„Schweden sollte auf den dritten Weg zwischen NATO und Russland setzen“

Das schwedische Solidaritätskomitee für Rojava lehnt jegliches Bündnis mit der Türkei ab. Sein Sprecher Andreas fordert, dass Schweden sich für den dritten Weg zwischen der NATO und Russland entscheidet.

Schweden steht kurz davor, mit seiner Tradition der relativen Neutralität zu brechen und dem NATO-Sicherheitsbündnis beizutreten. Um die Türkei davon zu überzeugen, ihr Veto gegen den Beitrag aufzugeben, macht Schweden weitreichende Zugeständnisse. In Stockholm haben am Wochenende Tausende Menschen gegen die Verabschiedung eines Anti-Terror-Gesetzes protestiert, das als weiteres Zugeständnis an die Türkei angesehen wird. Das Erdoğan-Regime fordert von Schweden die Unterdrückung der eigenen kurdischen Gemeinschaft, die Einstellung des diplomatischen und humanitären Engagements in Kurdistan und die Abschiebung von in Schweden lebenden Kurdinnen und Kurden in die Türkei.

Die von der Allianz gegen die NATO, dem schwedischen Solidaritätskomitee für Rojava (Rojavakommittéerna), der Linkspartei, dem Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrum in Schweden (NCDK-S) und dem Verein Alles für Alle (Förbundet Allt åt alla) organisierte Demonstration hatte zum Ziel, die Kurd:innen und die demokratischen Kräfte in der Türkei zu unterstützen und den Widerstand gegen den schwedischen NATO-Beitritt zum Ausdruck zu bringen. Unter den Teilnehmenden war eine beträchtliche Anzahl von Fahnen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Fotos von Abdullah Öcalan zu sehen, obwohl die Türkei die schwedischen Behörden aufgefordert hatte, sie zu verbieten.

Matt Broomfield vom Onlineportal Medya News hat mit Andreas, einem Sprecher des Rojava-Komitees, ein Interview über die anhaltende Krise in Schweden geführt. Wir geben Ausschnitte des Interviews in deutscher Übersetzung wieder.


Was sind die Hauptgründe, warum die Menschen in Schweden gegen den NATO-Beitritt protestieren?

Es gibt mehrere Gründe. Schweden ist seit über 200 Jahren ein neutrales Land. Wir hatten nie ein Problem damit. In der schwedischen Öffentlichkeit gab es von Anfang an einen Konsens, der NATO nicht beizutreten. Es gab immer einen großen Konsens darüber. Als der Krieg in der Ukraine begann, änderte sich die öffentliche Meinung. Es gab harte Propaganda vom rechten Flügel, und sie schafften es, die Spitze der sozialdemokratischen Regierung dazu zu bringen, einen Antrag an die NATO zu stellen.

Für uns als Rojava-Komitee ist klar, dass wir kein Bündnis mit der Türkei wollen. Während der türkischen Invasion in Rojava ist es uns gelungen, Schweden dazu zu bringen, die Waffenverkäufe zu stoppen, sowohl Schweden als auch Finnland haben die Rüstungsexporte gestoppt. Als der [NATO-]Prozess begann, wurde sofort über die Beendigung dieses Embargos gesprochen. Also begannen wir mit Demonstrationen.

Wie hat sich der historische Widerstand gegen den NATO-Beitritt aufgelöst?

Dieser Widerstand kam von der Arbeiterbewegung und der Antikriegsbewegung im Ersten Weltkrieg. Das war immer eine Debatte. Während des Zweiten Weltkriegs haben wir Deutschland durch Schweden ziehen lassen, aber im Schatten ein Bündnis mit England aufrechterhalten. Wir sind nicht zu hundert Prozent neutral, aber wir sind „bündnisfrei“. Und wir sind nicht in der NATO, die eine der größten Kriegsorganisationen der Geschichte ist. Der rechte Flügel hat immer darauf gedrängt, dass wir in die NATO eintreten, aber es gab kein öffentliches Interesse daran. Langsam, ganz langsam, haben sich sogar die Sozialdemokraten dafür eingesetzt. Ich habe vor 20 Jahren meinen Militärdienst abgeleistet, und dann haben wir auf NATO-Munition umgestellt, also haben wir langsam Übungen mit der NATO durchgeführt und dabei gesagt, dass wir nicht versuchen, der NATO beizutreten, sondern nur mit ihr zusammenarbeiten wollen.

Wie hat die schwedische Öffentlichkeit auf Ihre Proteste gegen den NATO-Beitritt reagiert?

Schweden ist sehr gut darin, dem zu gehorchen, was die Macht sagt. In unseren Medien hieß es, wenn man etwas gegen die NATO sage, sei man derselbe wie Russland, was Blödsinn ist - es gibt nicht nur zwei Seiten. Es ist dasselbe wie bei der Entscheidung für die Revolution in Rojava: Sollen wir uns dem Regime oder den Rebellen anschließen? Nein, wir gehen unseren eigenen Weg. Es gibt einen dritten Weg, den wir gehen können. Und von dort kommt ein Teil der Inspiration. Ich habe noch nie erlebt, dass die Medien uns so unterstützt haben, weil sie sich ebenfalls zum Schweigen gebracht fühlten und wissen, dass die Türkei das schlimmste Land der Welt ist, in dem man als Journalist arbeiten kann.

Erwarten Sie, dass die schwedische Regierung die Forderungen von Erdoğan erfüllen wird?

Es gab eine Vereinbarung zur Auslieferung von, ich glaube, 30 Personen. Und dann kam Erdoğan nach Hause und sagte, wir hätten der Auslieferung von 73 Personen zugestimmt. Auch der schwedische Ministerpräsident kann nicht sagen, ob wir Personen ausliefern werden - das ist Sache der Gerichte. Bei einer der Personen auf dieser Liste hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass sie nicht ausgeliefert werden kann. Das ist natürlich eine große Sorge für die kurdische Gemeinschaft, die keine Staatsbürgerschaft hat. Sie wissen nicht, was vor sich geht.

Haben Sie das Gefühl, dass die Proteste die Politik der Regierung beeinflussen können, oder ist dieses Abkommen bereits beschlossene Sache?

Der schwedische NATO-Antrag ist eine ewige Frage, mit der wir arbeiten müssen. Die Türkei ist diejenige, die die Probleme macht. Das zeigt, dass es möglich ist, auf die Politik unserer Regierungen einzuwirken. Wir haben während der Invasion in Rojava sehr gut gesehen, dass wir, wenn wir gut genug mobilisieren, die Haltung unserer Regierung beeinflussen können. Wir müssen nur die Fragen oder Themen finden, die tatsächlich einen Unterschied machen.

Foto: Demonstration in Stockholm, 4. Juni 2023 (ANF)