und sich die Delegation unter verschärften Bedingungen auf die Rückreise nach Istanbul machte. Vor, am Ende und zwischen zwei Bussen jeweils ein Militärjeep, der maximal 40 Stundenkilometer schnell fuhr. Temperatur in den Bussen an die 45 Grad. Abfahrten auf Raststätten zum Wasserkauf und Toilettennutzung oder andere Orte im Routenverlauf wurden durch massive Militärpräsenz mittels Sperrung verhindert. Nach endlos langer Zeit konnte eine Raststätte angefahren werden. Schnell wurde jedoch bekannt, dass sie einem Dorfschützerchef gehörte, der an uns verdienen wollte.
Nach zweitägiger Fahrt und Eintreffen in Istanbul zur Nachtzeit wurde deutlich, dass alle Hotelzimmer trotz Buchung belegt seien, so die Argumentation. Besser gesagt: es ist dem Hotelpersonal verboten worden, Zimmer an „Friedensterrorist*innen” zu vermieten. 600 Delegierte mussten selbst für eine Unterkunft sorgen.
Nicht erst seit gestern ist die BRD Kriegspartei in dem mörderischen Konflikt in Kurdistan. Nicht erst seit gestern gibt es weltweit Menschen, die sich gegen eine Diktatur in der Türkei stellen. Nicht das diffamierende Wort „Friedensterrorismus” ist primär wichtig und gleichsam absurd, sondern die Realität des türkischen Staatsterrors in Kurdistan. Für eine politische Lösung und das Selbstbestimmungsrecht aller Kurd*innen. In Freiheit und Würde.
*Um den Autor vor Kriminalisierung und juristischer Schikane zu schützen, haben wir seinen Namen geändert.