Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden – hat angesichts des Kriegs in Kurdistan auf dem Ostermarsch in Frankfurt a.M. am Montag einen dringenden Appell an alle Kriegsgegner:innen gerichtet. In dem Redebeitrag heißt es:
Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg. Für uns als kurdische Frauenbewegung bedeutet Frieden Selbstbestimmung, Gleichheit und Solidarität. Frieden bedeutet, dass Gesellschaften frei und autonom sind, selbst entscheiden können, miteinander kooperieren, und einander sowie die Ressourcen der Natur respektieren. Und: Frieden zu schaffen bedeutet die Beseitigung von patriarchaler, rassistischer sowie kapitalistischer Gewalt und Ausbeutung.
Schon in vermeintlich „friedlichen“ Phasen ist das Ausmaß dieser systembedingten Gewalt, Ausbeutung und Zerstörung enorm. Das kapitalistische System beutet Mensch und Natur grenzenlos aus, insbesondere im globalen Süden, und wir hören jeden Tag von Femiziden, sexualisierter Gewalt, Polizeigewalt, rassistischer Gewalt und mehr – auch hier in Europa, wo immer wieder dreisterweise gesagt wird, es herrsche seit 75 Jahren „Frieden“.
Aber Frieden bedeutet Freiheit, und diese wird insbesondere marginalisierten und unterdrückten Gruppen wie Frauen, Migrant:innen, queere Menschen, Geflüchtete und Arbeiter:innen verwehrt.
Und wenn schon in vermeintlich friedlichen Zeiten so viel Gewalt und Ausbeutung herrscht, wie ist es dann im Krieg? Das haben wir in den letzten Jahren in Kurdistan beobachten können, wo die Türkei seit Jahren die Errungenschaften der dortigen Frauenbewegung sowie Zivilist:innen angreift, und das vor den Augen der ganzen Welt. Wir sprechen von einer femizidalen, frauenfeindlichen Politik der Türkei, zu der auch die neue vermeintlich feministische Bundesregierung schweigt. Die Angriffskriege der Türkei in Nordsyrien führen zu Tod, Instabilität und Vertreibung und gefährden gleichzeitig die Selbstverwaltungsstrukturen, die die dortige Gesellschaft in den letzten zehn Jahren aufgebaut hat.
In Nordsyrien, oder Rojava, wie es genannt wird, wurde ein System der friedlichen und demokratischen Koexistenz, basierend auf solidarischer Wirtschaft, Geschlechterbefreiung und Ökologie aufgebaut. Die Revolution musste sich immer wieder gegen Angriffe des IS, des Assad-Regimes und der Türkei wehren, mit nur wenig Unterstützung von außen. Auch aktuell werden dieses System und die Menschen, die dieses am Leben erhalten, tagtäglich von der Türkei angegriffen. In Rojava und auch in anderen Teilen Kurdistans bombardiert die Türkei kurdische Gebiete, tötet Zivilist:innen und kriminalisiert alle Menschen, die sich für Frieden, Befreiung und Selbstbestimmung einsetzen. Seit letzter Nacht hat die türkische Armee – welche die zweitgrößte NATO-Armee ist – außerdem eine Großoffensive in Südkurdistan gestartet.
Die Türkei kann das alles durchziehen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen – nicht nur, weil Staaten wie Deutschland eine enge Partnerschaft mit dem NATO-Partner Türkei pflegen, sondern auch, weil die internationale Gemeinschaft kaum Druck erzeugt, und schweigt. Dass die Bereitschaft und Mittel eigentlich da sind, haben wir in den letzten Wochen anhand der Ukraine-Solidarität gesehen. Die Hilfsbereitschaft, die Solidaritätsbekundungen, das öffentlichen Verurteilen des Angriffskriegs – das alles hätten wir uns auch als kurdische Gemeinschaft gewünscht, als Kurdistan von der Türkei bombardiert wurde. Denn, man kann nicht den einen Krieg verurteilen und den anderen totschweigen, insbesondere dann nicht, wenn massenweise deutsche Waffenexporte im Spiel sind.
Und während einem Teil der Geflüchteten unzählige Anlaufstellen und Hilfsangebote aus der Gesellschaft zur Verfügung stehen, werden andere Schutzsuchende an den Grenzen dem Tod durch Erfrieren überlassen und brutal zurückgedrängt. Rassistische und sexualisierte Gewalt an Geflüchteten, Ausbeutung, patriarchale Strukturen, Kapitalismus – während all das existiert, kann nicht von Frieden gesprochen werden. Wenn wir von Krieg und Frieden sprechen, sollten wir nicht nur von Aufrüstung und Waffenexporten sprechen, sondern auch von der tagtäglichen Gewalt, die das menschenfeindliche kapitalistische System erzeugt. Als feministische Kräfte müssen wir unseren Blick vor allem auch gegen die täglichen Angriffe richten, die nicht nur mit Waffen stattfinden, sondern auch in Wohnungen, in Partnerschaften, in der Familie und auf der Straße. Wenn wir genauer hinschauen, werden wir erkennen, dass für viele unterdrückte und ausgebeutete Gruppen das Leben alles andere als friedlich ist – im Gegenteil, das Überleben in diesem System wird zum andauernden Kampf.
Als kurdisches Frauenbüro für Frieden möchten wir noch einmal betonen, dass Frieden erst wirklich existieren kann, wenn wir frei von Ausbeutung, Herrschaft, Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat leben können. Das erreichen wir durch eine Bewegung, deren Solidarität sich nicht nur auf Europa und den Westen beschränkt, sondern jenseits dieser Grenzen existiert, und gleichzeitig alle Formen von Gewalt und Herrschaft sichtbar macht und dagegen kämpft.
Unser Appell als kurdische Frauen lautet: Solidarisiert euch! Kämpft an unserer Seite, nicht nur gegen die Angriffe des türkischen Staates, sondern auch gegen deutsche Waffenexporte in die Türkei und die Kriminalisierung kurdischer Aktivist:innen hierzulande.
Hoch die internationale Solidarität, Jin Jiyan Azadî!