Walpurgis - Gedenken heißt erinnern

„Wenn wir nachvollziehen, wogegen und wie Frauen und andere Geschlechter vor der Hexenverfolgung Widerstand leisteten, erkennen wir, wie unsere gesellschaftliche Ordnung noch heute von diesen mörderischen Angriffen geprägt ist.“

„Es war einmal vor uralten Zeiten, und es waren gute Zeiten, obwohl es nicht deine Zeit war oder meine, vor langer Zeit also.“ 

Erinnern. Was heißt das? Es bedeutet nach innen schauen, und auch: aus dem Inneren hervorholen. Es mag lange her erscheinen, dass in Europa Frauen[1] systematisch als Hexen verfolgt, kontrolliert und zum Schweigen gebracht wurden. Doch wenn wir genauer hinschauen, sind es einige wenige Generationen. Es sind unsere Vorfahren; die vor-uns-Erfahrungen. Wenn wir ihrer gedenken wollen, dann heißt das also auch nach innen schauen, auf das, was uns geblieben ist. Das Schmerzhafte, das was uns voneinander trennt, aber auch das Widerständige, Unzähmbare in uns zu erinnern. Denn eins sollten wir nicht vergessen: es dauerte viele Jahrhunderte lang, die kapitalistische, patriarchale Ordnung durchzusetzen!

In der Geschichte Mitteleuropas, und vor allem im deutschsprachigen Raum, wo die Verfolgung die größten Ausmaße annahm, spielte die Hexenverfolgung eine derart wichtige Rolle zur Durchsetzung der kapitalistischen Moderne, dass es einer tiefreichenden Analyse bedarf, die uns begreifen lässt, wie die demokratischen Kräfte und die Überreste natürlicher Gesellschaften durch die Vernichtung der Frau zurückgedrängt und zerstört wurden. Wir müssen erforschen, wie das Leben der Frauen und anderer Geschlechter vor der Hexenverfolgung gestaltet war. Wir müssen nachvollziehen, wogegen und wie sie Widerstand geleistet haben. Dann werden wir erkennen, wie unsere Leben und die gesellschaftliche Ordnung noch heute von diesen mörderischen Angriffen während der Hexenverfolgung geprägt sind. Wir können Zusammenhänge herstellen, wo wir bisher keine gesehen haben. Eine tiefe Analyse kann uns helfen zu verstehen, wie die Prinzipien der kapitalistischen Moderne in uns wirken.

Neben der Analyse ist uns ebenso wichtig, die Lebensgeschichten der Toten wiederzubeleben und uns mit ihnen zu verbinden. Wir können einen Blick (einen tiefen und langen Blick) in unsere eigenen Familiengeschichten werfen und wir können Einblick nehmen in die Stadtarchive und Kirchenverzeichnisse. Wir können alten Kinderliedern mit neuer Aufmerksamkeit lauschen und uns alte Sagen und Geschichten erzählen lassen. Überall werden wir Spuren finden können. Und für ein Verständnis der Geschichte brauchen wir all das: ein Verstehen im Geiste wie im Körper, ein Erleben und Erinnern mit allen Sinnen.

Wir wollen euch also einladen in der Walpurgisnacht am 30. April den unzähligen ermordeten Frauen, Kindern und nicht-binären Personen, die als Hexen ermordet wurden, ihre Namen und Geschichten zurückzugeben. Wir wollen die Fäden, die sie uns hinterlassen haben, aufnehmen und weiterspinnen. Wie waren ihre Namen? Wie lebten, arbeiteten und starben sie? Hatten sie Kinder? Gibt es Orte, an denen ihrer erinnert wird? Welche Lieder haben sie gesungen? Welche Geschichten erzählt?

„Den Wunsch nach and'rem Leben träumt sie schon lange Zeit.

Doch Gottes Werk zu ändern ist keine Kleinigkeit.

Oh Hex besinn dich deiner Macht.

Schönheit ist die Kraft des Tages, deine ist die Nacht:

Ein Raunen in den Gassen, die Angst im Volk geht um.

Die Kirche fordert Opfer, kein Mensch fragt sich, warum.

Dem Land droht eine Hungersnot.

Die Bauern sammeln Reiser für ihren Feuertod.

Nach vielen Zaubernächten da wurd' mir endlich klar,

Dass auf dem Besen Reiten stets was Besond'res war.

Jetzt flieg' ich übers Land dahin

Und spüre voller Freude, wie wunderschön ich bin.”  - François Villon (1431-1463)

Wir wollen erinnern, dass es Frauen waren, die die Allmende verteidigten, die Hecken einrissen und die Gräben verschütteten.

Wir wollen erinnern, dass es Trans* und nicht-binäre Personen waren, die sich gegen die hierarchische Ordnung der Geschlechter und Angriffe auf die Gemeinschaft in unzähligen Aufständen erhoben haben.

Wir wollen erinnern, dass Frauen in Selbstbestimmung lebten und das Wissen über Fruchtbarkeit, Schwangerschaft und Geburt, Verhütung und Abtreibung in ihren Händen lag.

Und wir sind gespannt, auf was für Geschichten ihr stoßen werdet!


[1]Das Konzept der Frau ist in der Jineolojî kein biologisches und umfasst ein System von Werten, das für alle Mitglieder der Gesellschaft gilt. Dementsprechend meinen wir mit „Frau“ immer auch trans*-Frauen.