Am Hamburger Oberlandesgericht (OLG) ist der Prozess gegen Kenan Ayaz (Behördenname: Ayas) fortgesetzt worden. Der im Juni von Zypern an Deutschland ausgelieferte Kurde ist nach §129b StGB wegen mitgliedschaftlicher Betätigung für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angeklagt. Er wird beschuldigt, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert und sich an Spendensammlungen beteiligt zu haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm mehrere Jahre Gefängnis.
Beim gestrigen Verhandlungstag – drei Termine waren zuvor wegen Krankheit ausgefallen – setzte Ayaz seine Mitte November begonnene Erklärung zu seinen persönlichen Verhältnissen fort. Er berichtete über die lange Haftzeit und Folter, die er in jungen Jahren in der Türkei erfahren hat, seine erneute sechsmonatige Inhaftierung in Erzîrom (tr. Erzurum) und die erneut drohende Verfolgung im sogenannten KCK-Verfahren, das der Grund war, warum er ins Exil nach Zypern ging.
Kritik an Richterin und Applaus im Saal
Nach seiner langen Erklärung, die deutlich machte, dass ein Mensch mit einer solchen Geschichte sich entweder nur aufgeben oder sich weiter auf die Suche nach einer Lösung der kurdischen Frage machen kann, ging die Richterin ohne Überleitung zu Anordnungen unter anderem des sogenannten Selbstleseverfahrens über. Eine Besucherin des Prozesses zeigte sich geschockt: „Wie kann sie nach diesen Schilderungen einfach zur Bürokratie übergehen?“, fragte sie sich sichtlich irritiert. Die zahlreichen Zuhörenden dagegen hatten die Tragweite der Schilderungen von Ayaz verstanden und drückten dies durch Beifall aus. Im Saal saß auch Ayaz‘ zyprischer Verteidiger Efstathios C. Efstathiou. Er berichtet der in Zypern ansässigen Menschenrechtsbeobachtungsstelle Kenanwatch von dem Verfahren.
Europäischer Haftbefehl gegen Ayaz just vor NATO-Gipfel erlassen
Nach der Erklärung zu den persönlichen Verhältnissen von Ayaz wurde der Polizeibeamte Guido S., der beim Bundeskriminalamt (BKA) die Ermittlungen zur PKK leitet, angehört. S. ist der höchste mit PKK-Verfahren in Deutschland befasste Polizist. Er gab an, dass in seiner Abteilung die Ermittlungen zur Struktur der PKK geführt werden. Darüber hinaus hatte er höchstpersönlich in dem Verfahren gegen Kenan Ayaz ermittelt, nachdem das LKA Bremen die Ermittlungen abgegeben hatte.
Das Gericht und die Verteidigung versuchten durch Fragen an den Zeugen immer wieder herauszubekommen, warum der Europäische Haftbefehl gegen Kenan Ayaz erst im Mai 2022 und damit zwei Jahre nach den letzten relevanten Erkenntnissen beantragt worden war. Die Verteidigung hatte in ihrem Opening Statement darauf hingewiesen, dass der Europäische Haftbefehl just vor dem NATO-Gipfel, auf dem es um die Aufnahme von Schweden und Finnland in das Militärbündnis gehen sollte, erlassen worden war. Die Türkei hatte bekanntermaßen ihre Zustimmung zu dem Beitritt dieser Staaten von der Verfolgung und Auslieferung von angeblichen PKK-Mitgliedern abhängig gemacht. Der Zeuge S. drückte sich sichtlich um die Beantwortung dieser Frage. Er sagte, das sei allein die Entscheidung des Generalbundesanwalts und auch wenn man ab und zu in dem Verfahren gesprochen habe, wisse er nicht, warum der Haftbefehl im Mai 2022 gestellt wurde. Neue Erkenntnisse hätte es zu dieser Zeit schon lange nicht mehr gegeben.
Außerdem gab der Zeuge S. an, gar nicht viel in dem Ermittlungsverfahren unternommen zu haben. Er habe lediglich im Juli 2019 angeregt, zwei Mobilfunkanschlüsse zu überwachen, die mutmaßlich Kenan Ayaz nutzen sollte. Inhaltlich konnte der Beamte keine Belege für eine „leitende Funktion“ von Ayaz festmachen. Es sei auch nur wenige Mal der Name „Kenan“ gefallen. Auf Nachfrage des Verteidigers Stephan Kuhn erklärte S., ein Dolmetscher habe die Stimme von Kenan Ayaz in Gesprächen zugeordnet. Der Dolmetscher hätte nur kurzzeitig beim BKA in der Urlaubzeit ausgeholfen, eine Qualitätskontrolle habe es nicht gegeben und es hätten schon Übersetzungen vorgelegen, die jedoch unverständlich gewesen sein. Diese hätte der Dolmetscher überarbeiten sollen. Eine andere Form der Überprüfung habe nicht stattgefunden.
BKA gewinnt Erkenntnisse zur PKK aus E-Mails
Nach der Mittagspause ging Guido S. auf angebliche „Strukturen“ der PKK ein. Er glaube, diese Strukturen aus abgefangenen E-Mails und anderen bei Durchsuchungen gefundenen Dokumenten schließen zu können. Bei besagten E-Mails sei es um die Organisierung von Events gegangen, wie etwa Newroz-Veranstaltungen, Planungen von Aktionen und Demonstrationen für die Freiheit von Abdullah Öcalan.
In der Folge sprach der Zeuge ausführlich über das sogenannte Strukturverfahren. Immer wieder erklärte er den Unterschied zwischen Sektionen, Regionen und Gebieten, konnte aber nicht aufklären, wer auf welcher der Ebenen zuständig gewesen sein soll. Auch der Unterschied zwischen angeblichen „Kadern“ des KCDK-E, dem Dachverband kurdischer Vereine in Europa, und „PKK-Kadern“ blieb schwammig. Es gebe aber Schreiben, „die sich nur an PKK-Kader“ richteten.
Gegen Ende des Verhandlungstages stellte die Verteidigerin Antonia von der Behrens noch einen Antrag auf Vorladung des Dolmetschers in der Telekommunikationsüberwachung im Fall Mustafa Çelik, da dieser das Verfahren durch seine Auswahl von übersetzten Texten erheblich beeinflusst habe. Es müsse daher dringend geklärt werden, welchen Einfluss die tendenzösen Übersetzungen auf das Ermittlungsverfahren gehabt hätten.
Anhörung von Türkei-Experten bei nächster Verhandlung
Der Prozess gegen Kenan Ayaz geht am 5. Dezember weiter. Für den Termin ist eine Anhörung von Günter Seufert vorgesehen, der von 2020 bis Juni 2023 den Aufbau des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin leitete. Das Gericht hat Seufert als Gutachter für den türkisch-kurdischen Konflikt und die PKK bestellt.