Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Als Thoreau 1846 eine Nacht im Gefängnis verbrachte, weil er den Krieg gegen Mexiko nicht mit seinen Steuern ermöglichen wollte, wurde er von einem Freund besucht. Dieser fragte ‚Was machst du hier drin?’ Thoreau antwortete: ‚Was machst du da draußen?’

Als im Sommer 1846 die amerikanische Regierung Mexiko den Krieg erklärte, fasste Henry David Thoreau eine konsequente Entscheidung: er würde keine Steuern mehr zahlen, da diese zur Finanzierung eines Angriffskrieges dienten. Thoreau wurde daraufhin festgenommen und kam ins Gefängnis. Bereits nach einer Nacht wurde er aus der Haft entlassen. Freunde hatten Thoreaus Steuerschuld beglichen – gegen seinen Willen. Nur wenige Jahre später verfasste er sein Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, das noch heute überall auf der Welt gelesen wird.

Am Freitag hat die NATO einen neuen Angriffskrieg begonnen. Türkische Flugzeuge bombardieren die südkurdischen Regionen Metîna, Avaşîn und Zap. Hubschrauber setzen Soldaten ab, die sich schwere Gefechte mit der Guerilla vor Ort liefern. Bisher wird von schweren Verlusten der türkischen Armee berichtet. So schwer, dass die türkischen Generäle und politischen Verantwortungsträger sich offensichtlich dazu bewogen sehen, Giftgas gegen die Guerilla einzusetzen.[1]

Es geht nicht um einen ‚gewöhnlichen’ Krieg. Das zeigt seine umfassende Vorbereitung: Nach der schweren Niederlage der türkischen Armee in Gare im Februar diesen Jahres reiste der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar nach London, wo er über zwei Tage lang Gespräche führte.[2] Wenig später reisten mit Ursula von der Leyen und Charles Michel die höchsten politischen Vertreter*innen der EU nach Ankara. Zuletzt telefonierte der US-Präsident mit Erdogan.[3] Nur wenige Stunden nach deren Telefonat begannen die Luft- und Bodenangriffe auf Südkurdistan. Gelingt es der türkischen Armee, die Regionen Zap, Avaşîn und Metîna unter Kontrolle zu bringen, wird sie ihre nächsten Angriffe gegen Qendîl und Şengal richten. Sie wird Südkurdistan besetzen und die kurdische Bevölkerung vertreiben wollen. Was heute in Efrîn passiert, wäre somit morgen Realität in ganz Südkurdistan. Systematische Vertreibung, Mord, Vergewaltigung und Ansiedlung von Islamisten samt ihrer Familien – mit anderen Worten: ein Völkermord an den Kurdinnen und Kurden.

London, Brüssel, Berlin und Washington haben der Erdogan-Bahceli-Regierung in den letzten Wochen nacheinander grünes Licht für den jetzt erfolgten Angriffskrieg gegeben. Sie haben Erdogan versprochen, keinen wirkungsvollen politischen Druck aufzubauen, weiter Waffen und Geld bereitzustellen und auch den Einsatz chemischer Waffen gut zu heißen. Das beweisen schon die ersten Stunden der Angriffe auf Zap, Avaşîn und Metîna. In London, Brüssel, Berlin und Washington sitzen die Planer und Anstifter dieses erneuten Krieges. Genauso legitim wie der Widerstand der Guerilla gegen die unmittelbaren Angriffe vor Ort ist es daher auch, gegen das politische System und die einzelnen Verantwortungsträger in den erwähnten westlichen Metropolen Widerstand zu leisten.

Nur wie? Demonstrationen sind gut und wichtig. Vor allem, wenn sie konkrete, lokale Ziele ins Auge fassen und sich nicht darauf beschränken, in der Innenstadt entlang gewohnter Routen die Aufmerksamkeit der lokalen Bevölkerung zu gewinnen. Demonstrationen können Institutionen blockieren, Arbeits- und Wohnorte von verantwortlichen Bürokraten, Managern und Militärs aufsuchen oder Häfen, Straßen und Flughäfen stilllegen, über die Waffen in die Türkei geliefert werden.

Aber gegen einen Krieg wie diesen, der auf einen Völkermord abzielt, bedarf es noch mehr. Es bedarf Schritte, wie sie vor über 150 Jahren bereits Thoreau gegangen ist. Wenn Kriege mit den Steuergeldern der britischen, belgischen, deutschen oder US-amerikanischen Gesellschaft bezahlt werden, dann bedarf es Menschen, die sich weigern, weiterhin ihre Steuern zu bezahlen. Wenn Kriege durch das Schweigen und ‚Einfach so Weitermachen’ der Bevölkerung ermöglicht werden, dann bedarf es Menschen, die ihr gewohntes Leben beenden und sich 24 Stunden am Tag als lebendige Mauern vor die Waffenfabriken, Ministerien oder Wohnhäuser der Kriegstreiber stellen. Die auf Schlaf, Essen oder Bequemlichkeit verzichten, wenn nötig. Und wenn ein Krieg wie der gegen die Kurdinnen und Kurden dadurch ermöglicht wird, dass türkische Faschisten sich unbehelligt in den Hauptstädten Englands, Belgiens, Deutschlands und der USA bewegen können, dann bedarf es Menschen, die die Arbeits- und Vergnügungsorte eben dieser türkischen Faschisten schließen.

Als Thoreau im Sommer 1846 eine Nacht im Gefängnis verbrachte, weil er den Krieg gegen Mexiko nicht mit seinem Steuergeld ermöglichen wollte, wurde er von einem Freund besucht. Dieser fragte Thoreau ‚Was machst du hier drin?’, woraufhin Thoreau ihm mit einer Gegenfrage antwortete: ‚Was machst du da draußen?’


[1] https://anfdeutsch.com/kurdistan/guerilla-startet-gegenoffensive-gegen-turkische-armee-25852

[2] https://www.aa.com.tr/en/politics/turkish-british-defense-chiefs-meet-in-london/2202606

[3] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2021/04/23/readout-of-president-joseph-r-biden-jr-call-with-president-recep-tayyip-erdogan-of-turkey/